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REZENSION/225: John Emsley - Fritten, Fett und Faltencreme (Chemie) (SB)


John Emsley


Fritten, Fett und Faltencreme



Plädoyer für die mißverstandene und unberechtigt beargwöhnte Chemie

Wer die beiden Vorgängerwerke von John Emsley zum Thema Chemie im Alltag, "Parfüm, Portwein, PVC..." und "Sonne, Sex und Schokolade" kennen und schätzen gelernt hat, darf sich mit Recht auch auf die dritte Folge dieser von John Emsley verfaßten Serie freuen.

Darin bleibt Emsley seinem bewährten Konzept treu, selbst dem naturwissenschaftlich unkundigen Leser in verständlicher Sprache etwa 30 verschiedene chemische Stoffe und Vorgänge aus seiner unmittelbaren Umgebung nahezubringen. Auch dieses Buch setzt wieder Schwerpunkte, die man nicht unmittelbar mit Chemie in Verbindung bringen würde, nämlich Kosmetik, Nahrungsmittel, Sex, Hygiene und mentale Gesundheit. Unter anderem wird dem Kaugummi ein ganzes Kapitel gewidmet, das sich damit befaßt, warum man mit manchen Gummis Blasen machen kann, während andere Produkte auch für Gebißträger geeignet sind, und wie sich der Stoff, auf dem der Mensch schon seit Jahrzehnten unbekümmert herumkaut, chemisch vom Naturkautschuk bis heute verändert hat.

Daß Emsley mit diesen Themen auch gerade die Fragen trifft, die sich viele Menschen stellen, die aber in Schule und Beruf meist unbeantwortet bleiben, könnte seine Bücher zu einer idealen Ergänzung für den Chemieunterricht werden lassen und die scheinbar unüberwindliche Kluft zwischen dem lebensfremden abstrakten Lernstoff und den Dingen, die den Menschen eigentlich betreffen, schließen helfen. Doch unter dem Diktat des Lehrplans kommt die Alltagschemie in den Schulen kaum zur Sprache.

Die souveräne und vor allem verständliche Darstellung der 30 chemischen Substanzen, deren Nachteile ebenso ausführlich erläutert und in den kulturgeschichtlichen Kontext gestellt werden wie ihre Vorteile, würde eigentlich schon ausreichen, das Buch zu einem beliebten Nachschlagewerk zu machen, in dem sich auch der Laie zu bestimmten Stoffen, die beispielsweise in der Presse zur Sprache kommen, kompetent informieren kann. Doch Emsley scheint im Unterschied zu den vorausgehenden Werken gerade mit diesem Buch noch eine besondere Mission zu verfolgen, die über die einfache Aufklärung hinausgeht und die dem Format des Gesamtwerks eher schadet als nützt.

So will er zwar mit seinen Beiträgen die Lücke des Unwissens überbrücken, weil aus ihr Unsicherheit und sogar Angst - eine, wie er selbst sagt, Chemiephobie vor allzuviel "Chemie" in unserem Alltag - erwächst. Doch der Versuch dieser Angst vor allem damit zu begegnen, das Vertrauen in sogenannte Naturstoffe vehement zu erschüttern, könnte nach hinten losgehen. So liest man etwa in seiner Nachbemerkung:

Synthetische Chemikalien beeinflussen unseren Hormonhaushalt weit weniger als manche von Pflanzen produzierten Substanzen, die Hormone nachahmen. (...) In der Umwelt kommen die verschiedensten hormonell wirksamen Stoffe (Östrogenmimetika und Östrogenantagonisten) vor; einer der kräftigeren wird von der Sojapflanze produziert. Diese von den Pflanzen zum Schutz gegen Schadinsekten in größeren Mengen hergestellten Substanzen nimmt das Hormonsystem des Menschen kaum zur Kenntnis. 99,99% der Hormonnachahmer, die man mit einem dreigängigen Menü zu sich nimmt, stecken in dem dazu genossenen Glas Rotwein. Auch der winzige Rest von 0,01% können Naturstoffe und müssen nicht synthetische Pestizide sein. (S. 252)

Damit und durch viele andere Beispiele will Emsley deutlich machen, daß der Unterschied zwischen "Naturstoffen" und "synthetischen Stoffen" vom chemischen Standpunkt aus gesehen gar nicht so groß ist, abgesehen davon, daß der Mensch inzwischen von vielen durch die chemische Industrie erzeugten Produkte regelrecht abhängig geworden ist, das mulmige Gefühl aber, das solche Einwürfe beim Leser hinterlassen, sind für das von Emsley verfolgte Anliegen, die chemiefeindliche Menschheit zu beschwichtigen, sicherlich kontraproduktiv.

Während der Autor in den früheren Büchern auch auf das Thema Umweltverschmutzung ausführlich eingegangen ist, und die Gefährlichkeit mancher chemischer Praktiken beim Namen nannte, vertritt er hier die Ansicht, daß die Chemie und ihre Vertreter insgesamt dazugelernt hätten. So behauptet er schon im Vorwort zu seinem Buch:

Schon lange geht die chemische Industrie nicht mehr unachtsam und sorglos mit Prozessen und Produkten um. Auch in ihren frühen, unbekümmerten Jahren aber rettete sie zweifellos Millionen von Menschen vor einem Leben in Schmutz, Mangel, Krankheit, Elend und Armut. Was in den 1950er-Jahren in den westlichen Industrieländern erreicht wurde, steht jetzt einem weitaus größeren Kreis zur Verfügung. Die Herausforderung besteht darin, die Segnungen der Chemie allgemein zugänglich zu machen, ohne der Umwelt Schaden zuzufügen - unter ausschließlicher Verwendung nachwachsender Rohstoffe -, und es gibt keinen Grund, aus dem sich dies nicht erreichen ließe. (Vorwort)

So kann nur einer sprechen, der wirklich an die Errungenschaften und Möglichkeiten der Chemie glaubt und der, wie er selbst sagt, davon überzeugt ist, "daß die chemische Industrie am Ende unseres Jahrhunderts Abfallstoffe in nützliche Produkte umwandelt, ... in Anlagen, die nur noch einen Bruchteil der gegenwärtigen Fläche benötigen, ... und keine Fremdstoffe in die Umwelt abgeben...".

Mit dieser Vision liegt er ganz auf der Linie der zur "Grünen Chemie" bekehrten vermeintlich nachhaltigen Forschung auf diesem Gebiet, ein Forschungsbereich, der vor allem durch den Einsatz von Gentechnik die Unsicherheit und die unbekannten potentiellen Gefahren für Mensch und Umwelt im Vergleich zu der in den Anfängen der Chemie erzeugten bei weitem übersteigt. Vielleicht soll Emsleys kritiklose Botschaft an die Menschheit: "Zurück zur Chemie!" in diesem Sinne auch "zurück zur althergebrachten Chemie, deren Fehler und Gefahren wir noch einschätzen können", heißen, kommt aber in dieser Form nicht zum Ausdruck.

Treu seiner Mission bleibt auch die Themenauswahl des neuesten Buches nicht von ungefähr auf der sicheren Seite von "Emsleys 'Chemie'marketing", was sich auch schon in dem Buch "Sonne, Sex und Schokolade" abzeichnete. Um seine Wissenschaft, die laut eigener Aussage in der öffentlichen Meinung der Briten "etwa auf gleicher Stufe mit den Gebrauchtwarenhändlern" rangiert, mit mitreißender Leidenschaft an den Mann zu bringen, greift er zu dem Stoff aus dem sich auch alle spannenden Bücher und filmischen Straßenfeger zusammensetzen: Love, Sex and Crime.

So widmet sich Emsley in diesem Buch der Schönheit, den chemischen Vorgängen beim Liebesspiel, den Liebestränken und Aphrodisiaka, sowie der Rolle des Selens beim Wunsch nach Nachkommenschaft. Ganz in bewährter, ansprechender Tradition, diese populärwissenschaftliche Buchreihe wie immer unter eine Alliteration zu stellen, erscheint das Buch im englischen Originaltitel passend zu diesen Schwerpunkten als Eitelkeit, Vitalität und Potenz: "Vanity, Vitality, Virility - The science behind the products you love to buy" (Emsley selbst hatte 'Vanity, Vitality and Viagra' (Eitelkeit, Vitalität und Viagra) vorgeschlagen).

Der deutsche Titel führt dagegen zum Zeitpunkt des Erscheinens ein wenig in die Irre. "Fritten, Fett und Faltencreme" könnte den kritischen Verfolger brisanter und oft widersprüchlicher Tagesthemen nämlich in Erwartung, in diesem aktuellen Buch genaueres und in bewährter Emsleymanier gutrecherchiertes über die Hintergründe des Acrylamidskandals zu erfahren und ähnlich Kritisches zu anderen Inhaltsstoffen von Konsumgütern und Lebensmitteln, doch sehr enttäuschen.

Die Geschichte von dem sich zu einem Schadstoff (Acrylamid) verwandelnden Naturprodukt, die sich zudem als Farce erwiesen hat und Wasser auf den Mühlen eines John Emsley hätte werden können, hat der Autor diesmal ausgespart, wohl um gar nicht erst etwas Kritisches oder Anrüchiges auf sein schönes Chemiebuch kommen zu lassen. Auch daß Prozac, ein hier als besonders menschenfreundliches Antidepressivum vorgestelltes Arzneimittel, unlängst von sich Reden machte, weil es das Trinkwasser der Briten zunehmend verunreinigt, spart Emsley aus, denn es wäre nur ein weiterer Schmutzfleck in seiner schönen, so verkannten Welt der Chemie.

Überhaupt hebt Emsley erst am Ende seines Buches über lange 15 Seiten seinen mahnenden Zeigefinger, um doch noch etwas Kritisches zu äußern, bzw. um sich über die Presse- und Medienpolitik in seiner Nachbemerkung (Seite 239 - 254) zu beschweren, die seiner Ansicht nach durch Falschmeldungen oder sensationelle Übersteigerungen erst für den schlechten Ruf der Chemie gesorgt habe.

Zwar geben einige Beispiele der jüngeren Vergangenheit wie der vermeintliche Alzheimerauslöser Aluminium (das hier in einem Kapitel des Buches auch genauer zur Sprache kommt) oder der hier unerwähnte Acrylamidskandal dem Autor durchaus recht, doch Journalisten und Redakteuren betrügerische Absichten und unseriöse Praktiken zu unterstellen und eine Art Gebrauchsanweisung herauszugeben, nach welchen Kriterien man Pressemitteilungen besser ignorieren sollte, geht dann doch ein bißchen weit, zumal er dem Leser solcher Meldungen damit jedes eigene Urteils- und Denkvermögen abspricht.

Eine Aufklärung solcher sensationslüsternen Machenschaften anhand von weiteren Fallbeispielen wäre dagegen wesentlich spannender gewesen als diese langatmige Pauschalschimpfe.

Nun wäre auch Emsley nicht er selbst, wenn er sich nicht mit Leib und Seele seiner Wissenschaft verschrieben hätte, bzw. sich inzwischen sogar vollständig damit identifiziert und sich daher naheliegenderweise verkannt fühlt:

... Wer sich für einen solchen Beruf entscheidet, verdient unsere Bewunderung, nicht den unberechtigten Argwohn, der in den vergangenen 25 Jahren viele von diesem Studium abhielt. ...

Deshalb kann man ihm seine missionarischen Auswüchse durchaus verzeihen, zumal er auch in diesem Buch ebenso wie in allen seinen Büchern und Schriftwerken in der Überzeugung, daß Fakten für sich sprechen, ausgesprochen gründlich und genau arbeitet.

Daß er dabei gegebenfalls sogar seiner eigenen Linie untreu wird und nicht immer Werbung für die Errungenschaften der Chemie macht, sei dahingestellt. Bei der Auflistung von den Substanzen und Inhaltsstoffen, die sich allein in Kosmetika verbergen, werden sich bei manchem Leser trotz aller Aufklärungsbemühung über die Vorteile dieser Stoffe mit Sicherheit die Nackenhaare aufstellen und er wird mit Cremes und Lippenstiften vermutlich nicht mehr ganz so sorglos umgehen.

Und so steht durch das umfangreiche Faktenmaterial, wenn auch vom Autoren unbeabsichtigt, selbst dem chemiekritischen Leser ausreichend verstehbares Material zur Verfügung, sich unabhängig von dem ultimativem Lobgesang eine eigene Meinung zu bilden.

Damit bleibt auch der dritte Emsley in dieser Reihe für den an alltäglicher Chemie Interessierten ein absolutes Muß.


Zum Autor:

John Emsley, Jahrgang 1938, hat an der Manchester University Chemie studiert und dort 1963 auch promoviert. Danach war er 25 Jahre Dozent am King's College in London. Seit 1990 ist er "Science Writer in Residence", inzwischen an der Universität Cambridge.

Emsley ist als Buchautor und Verfasser von über 500 populärwissenschaftlichen Beiträgen für Zeitungen, Magazine, Funk und Fernsehen bekannt (im INDEPENDENT hat er eine monatliche Kolumne). Für sein schriftstellerisches Schaffen wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 1995 für die englische Ausgabe von Parfum, Portwein, PVC ... mit dem Rhône-Poulenc-Preis für Wissenschaftsjournalismus. 2003 erhielt er den Literaturpreis der Gesellschaft Deutscher Chemiker für Schriftsteller.

Bei Wiley-VCH sind folgende Titel von ihm erschienen:
- Parfum, Portwein, PVC (1997)
- Sonne, Sex und Schokolade (1999)
- Phosphor - ein Element auf Leben und Tod (2001)
- Wenn Essen krank macht (2003)


John Emsley
Fritten, Fett und Faltencreme
Verlag Wiley-VCH, Weinheim 2004
Euro 24,90
ISBN 3-527-31147-5