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REZENSION/209: T. Müller-Heidelberg u.a. - Grundrechte-Report 2004 (SB)


Herausgeber: Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Bela Rogalla, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck und Martin Kutschka


Grundrechte-Report 2004

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland



Es ist nicht alles Gold im Staate Bundesrepublik Deutschland. Auf diesen kurzen Nenner ließen sich gleichermaßen Fazit und Ausgangspunkt des "Grundrechte-Reports 2004" bringen, der zum 8. Mal in alljährlicher Folge - diesmal im Fischer Taschenbuch Verlag - von namhaften Bürgerrechtsorganisationen herausgegeben wurde. Der Report "Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland" ist, wie es im Vorwort der Herausgeber heißt, ein "gemeinsames Werk mehrerer Bürgerrechtsorganisationen, die sich für das Grundgesetz einsetzen", und beansprucht mit gutem Grund, ein "alternativer Verfassungsschutzbericht" zu sein. Der inhaltliche Schwerpunkt des Berichts 2004, der den Zeitraum von Januar bis Dezember des Vorjahres in sicherheitspolitischer und verfassungsrechtlicher Hinsicht zu dokumentieren und zu analysieren bestrebt ist, wird im Vorwort der Herausgeber wie folgt klassifiziert:

Der Schwerpunkt dieses Grundrechte-Reports ist die zunehmende Überwachung der Menschen und der Einbruch in ihre Privatsphäre. Immer häufiger machen Politiker Vorschläge, die dem Grundgesetz, vor allem den Grund- und Menschenrechten, widersprechen, bis hin zu der ungeheuerlichen Rechtfertigung der Folter. Macht man darauf aufmerksam, heißt es oft leichthin: Das Grundgesetz kann man ja ändern. Beispiele sind die Videoüberwachung des öffentlichen Raums, die Aufnahme biometrischer Daten in Personalpapiere und die Lauschangriffe gegen Anwälte und Journalisten. Die Diskussionen über die Abschiebung Schutz suchender Flüchtlinge in Kriegsgebiete und die Nichtanerkennung verfolgter Kriegsdienstverweigerer als Asylberechtigte sind ebenfalls Beleg dafür, dass in der Verfassung garantierte Menschenrechte nicht ernst genommen werden. Auch die bürgerliche Inanspruchnahme des Versammlungs- rechts führt zu immer neuen Vorschlägen, dies weiter einzuschränken. Dass Deutschland - um noch ein Beispiel zu nennen - entgegen Artikel 24 Absatz 3 des Grundgesetzes den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag nicht uneingeschränkt anerkennt, ist ebenfalls ein Beispiel mangelnder Verfassungstreue.

Das Verfassungs-, Staats- und Politikverständnis der herausgebenden Bürgerrechtsorganisationen geht aus diesen Zeilen unmißverständlich hervor. Konstatiert wie auch in den zahlreichen Einzelbeiträgen des Bandes geschildert wird der massive Ausbau des staatlichen Repressionsapparates, der die vermeintlichen Freiräume der Individuen systematisch reduziert zugunsten eines in immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen wie auch des sogenannten Privatlebens vordringenden Überwachungs- und Kontrollsystems, der die einst als persönliche Abwehrrechte der Bürger gegen die Allmacht des Staates konzipierten Grund- und Menschenrechte nicht etwa nur aushöhlt, sondern in ihrem Bestand längst in Frage gestellt hat.

Eine solche Schlußfolgerung zu ziehen oder auch nur in dieser Hinsicht bohrende Fragen zu stellen sind Autoren wie Herausgeber des Grundrechte-Reports allerdings nicht bereit. Ihr Anliegen ist es, Verfassungsverstöße und Gefährdungen des rechtsidealistischen Konstrukts genannt Grundgesetz, die diesem von Politikern und Repräsentanten eben dieses Staates drohen, kritisch zu benennen, und so wird der Bundesregierung in diesem oder jenem Punkt "mangelnde Verfassungstreue" angekreidet. So empfehlenswert der Ansatz eines alternativen Verfassungsschutzberichtes auch immer erscheinen mag, der nicht wie die offiziell bestellten "Verfassungsschützer" die politische Opposition im Lande unter die Lupe nimmt und ausspioniert ob der der bestehenden Herrschaftsordnung von dieser vermeintlich drohenden Gefahr, sondern die Repräsentanten der Organe, durch die das staatliche Gewaltmonopol ausgeübt wird, selbst in die Pflicht nimmt, so zirkelschlüssig ist doch ein solcher Denkansatz.

Wäre das Grundgesetz tatsächlich, wie im Politik- und Gesellschaftskundeunterricht unserer Schulen unverdrossen gelehrt und behauptet wird, ein unumstößliches Bollwerk, das dem gesamten Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland quasi vorangestellt wurde, um zu unterstreichen, daß insbesondere der Kernbereich der für unantastbar erklärten Menschenwürde niemals zur Disposition gestellt werden könne, hätte es die sogenannte Folterdiskussion in Deutschland gar nicht geben können. Die Grundrechte als "Emanationen einer Werteordnung", so eine in der Vergangenheit gern benutzte Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, hätten dies als objektiv-rechtliche Normen verunmöglichen müssen.

Daß dies nicht geschehen ist, bestärkt die Herausgeber des Grundrechte-Reports in ihrem Bestreben, an die Grundrechte zu "erinnern", so als seien diese bei Politikern wie beispielsweise Bundesinnenminister Otto Schily (SPD), der am 26. April in einem Spiegel-Interview schon einmal laut darüber nachdachte, ob "im äußersten Fall auch die Tötung einer Person als Notwehr zu rechtfertigen ist", schlicht in Vergessenheit geraten, und ihre Einhaltung anzumahnen, wie aus dem Vorwort des Grundrechte- Reports im übrigen hervorgeht:

Die in diesem Grundrechte-Report berichteten Vorfälle und vielen öffentlichen Diskurse zeigen jedenfalls, wie notwendig es ist, an die Menschenrechte und die Grundprinzipien unserer Verfassung zu erinnern. Die rechtstaatliche, freiheitliche, bundesstaatliche, sozialstaatliche und friedensstaatliche Ausrichtung des Grundgesetzes ist die Grundlage unseres Staates. Was möglich ist, wenn die Verfassung und die darin verbürgten Regeln und Rechte vom Parlament außer Kraft gesetzt werden, hat Deutschland 1933 bitter erfahren. Deshalb ist es unverzichtbar, für das Grundgesetz und die Grundrechte energisch einzutreten und schon den Anfängen ihrer Missachtung zu wehren. Freiheitliche Demokratie kann nur gelingen, wenn wir alle die Grundrechte verteidigen und die Achtung der Verfassung einfordern und durchsetzen.

Bundesinnenminister Schily und andere müßten zudem daran "erinnert" werden, daß ein unverzichtbares Merkmal der Grundrechte ihre Unteilbarkeit ist, daß sie also ausnahmslos für jeden Menschen zu gelten haben. Schily und mit ihm sein bayrischer Amtskollege Günther Beckstein (CSU) unterscheiden jedoch zwischen Menschen mit und ohne "Terrorismusbezug" und postulieren damit so etwas wie ein Kriegsrecht im Innern. Im Spiegelinterview vom 26. April betonte der Bundesinnenminister, daß "im Krieg" straf- wie polizeirechtliche Kategorien nicht gelten würden und forderte einmal mehr für "Personen mit Terrorismusbezug" die Verhängung der Sicherungshaft, um die von ihnen angeblich ausgehenden Gefahren "minimieren" zu können.

Ein Feindstrafrecht, in dem Verdächtigungen und bloße Mutmaßungen ausreichen, um Menschen hinter Gitter, wenn nicht sogar ums Leben zu bringen, scheint in der Ideenwelt führender deutscher Sicherheitspolitiker bereits fest verankert zu sein. Der von den Herausgebern des Grundrechte-Report bemühte historische Rückbezug auf das Deutschland des Jahres 1933 ist so naheliegend wie irreführend, da er dazu verleiten könnte, den totalitären Polizeistaat der NS-Zeit zu verdammen, eben weil er in grauer oder vielmehr grausamer Vergangenheit liegt, dergegenüber die Schrecken der Gegenwart und mehr noch der Zukunft zu verblassen scheinen. Erinnert sei nur an das stille Einverständnis der deutschen Bundesregierung mit den USA in diesem Frühjahr während des weltweiten Skandals, den die Folterungen irakischer Gefangener durch amerikanische Soldaten ausgelöst hatten, und der der deutsch-amerikanischen Freundschaft nicht den geringsten Abbruch tun konnte; "unter Freunden" könne man sich schließlich auch unangenehme Dinge sagen, hieß es.

Leider sind die alternativen Verfassungsschützer im Grundrechte- Report der Versuchung, die Akzeptanz ihrer Kritik dadurch erhöhen zu wollen, daß allzu brisante Themen und Fragestellungen von vornherein fallengelassen werden, durchaus erlegen. Als die besseren Hüter grundgesetzlich determinierter Wertvorstellungen sehen sie sich augenscheinlich befleißigt, in einer Art vorbeugendem Gehorsam ihren Tribut zu leisten und die unsichtbare rote Linie nicht zu überschreiten, die Nichtregierungsorganisationen ihrer Art zu respektieren haben, wollen sie nicht Gefahr laufen, selbst als Zielobjekte staatlich- repressiven Handelns identifiziert und verfolgt zu werden. Eine solche Befürchtung ist keineswegs abwegig, wie die Äußerungen des früheren Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Peter Frisch, belegen, der Ende Mai im Deutschlandfunk erklärt hatte, daß "selbsternannte Bürgerrechtler" eine wirksame Bekämpfung des Terrorismus verhindern würden.

Die Perfidie einer solchen Polizeistaatslogik liegt auf der Hand. Zu Feinden erklärt werden irgendwie unliebsame Menschen über den eigens zu solchen Zwecken installierten Terrorismus-Begriff weiter unterhalb der Schwelle, für eine tatsächlich begangene Straftat verurteilt und bestraft werden zu können, weshalb nur folgerichtig wäre, daß insbesondere die unter das Sternenbanner des sogenannten Anti-Terror-Kampfes subsumierten repressiven wie präventiven Maßnahmen das besondere Augenmerk alternativer Verfassungsschützer auf sich zögen.

Deren Sorgen um Menschen und Menschenrechte ist allemal angebracht, zumal die Präventivlogik der militärischen Kriegführung 1:1 auf die sogenannten innenpolitischen Verhältnisse übertragen wurde und wird, und dies beileibe nicht nur in Deutschland, sondern im gesamten EU-Raum, um von den USA als Vorreiter in Sachen Polizeistaat gar nicht erst zu reden. Der Grundrechte-Report 2004 läuft allerdings Gefahr, hinter der galoppierenden aktuellen Entwicklung und Zuspitzung hinterherzuhinken, was keineswegs nur an dem um mindestens sechs Monate zurückliegenden Berichtszeitraum liegt, sondern mehr noch an der inhaltlichen Positionierung der Autoren, die darauf verzichten, daß Legalitätsprinzip in Hinblick auf seine tatsächliche Schutzwirkung für die Menschenrechte oder besser noch die Menschen zu untersuchen.

Wer es versäumt, beispielsweise anhand des Falls des sogenannten Islamistenführers Metin Kaplan, dem im Grundrechte-Report nicht einer der rund 40 Einzelbeiträge gewidmet wurde, nachzuzeichnen, wie ein unter verfassungs- und strafrechtlichen Gesichtspunkten höchst zweifelhaften Umständen zu einer mehrjährigen Haftstrafe Verurteilter nach verbüßter Strafe medial zum "Haßprediger" aufgebaut wird, um einer durch stereotyp wiedergekäute Terrorgefahren ohnehin nach mehr "Sicherheit" lechzenden Bevölkerung Präventivhaft und weitere polizeistaatliche Maßnahmen akzeptabel zu machen, wird der Problematik des "von oben" betriebenen Grundrechte-Abbaus nicht vollständig gerecht werden können.

"Nach jedem Terroranschlag wird der Ruf nach schärferen Gesetzen laut", heißt es auf dem Buchrücken des Grundrechte-Reports, ohne daß auch nur im mindestens die politisch überaus heikle Fragestellung tangiert wird, wie es denn um die tatsächliche Sachaufklärung des 11. September sowie des 11. März bestellt ist und welche Rückschlüsse sich aus dieser Problematik auf die sogenannte innere Sicherheit in den USA wie auch in den EU- Staaten ziehen ließen. Die Mißachtung der Verfassung in diesem und jenem Punkt anzuprangern und zu kritisieren, gehört demgegenüber zu dem den deutschen Bürgerrechtsorganisationen nicht ohne Hintergedanken zugestandenen Freiraum, den diese, wie sie selbst zum Ausdruck bringen, dankbar entgegengenommen haben.
"Wir freuen uns, dass der kritische Blick auf Verstöße gegen die Verfassung in unserem Land frei und offen möglich ist", heißt es im Vorwort, und es liegt auf der Hand, daß eine solche Wertschätzung aus dem Munde alternativer Verfassungsschützer dem Ansehen Deutschlands nützlich ist, denn so bleibt, "auch wenn nicht alles Gold ist", ein beruhigender Restbestand bürgerlicher Freiheiten bestehen, der nicht einmal in Abrede gestellt werden müßte, um den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Die Feststellung, es könnte noch viel schlimmer kommen, steht gleichwohl der überaus beunruhigenden Schlußfolgerung entgegen, daß nicht nur Deutschland, sondern die gesamte EU in einen Polizeistaat bislang unerreichten Ausmaßes zu mutieren im Begriff ist.

So werden auf der Innenministerkonferenz, die am 7. und 8. Juli in Kiel stattfindet, bereits die letzten Weichen gestellt für eine Aufhebung verfassungsrechtlicher wie gesetzlicher Schranken exekutiver Befugnisse. So als habe es die Lehren, die angeblich aus Gestapo, Reichssicherheitshauptamt und NS-Staat gezogen wurden, nie gegeben, werden Verhältnisse restauriert, die die Schrecken der Jahre 1933 bis 1945 noch zu überbieten drohen, eben weil sie nicht mehr auf den Einzugsbereich der deutschen Häscher beschränkt, sondern von vornherein im EU-, wenn nicht weltweiten Maßstab installiert werden.

Bundesregierung und Opposition haben sich, so war zu vernehmen, schon auf vorbereitende Maßnahmen für die Erschaffung eines "einheitlichen Fahndungs- und Operationsraums" im Gebiet der gesamten EU verständigt. Damit soll keineswegs nur gegen das Gespenst des Islamismus vorgegangen werden, mit dessen Hilfe die für die Durchsetzung quasi-diktatorischer Maßnahmen erforderliche Pogromstimmung geschürt wurde, sondern gegen "extremistisches Gedankengut" schlechthin, worunter Menschen verstanden werden, die gegen den "westlichen Imperialismus" opponieren. Um "Terroristen" bekämpfen zu können, sollen im EU-weiten Rahmen Polizeibehörden, Geheimdienste und Militärstreitkräfte zu einer Zentralmacht zusammengeschweißt werden, deren Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten jedes einzelnen EU-Bürgers die des NS-Staates, und sei dieser noch so bösen Willens gewesen, schon allein aufgrund des informationstechnologischen Quantensprunges weit in den Schatten stellen.

Im Grundrechte-Report 2004 findet diese unheilvolle Entwicklung kaum Niederschlag. Dabei steht das Trennungsgebot zwischen Geheimdiensten und Polizei, das durch die sogenannten Anti- Terrorgesetze schon erheblich durchlöchert wurde, nun endgültig auf der Kippe. In einem Entwurf der rotgrünen Bundesregierung liegt inzwischen die Schaffung eines "Bundespolizeipräsidiums", dem rund 300.000 Polizisten unterstellt werden sollen, sowie die eines "Gemeinsamen Zentrums Terrorismusbekämpfung" vor. In einem Positionspapier von CDU/CSU wird verlangt, die rund 10.000 Geheimdienstmitarbeiter, die bislang dem BND, BKA oder den Verfassungsschutzämtern angegliedert waren, einem zentralen Kommando, in das auch der militärische Abschirmdienst integriert werden solle, zu unterstellen.

Da im gesamten EU-Gebiet nicht nur Geheimdienste und Polizeien, sondern auch die nationalen Streitkräfte in ein allumfassendes System repressiver Gewalt vereinheitlicht werden sollen, so als habe es nie die "historische Erfahrung" des deutschen Faschismus gegeben, ist nicht verwunderlich, daß auch bundesdeutsche Ordnungspolitiker, so etwa der bayrische Innenminister Günther Beckstein, mit der Forderung an die Öffentlichkeit treten, es müßten Vorkehrungen getroffen werden, um "in besonderen Gefährdungslagen - auch unterhalb des Verteidigungs- und Spannungsfalls - auf die Bundeswehr zurückgreifen", sprich die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr zur Unterstützung der Polizeien des Bundes zu erweitern.

Im "Grundrechte-Report 2004" weist Stefan Gose, Konfliktforscher und Redakteur der "antimilitarismus information" (ami), in seinem Beitrag "Dammbruch beim Luftsicherheitsgesetz" darauf hin, daß die Bundeswehr den mit dem (inzwischen verabschiedeten) Luftsicherheitsgesetz versprochenen Schutz gar nicht zu leisten imstande ist und spricht zu Recht von einer "Türöffner"-Funktion dieses für den Einsatz der Bundeswehr im Innern dammbrechenden Gesetzes, um im selben Atemzug die massive Grundrechtsgefährdung, die für jeden Bürger durch die enge Verzahnung von Militär und Exekutiv-Behörden zugespitzt wird, auf die prekäre Lage allein des Flug- und Flughafenpersonals zu reduzieren:

Was bleibt, ist neben der Türöffner-Funktion des LuftSiG [Luftsicherheitsgesetzes, Anm. d. Red.] für andere innenpolitische "Aufgaben" der Bundeswehr die neue enge Kooperation des Militärs mit Polizei, BND, MAD, Verfassungsschutz, LKA, ZKI, Gauck-Behörde, Bundeszentralregister, Ausländerzentralregister und ausländischen "Sicherheitskräften" im Lage- und Führungszentrum/NLFZ. Doch diese geballte Außerkraft- setzung der Gewaltenteilung nach Paragraph 7 Abs. 3 LuftSiG richtet sich weniger gegen Flugzeugentführer als gegen das gesamte Personal von Flughäfen und Flugpersonal - vom Zeitungsverkäufer am Airport bis zum Piloten gibt es für diesen Personenkreis keine "informationelle Selbstbestimmung" mehr. (S. 177/178)

Die unsichtbare rote Linie, die Autoren und Herausgeber des Grundrechte-Reports in Hinblick auf eine erhöhte politische Akzeptanz auch und vor allem in der politischen "Mitte" zu berücksichtigen sich bereit gefunden haben, läßt sich nicht zuletzt auch anhand der ausgewählten Menschenrechtsverletzungen und staatlichen Übergriffe nachzeichnen. Obwohl mittlerweile sattsam bekannt ist, daß die unselige Kampagne gegen den "islamistischen Extremismus" als Türöffner zur weltweiten Kriegführung einerseits und inneren Aufrüstung andererseits von langer Hand vorbereitet wurde, wobei die Ungereimtheiten der einzigen offiziell genehmigten Verschwörungstheorie zum 11. September so mannigfaltig sind, daß die Annahme, die Flugzeugkatastrophen seien absichtlich herbeigeführt worden, um ein "zweites Pearl Harbor" zu schaffen, nicht ausgeschlossen werden kann, vermeidet der Grundrechte-Report prekäre Fragen dieser Art, obwohl ihr inhaltlicher Bezug auf die "Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland" eigentlich auf der Hand liegt.

Die legalistische Grundpositionierung der Report-Herausgeber ließ sie davon Abstand nehmen, auf Grundrechtsverletzungen in Fällen hinzuweisen, die unter dem Stigma "Terrorismus" stehen und sich dieser so überaus folgenschweren Kategorisierung, die faktisch mit einer völligen Entrechtlichung einhergeht, obwohl die Menschenrechte als weltweit gültig und unteilbar konzipiert wurden, nicht erwehren können. Am 18. November 2003 wurden in Köln in mehrfacher Hinsicht Grundrechte verletzt, ohne daß dies im Grundrechte-Report Erwähnung gefunden hätte. Die türkische Wochenzeitung "Ekmek ve Adalet" (Brot und Gerechtigkeit) wurde von der Koblenzer Staatsanwaltschaft verdächtigt, Verbindungen zu der linksradikalen türkischen Organisation DHKP-C zu unterhalten, die nicht nur vom türkischen Staat, sondern auch den USA und der EU als "terroristisch" klassifiziert wird. Die Auslandsvertretung der Zeitung in Köln-Ehrenfeld wurde mit der Begründung, es läge ein Verstoß gegen das Vereinsverbot vor, durchsucht, der Staatsschutz beschlagnahmte Unterlagen und Computer.

Der Verlagsinhaber Erol Günes wollte, daß seine Rechtsanwältin, Vesile Yücel, bei der Durchsuchung dabei sei, was ihr allerdings von der Staatsanwaltschaft verwehrt wurde. Als die Rechtsanwältin sich weigerte, die Redaktionsräume zu verlassen, wurde sie, wiederum auf Geheiß der Staatsanwaltschaft, gewaltsam entfernt. 20 Polizisten stürmten auf sie los, stießen und zerrten sie aus den Räumen. Ihrem dagegen protestierenden Mandanten wurde "die Kehle zugedrückt, der Mund zugehalten und ihm wurden die Hände gefesselt", so Yücel, die ihre weitere "Behandlung" in der jungen Welt folgendermaßen beschrieb:

Ich wurde in eine Zelle gebracht, wo ich von zwei Beamtinnen aufgefordert wurde, mich auszuziehen, da man mich körperlich durchsuchen müsse. Auf die Frage, ob sie ernsthaft Drogen oder ähnliches in meinem Körperinneren vermuten, erfolgte keine Reaktion. Statt dessen drohte man mir Gewaltanwendung bei Zuwiderhandlung an. Auf meine Bemerkung, daß dies Folter sei, sagte eine Beamtin: 'Gehen Sie doch dahin, wo Sie herkommen, dann sehen Sie, was Folter ist.' Unter Protest wurde ich genötigt, mich splitternackt auszuziehen, um meinen Körper besichtigen zu lassen.

Nicht minder aufschlußreich ist die im Grundrechte-Report vorgenommene Auswahl, wenn es um staatliche Übergriffe gegen "Islamisten" geht. Unter der Überschrift "Schutzlos gestellt - Fragwürdige Razzien in muslimischen Gotteshäusern" schildert Heiko Habbe, freier Journalist und Mitglied im Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen, als eine der "bislang krassesten Aktionen dieser Art" die Erstürmung der "Osmanischen Herberge" in Kall- Sötenich am 27. Juni 2003:

Ein bewaffnetes SEK stürmte das Tagungszentrum in der Eifel, das von der Glaubensgemeinschaft der Sufi betrieben wird. Türen wurden trotz angebotener Schlüssel eingetreten, Fenster eingeschlagen, Räume durchsucht, darunter auch die hauseigene Moschee sowie ein weiterer Gebetsraum. Alle Bitten, dabei die Stiefel abzulegen, blieben ungehört - ein Verstoß gegen die Hygienevorschriften, den viele Muslime als beleidigend empfinden. Der Leiter des Zentrums und seine Frau wurden festgenommen.
Der Vorwurf: Die Sufis hätten ein Bombenattentat am Flughafen Düsseldorf geplant. Die Quelle: ein damaliges Mitglied der Sufi-Gemeinschaft, das unter ärztlich festgestellter Schizophrenie litt und während der polizeilichen Vernehmung mehrfach mit starken Medikamenten behandelt werden musste, um seine Aussage fortsetzen zu können. Die Anschuldigungen fielen in Rekordzeit in sich zusammen. Das Ende vom Lied: Ein Beschluss des Oberlandesgericht Düsseldorf, der lapidar feststellt, den Betroffenen stehe Ersatz der entstandenen Schäden zu. (S. 74/75)

Es darf vermutet werden, daß diese "fragwürdige Razzia" nicht Einlaß in den Grundrechte-Report gefunden hätte, wenn das Vorgehen der Polizei nicht von anderen, mit der Ausübung des staatliche Gewaltmonopols befaßten Organen, in diesem Fall einem hohen Gericht, das die Haltlosigkeit der Anwürfe bestätigte, kritisiert worden wäre. Hätte, wie etwa im Fall des sogenannten "Islamistenführers" Metin Kaplan, ein Konsens über die in einem solchen "Fall" vorzunehmende Freund-Feind-Kennung nicht nur zwischen Exekutive und Judikative, sondern auch zwischen allen übrigen Vertretern der sogenannten gesellschaftlichen Mitte sowie den Mehrheitsmedien bestanden, hätten sich wohl auch die im Grundrechte-Report zusammengefaßten Bürgerrechtsorganisationen ihrer Stimme enthalten.

Und so fand eine der größten polizeilichen Durchsuchungsaktionen der bundesdeutschen Nachkriegszeit, eben weil sie am 10. Dezember 2003 Metin Kaplan und dem "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden" (ICCB) in Köln galt, im Report keine Erwähnung. In 13 Bundesländern durchsuchten rund fünfeinhalbtausend Beamte insgesamt 1.170 Wohnungen und Räumlichkeiten wegen der Verdachtes, die rund 1.100 von diesen Massenhausdurchsuchungen betroffenen Menschen hätten gegen das gegen den ICCB verhängte Vereinsverbot verstoßen und diesen weitergeführt. Metin Kaplan selbst wurde in den Medien bundesweit zum "Haßprediger" aufgebaut, um einerseits diffuse Bedrohungsängste in der Bevölkerung zu aktualisieren und andererseits einen Begründungszusammenhang zu schaffen, um Abschiebungen in Folterländer bzw. die Sicherungshaft gegen ausländische, im zweiten Schritt aber auch deutsche "Terrorverdächtige" vorzubereiten. Inzwischen mußte die Kölner Staatsanwaltschaft mitteilen, daß in dem äußerst umfangreichen, im Dezember beschlagnahmten Material kein Beweis für den zur Begründung dieser Massendurchsuchungen angeführten Verdacht, es sei gegen das Vereinsverbot verstoßen worden, gefunden werden konnte.

Im chronologischen Anhang des Grundrechte-Report wird mit Stichtag 10. Dezember 2003 keineswegs die bundesweite Massendurchsuchung gegen den Kaplan-Verband erwähnt, sondern - am "Tag der Menschenrechte" - die von der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge PRO ASYL kritisierte "oft menschenunwürdigen Wohn- und Lebensumstände für Flüchtlinge in Deutschland" sowie das Zuwanderungsgesetz, weil dieses "mehr Lager und sogenannte `Ausreiseeinrichtungen' für Flüchtlinge vorsieht".

Die Bürgerrechtsorganisationen, die nach eigenem Bekunden als "wachsame Beobachter" den Grundrechte-Report herausgeben, um "Verstöße gegen Geist und Buchstaben des Grundgesetzes" aufzuführen, sind, wie weitere Beispiele belegen könnten, nicht frei davon, zwischen unterstützungswürdigen und -unwürdigen Betroffenen zu unterscheiden. Somit erweisen sie sich nicht nur als gern tolerierte "Kritiker", sondern empfehlen sich sogar als noch bessere Sozialtechnokraten, als es rot-grüne Regierungsmitglieder je sein könnten, weil sie sich durch ihre im Vorwort angemerkte Kritik an der "oft leichthin" geäußerten Option, das Grundgesetz zu ändern, in Fragen der Menschenrechte als im Kern verhandlungsbereit zu erkennen geben. Gegebenenfalls könnten gerade diese Bürgerrechtler die volle Wucht ihres humanitären Engagements in die Waagschale werfen, um den weiteren Abbau angeblich durch die Verfassung garantierter Schutzrechte legitimierend zu begleiten, solange dies nur nicht leichtfertig geschehe.

8. Juli 2004

Grundrechte-Report 2004 Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland Herausgeber: Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Bela Rogalla, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck und Martin Kutschka

Ein Projekt der Humanistischen Union, der Gustav-Heinemann- Initiative, des Komitees für Grundrechte und Demokratie, des Bundesarbeitskreises Kritischer Juragruppen, von Pro Asyl, des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen


Fischer Taschenbuch Verlag
Frankfurt am Main, Juni 2004
222 Seiten, 9,90 Euro
ISBN 3-596-16381-1