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REZENSION/216: G. Agamben - Ausnahmezustand (Politische Philosophie) (SB)


Giorgio Agamben


Ausnahmezustand

(Homo sacer II.1)



Die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs der USA vom 28. Juni 2004 zur Zuständigkeit der amerikanischen Justiz für die von US- Streitkräften auf die Marinebasis Guantanamo Bay verschleppten Gefangenen wurde weltweit als längst überfällige rechtsstaatliche Korrektur des selbstherrlichen Vorgehens der US-Administration gelobt, hielten jedoch nicht, was sie versprachen. Die Verfassungsrichter bestätigten lediglich die Zuständigkeit amerikanischer Gerichte für diesen Fall von Freiheitsberaubung, fällten jedoch weder ein Urteil über die Rechtmäßigkeit der vom US-Militär vollzogenen Gefangennahme, die Einstufung der Häftlinge als "feindliche Kombattanten" durch die US-Regierung oder gar die Rechtmäßigkeit eines Krieges, der die Exekutive angeblich zu derartigen Praktiken ermächtigt.

Dem in Afghanistan von amerikanischen Soldaten festgenommenen US-Bürger Yaser Esam Hamdi, der von der Regierung Bush seit fast drei Jahren als "feindlicher Kombattant" ohne Richterbeschluß und die Gewährleistung Untersuchungshäftlingen üblicherweise zustehender Rechte in Administrativhaft gehalten wird, hat das Supreme Court zwar das Recht zugestanden, einen Anwalt zu nehmen und seinen Fall vor Gericht zu bringen, jedoch keineswegs seine Bürgerrechte wiederhergestellt. So können anstelle ordentlicher Gerichte auch Militärtribunale über die von Hamdi beklagte Verletzung seines Habeas-Corpus-Rechts - keine Haft ohne richterliche Prüfung - befinden und dabei die Verfahrensregeln zulasten des Gefangenen so definieren, daß er auch durch Aussagen belastet werden kann, die auf Hörensagen beruhen. Vor allem wurde Hamdi auferlegt, selbst Gründe anzuführen, die gegen seine weitere Inhaftierung sprechen, das heißt, die Washingtoner Richter halten die Beweislastumkehr für ein zulässiges Mittel der Rechtsprechung. Während es in dem Erlaß, mit dem Präsident Bush nach dem 11. September 2001 die Einrichtung von Militärtribunalen anordnete, geheißen hatte, daß vor diesen nicht gegen US-Bürger verhandelt werden dürfe, ging das Supreme Court in diesem Punkt sogar noch weiter als die Exekutive.

Für die in Guantanamo Bay festgehaltenen Personen ist nach wie vor das Pentagon zuständig, wo der Stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz wenige Tage nach dieser Entscheidung anordnete, die Insassen des Lagers im Vorwege der nun möglich gewordenen Inanspruchnahme amerikanischer Gerichte vor Militärtribunale zu zitieren, die die Gründe ihrer Inhaftierung überprüfen sollen. Weder steht ihnen Anspruch auf Entschädigung für die jahrelange illegale Freiheitsberaubung unter verschärften Bedingungen und die Mißhandlungen während der Verhöre zu, noch haben sie Anspruch darauf, ein ordentliches Gericht zu bemühen.

Diese Entwicklung bestätigt die Ergebnisse der Untersuchung des Rechtsphilosophen Giorgio Agamben zum Phänomen der Aufhebung geltenden Rechts bei Bewahrung der herrschenden Rechtsordnung auf ganzer Linie. An die Stelle einer nicht nur beanspruchten, sondern auch praktizierten Rechtsstaatlichkeit tritt der Ausnahmezustand als Regel eines staatsrechtlichen Zustands, der, wie der Begriff schon sagt, eigentlich nur die Ausnahme von dieser darstellen soll. Indem sich die exekutive Eigenmächtigkeit verstetigt, stellt sich schließlich die Frage, wie überhaupt noch zwischen rechtlichem Ausnahme- und Normalzustand unterschieden werden kann.

In seinem im italienischen Original letztes Jahr erschienenen Buch "Ausnahmezustand" gelingt es Agamben auf 113 Seiten komprimierter rechtsphilosophischer Betrachtungen nicht nur, das verfassungsrechtlich so prekäre Instrument der gesetzesimmanenten Aufhebung geltenden Rechts in seiner ganzen Widersprüchlichkeit darzustellen, sondern auch das Wesen des Politischen als ein durch den Ausnahmezustand in seinem Kernbestand in Frage gestelltes Agens menschlichen Handelns zu erhellen. Dabei spannt er den Bogen der historischen Referenz vom Justitium des Römischen Rechts, einer frühen Form von Suspendierung der Rechtsordnung in Zeiten des öffentlichen Aufruhrs, über die Verhängung des Belagerungszustands, die während der Französischen Revolution als weiterer Vorläufer heutiger Notstandsregelungen kodifiziert wurde, und das moderne Kriegsrecht bis hin zur ausführlichen Behandlung des Notverordnungsrechts nach Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung sowie zur heutigen Nutzung des Ausnahmezustands etwa im sogenannten Krieg gegen den Terrorismus.

All das erfolgt, wie man es von Agamben gewohnt ist, im Rahmen einer eng am etymologischen und semantischen Gehalt der verwendeten Terminologie angelehnten Analyse, die die Mittel und Methoden, die Zwecke und Ziele dieses Sonderfalls staatsrechtlicher Entwicklung bis auf den Grund rechtsphilosophischer Axiomatik auslotet. Dem Zwitterstatus eines rechtlich verfaßten Mittels politischer Ermächtigung gemäß siedelt der Autor den Ausnahmezustand auf der Grenze zwischen Recht und Politik an, wo er "einen rechtsfreien Raum, eine Zone der Anomie" (S. 62) überaus paradoxer Art konstituiert, denn:

Dieser rechtsfreie Raum scheint aus bestimmten Gründen für die Rechtsordnung so wesentlich zu sein, daß diese mit allen Mitteln versuchen muß, mit ihm eine Beziehung aufrechtzuerhalten - als müßte das Recht um seines Grundes wegen notwendigerweise eine Beziehung zur Anomie pflegen. Einerseits scheint die Rechtsleere, um die es beim Ausnahmezustand geht, absolut nicht denkbar zu sein für das Recht; andererseits ist dieses Undenkbare jedoch für die Rechtsordnung von entscheidender strategischer Bedeutung, so daß man es sich auf keinen Fall entgehen lassen darf. (S. 62)

Agamben geht von einer Rechtsontologie aus, der gegenüber der Ausnahmezustand in einem Verhältnis der Unvereinbarkeit steht, das letztlich den Corpus des Rechts schützt, obwohl er durch diese Beziehung zur Anomie grundlegend und dauerhaft in Frage gestellt ist. Das Problem, die Gültigkeit einer in sich widersinnigen Ordnung zu bestätigen, die gleichzeitig gesetzliche Kodices und die von diesen nicht zu bindende Willkür machtpolitischen Handelns benötigt, um Herrschaft ausüben und bewahren zu können, bewältigt Agamben mit der ihm eigenen Methode, abstrakte Begrifflichkeiten topologisch in Beziehung zueinander zu setzen. Dabei operiert er mit Orten und Räumen, Grenzen und Transformationen sowie schließlich Nichtorten und Zwischenräumen, um die sperrige Widerspruchsimmanenz aller positiv aufeinander bezogenen Termini transparent und für Schlußfolgerungen handhabbar zu machen. Daraus ergeben sich durchaus originelle Deutungen eines Usus verfassungs- und staatsrechtlichen Handelns, der alles andere als akzeptabel ist und gerade deshalb die Kernfrage gesellschaftlichen Handelns berührt:

Es ist dieses Niemandsland zwischen Öffentlichem Recht und politischer Faktizität, zwischen Rechtsordnung und Leben, das in der vorliegenden Arbeit untersucht werden soll. Nur wenn der Schleier, der diese ungewisse Zone verhüllt, gelüftet wird, können wir uns einem Verständnis nähern, was bei der Differenz - oder der unterstellten Differenz - zwischen Politischem und Rechtlichem und zwischen Recht und Leben auf dem Spiel steht. Und vielleicht wird es dann erst möglich sein, eine Antwort auf die Frage zu finden, deren Echo die ganze abendländische Politikgeschichte durchhallt: Was heißt politisch handeln? (S. 8)

Die Antwort auf diese Frage gibt Agamben am Ende des Buches, wo er "wahrhaft politisch" nur "ein solches Handeln" nennt, "das Bezug zwischen Gewalt und Recht rückgängig macht", um sich schließlich "einem 'reinen' Recht gegenüber [zu] sehen, in dem Sinn, wie Benjamin von einer 'reinen' Sprache und von 'reiner' Gewalt spricht" (S. 104). Wenn er das bürgerliche Subjekt mit "einem Wort, das nicht verpflichtet, nicht befiehlt noch etwas verbietet, sondern nur zu sich selbst spricht", von fremder Verfügungsgewalt befreien und ihm durch das "Handeln als reines Mittel, das, ohne Bezug auf ein Ziel, nur sich selbst zeigt" (S. 102), Vollmacht über sich selbst erteilen will, dann appelliert er an das Autonome inmitten von Kräften, die es seiner Freiheit berauben wollen und es in vielerlei Hinsicht schon getan haben.

Es bleibt der abstrakten Sphäre des rechtsphilosophischen Diskurses vorbehalten, das Oxymoron des herrschaftsfreien Rechts zu postulieren, hält es doch den Tauglichkeitstest einer von komplexen Interdependenzen und multifaktoriellen Kausalitäten bestimmten Wirklichkeit gerade deshalb nicht stand, weil es auf den Recht wie Politik konstituierenden Prinzipien des Teilens und Herrschens, Tauschens und Vergleichens basiert. Es zeugt von so mutigem wie verzweifelten Idealismus, daß Agamben die von ihm anhand des Ausnahmezustands diagnostizierte "Rechtsleere" (S. 62) nicht als alle rechtlichen Normen betreffende Negation begreift. Indem er dieses vermeintliche Vakuum, das natürlich von sozialökonomischen Gewalten aller Art erfüllt ist, auf den Ausnahmezustand reduziert, bleibt eine Rechts- und Staatsauffassung, die die Affirmation des Bestehenden betreibt, gerade um mit dem Postulat positiver Werte auch deren Aufhebung möglich zu machen, von seiner Kritik im Prinzip unangetastet.

Agamben ahnt sehr wohl, daß ein Wertekosmos, in dem ein schwarzes Loch am ontologischen Fundament aller Gültigkeit nagt, zutiefst instabil ist, zumal er bereits 1995 in "Homo sacer" feststellte:

Der Ausnahmezustand, in dem das nackte Leben zugleich von der Ordnung ausgeschlossen und von ihr erfaßt wurde, schuf gerade in seiner Abgetrenntheit das verborgene Fundament, auf dem das ganze politische System ruhte (S. 19)

. Ganz offensichtlich handelt es sich dabei nicht um einen bloßen Konstruktionsfehler in einer ansonsten fehlerfrei funktionierenden Staatsmaschine, sondern eine systemische Voraussetzung der Herrschaft des Menschen über den Menschen, die mehr Widerspruchspotential enthält, als sich mit der Überprüfung der Kohärenz ihrer Kodifikation dingfest machen ließe.

Von besonderem Interesse an Agambens Analyse des Ausnahmezustands ist daher seine Abhandlung zu der seit dem 11. September 2001 häufig zitierten Theorie der Souveränität des deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt, der denjenigen zum Souverän erklärt, der über den Ausnahmezustand befindet. Agamben legt dar, daß Walter Benjamin, für dessen Werk er in Italien als Herausgeber fungiert, in seinem 1921 verfaßten Essay "Zur Kritik der Gewalt" als Impulsgeber Schmitts fungierte, und leistet damit eine Rehabilitation Benjamins, dessen Interesse an Schmitts Lehre der Souveränität immer als skandalös empfunden worden sei.

Dabei kennzeichnet Benjamins Sicht auf das NS-Regime ihn so sehr als dessen Gegner, wie Schmitt mit seiner Auffassung vom Ausnahmezustand zur Legitimation der nationalsozialistischen Herrschaft beitrug. Ausgehend von seinem 1921 entwickelten Begriff der "reinen Gewalt", "die absolut außerhalb und jenseits des Rechts steht und als solche die Dialektik zwischen rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt durchbrechen könnte" (S. 65), postuliert Benjamin die "letztliche Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme" (Zur Kritik der Gewalt, S. 196). Damit lieferte er Schmitt die negative Vorlage für dessen Theorie von der Entscheidung als unbedingte Voraussetzung zum Erhalt staatlicher Gewalt. Wenn Schmitt "Souveränität als Ort der äußersten Entscheidung" begreift, dann versucht er, wie Agamben detailliert schildert, "die reine Gewalt zu neutralisieren und die Beziehung der Anomie zum Rechtskontext sicherzustellen" (S. 67).

Agamben läßt keinen Zweifel daran, daß Benjamin eine Gegenposition zum Kronjuristen des Dritten Reichs bezogen hat und es ihm gerade nicht darum ging, der Staatsgewalt Sondervollmachten zuzuschanzen, die das jeder Exekutive eigene despotische Potential noch verstärkten. Um dies zu dokumentieren, stellt er Benjamins achte These über den Begriff der Geschichte, die er wenige Monate vor seinem Freitod in einem Pariser Gefängnis, in das ihn die deutschen Besatzer Frankreichs gesteckt hatten, niederschrieb, in den Mittelpunkt der Debatte zwischen diesen beiden so unterschiedlichen deutschen Denkern:

"Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der 'Ausnahmezustand', in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern." (Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, 1942, S. 697)

Mit dem "wirklichen Ausnahmezustand" ist die Aufhebung der herrschenden Ordnung in revolutionärer Manier gemeint, womit Benjamin ein Prärogativ der Staatsmacht wieder zurück in die Hände des Volkes als eigentlichem Souverän gelegt hätte. Das mußte einem neomachiavellistischen Theoretiker wie Schmitt aufs höchste suspekt sein, um so mehr bot Benjamin den geeigneten Anlaß dafür, sein Verständnis von einer ins Recht inkorporierten Aufhebung des Rechts weiter auszuformulieren. Angesichts des im NS-Staat zur Permanenz geronnenen Ausnahmezustands trieb Schmitt allerdings die Frage um, wie man eine zur Regel gewordene Ausnahme noch als solche kenntlich machen und damit den Dezisionismus als operatives Prinzip gegen Benjamins These abgrenzen könne, "daß für den barocken Souverän das Unvermögen zu entscheiden konstitutiv ist" (S. 68), weil dieser den Ausnahmezustand strikt außerhalb der Rechtsordnung beläßt.

Bei der aufmerksamen Lektüre Agambens zerstreut sich jeder Verdacht, der italienische Rechtsphilosoph gehöre zu einem der mehr oder minder lavierten Adepten Schmitts, die den intellektuellen Begründungszusammenhang dieses dem NS-Regime nahestehenden Staatsrechtlers nutzen, um apologetische Schriften über den Sicherheitsstaat und die gelenkte Demokratie zu verfassen. Der letzte Absatz des Kapitels "Gigantomachie rund um eine Leere", in dem Agamben die Debatte zwischen Benjamin und Schmitt nachzeichnet, eröffnet dem Leser einen poetisch anmutenden Ausblick auf eine Zukunft, die angesichts der täglich zu bezeugenden Zweckentfremdung rechtlicher Normen durch machtpolitische Interessen und der vollständigen Mißachtung geltenden Rechts durch autokratische Regime, die sich als demokratisch bezeichnen, schon utopisch genannt werden muß:

Eines Tages wird die Menschheit mit dem Recht spielen wie Kinder mit ausgedienten Gegenständen, nicht um sie wieder ihrem angestammten Gebrauch zuzuführen, sondern um sie endgültig von ihm zu befreien. Was sich hinter dem Recht befindet, ist nicht nur ein in höherem Maße eigentlicher oder ursprünglicher Gebrauchswert, der dem Recht vorausgeht, sondern ein neuer Gebrauch, der erst nach ihm erwächst. Auch der Gebrauch, der vom Recht kontaminiert ist, muß vom eigenen Wert befreit werden. Diese Befreiung ist Aufgabe des Studiums - oder des Spiels. Und dieses gelehrsame Spiel ist die Bahn, die zu jener Gerechtigkeit Zugang zu finden erlaubt, die ein postumes Fragment Benjamins als den Zustand der Welt bezeichnet, in dem sie als Gut erscheint, das absolut nicht anzueignen und für das Recht unzugänglich ist. (S. 77)

Agamben ist alles andere als ein Fantast oder Schwärmer, wie seine Analyse herrschender Verhältnisse zeigt, die das Buch zu einer wichtigen politischen Streitschrift macht. Er macht Attribute des Ausnahmezustands in der "fortschreitenden Zersetzung der Legislativkraft des Parlaments" wie in der "Abschaffung der Unterscheidung zwischen Legislative, Exekutive und Jurisdiktion" namentlich als Tendenz aus, "sich in eine ständige Praxis des Regierens zu wandeln" (S. 14). Am Beispiel der Weimarer Republik, wo schon seit Juli 1930, also fast drei Jahre vor der Einsetzung Adolf Hitlers als Reichskanzler, mithilfe des Ausnahmezustands nach Artikel 48 regiert wurde, legt er dar, "daß eine 'geschützte Demokratie' keine Demokratie ist und daß das Paradigma der Verfassungsdiktatur eher als Phase eines Übergangs funktioniert, der in fataler Weise zur Einsetzung eines totalitären Regimes führt" (S. 23).

Daß man in der Bundesrepublik 1968 dennoch die Möglichkeit, den Ausnahmezustand über das Land zu verhängen, wieder einführte, weiß Agamben als Qualifikation des Staatsschutzdenkens zu bewerten, da mit der Bezugnahme auf einen positiven, im Grundgesetz nicht enthaltenen Wertebestand eine ursprünglich nicht vorgesehene Trennscheide zwischen konformen und potentiell staatsfeindlichen Personen eingeführt wurde:

Mit unbewußter Ironie und zum ersten Mal in der Geschichte dieser Einrichtung war die Erklärung des Ausnahmezustands jetzt nicht einfach für die Rettung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorgesehen, sondern zur Verteidigung der 'freiheitlich demokratischen Grundordnung'. Die geschützte Demokratie war inzwischen zur Regel geworden. (S. 24)

Besonders scharf geht Agamben mit der US-Regierung ins Gericht. Dabei ist ihm der Umgang der Bush-Administration mit ihren Gefangenen, die sie im Krieg gegen den Terrorismus einem weltweit organisierten System der Verschleppung und Einkerkerung überantwortet, ein besonderer Dorn im Auge. Schon 1995 hat der Rechtsphilosoph in "Homo sacer" seine Anthropologie vom "nackten Leben" begründet, das durch den Ausnahmezustand geschaffen wird. In diesem aufsehenerregenden Werk erklärt der Autor das Lager zum "verborgenen Paradigma des politischen Raums der Moderne" (S. 131), in dem Demokratie und Totalitarismus in eins fallen.

In der als Fortsetzung dieses Grundlagenwerks politischer Philosophie zu verstehenden vorliegenden Schrift "Ausnahmezustand" steht zwar dessen historische Entwicklung und staatsrechtliche Praxis im Mittelpunkt, der Autor verzichtet jedoch nicht darauf, die These von der Kontinuität des Lagers als Manifestation der Zurichtung des Menschen zu umfassender Beherrschbarkeit zu erneuern. Hinsichtlich der Sondervollmachten, mit der die US- Regierung seit dem 11. September 2001 Jagd auf vermeintliche Terroristen macht, vergleicht er das Schicksal der Betroffenen "mit dem rechtlichen Status der Juden in den Nazi-Lagern, die mit der Staatsbürgerschaft jede rechtliche Identität verloren, aber wenigstens die jüdische noch behielten. Wie Judith Butler überzeugend dargelegt hat, erreicht mit dem detainee von Guantanamo das nackte Leben seine höchste Unbestimmtheit" (S. 10).

Wie das weitere Schicksal von den USA im Krieg gegen den Terrorismus gemachter Gefangener zeigt, hat diese Einschätzung Bestand. Während sich das Supreme Court in Washington nicht dazu durchringen kann, administrative Verschleppung und Verhaftung als verfassungswidrig zu brandmarken, sondern den unerklärten Ausnahmezustand höchstrichterlich absegnet, wird die systematische Folterung in amerikanischen Gefängnissen außerhalb der USA als eigenmächtiges Vergehen subalterner Aufsichtspersonen verharmlost. Die angebliche Ausnahme brutaler und erniedrigender Quälerei erscheint als Regel eines Krieges, der seinerseits das Vorrecht reklamiert, aufgrund nationaler Interessen nicht an internationale Verträge gebunden zu sein. Dieser absolutistische Anspruch hat sogar dazu geführt, daß man in Washington über die Verschiebung der Präsidentschaftswahlen im Falle eines Anschlags nachdenkt, obwohl es dergleichen in der Geschichte der Vereinigten Staaten noch niemals gegeben hat.

Im Zusammenhang dieser Forderung nach souveräner Macht in einer Notfallsituation ist die Entscheidung von Präsident Bush zu sehen, wenn er sich nach dem 11. September 2001 ständig an sich selbst als den Commander in chief of the army wendet. Bedeutet, wie wir gesehen haben, das Aufkommen dieses Titels ein unmittelbares Sich-Beziehen auf den Ausnahmezustand, dann ist Bush derzeit dabei, eine Lage zu schaffen, in welcher der Notfall zur Regel wird und in der eben jene Unterscheidung zwischen Frieden und Krieg (und zwischen Krieg nach außen und weltweitem Bürgerkrieg) sich als unmöglich erweist. (S. 31f.)

Bei allen Einschränkungen, denen Agamben mit seiner an Heidegger geschulten Denkweise und seinem Verzicht auf die politökonomische Analyse staatlichen Handelns unterliegt, ist ihm mit dieser komprimierten Abhandlung zu einem immer wichtiger werdenden Mittel moderner Machtpolitik ein großer Wurf gelungen. Die aufmerksame Lektüre des Buches schärft den Blick für die politischen Gefahren, die mit der schleichenden und vom breiten Publikum kaum zur Kenntnis genommenen Aushöhlung geltenden Rechts einhergehen, und erzeugt Interesse daran, sich auf profunde Weise mit den geistesgeschichtlichen Grundlagen administrativer Systeme zu beschäftigen. Man darf gespannt sein auf den nächsten Band dieses Autoren.


Giorgio Agamben
Ausnahmezustand
(Homo sacer II.1)
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004
113 Seiten, 9,- Euro
ISBN 3-518-12366-1