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REZENSION/244: I. Wallerstein - Absturz oder Sinkflug d. Adlers (USA) (SB)


Immanuel Wallerstein


Absturz oder Sinkflug des Adlers

Der Niedergang der amerikanischen Macht



Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der Auflösung der einst übermächtig erschienenen Sowjetunion drei Jahre später fand die Idee Francis Fukuyamas vom "Ende der Geschichte" große Verbreitung. Demnach hätte der Kapitalismus den großen ideologischen Wettstreit der vorangegangenen 200 Jahre gewonnen, und folglich gäbe es zu ihm "keine Alternative", so der berühmte Spruch der damaligen, britischen Premierministerin Margaret Thatcher. Bestätigung erhielt diese totalitär anmutende These der neokonservativen Elite der Anglosphäre von der in den neunziger Jahren losgetretenen Hausse an der Wall Street. Angesichts der raschen und aufsehenerregenden Ausbreitung der Informationstechnologie - Internet und Mobilfunk - spekulierten nicht wenige "Wirtschaftsweise", darunter sogar der Chef der US-Notenbank Alan Greenspan, ob man nicht vielleicht sogar das konjunkturelle Auf und Ab, die zyklische Natur der Ökonomie überwunden habe und sich nun auf dem Weg zu Wohlstand und Glück für alle befinde.

Doch nach dem Platzen der Dot.com-Blase, den in ihrer schockierenden Wirkung beispiellosen Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 und der Ausrufung des "globalen Antiterrorkrieges" durch die Regierung der USA sind die Träumereien der neunziger Jahre dahin. Die Welt ist ein unsicherer Ort geworden, in dem sich die unilateralistisch agierende Supermacht Amerika nicht mehr an das bisherige Völkerrecht, die Genfer Konventionen oder die Ende des Zweiten Weltkrieges von Washington selbst maßgeblich geschaffenen Vereinten Nationen als internationales Schlichtungsinstrument gebunden fühlt. Wenn es nach dem Willen von US-Präsident George W. Bush geht, muß sich jeder Mensch und jedes Land, um nicht in Guantánamo Bay zu landen respektive zum "Schurkenstaat" erklärt zu werden, entscheiden, ob man für Amerika oder "für die Terroristen" ist.

In der Tat befindet sich die Geschichte entgegen anderslautenden Prognosen seit dreieinhalb Jahren wieder im vollen Lauf, und das in einem Tempo, bei dem es jedem schwerfallen dürfte mitzuhalten. Wenn die Analyse des großen amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein zutrifft, werden die geopolitischen Umwälzungen auf absehbare Zeit eher zunehmen als wieder abflauen. Wie Wallerstein in seinem jüngsten Buch "Absturz oder Sinkflug des Adlers - Der Niedergang der amerikanischen Macht" glaubhaft schildert, ist diese unsere Welt bereits in eine Phase des gesellschaftlichen Wandels eingetreten, wie man es seit rund 500 Jahren nicht mehr erlebt hat. Wallerstein, Autor des zwischen 1974 und 1989 erschienenen, dreibändigen Monumentalwerks "The Modern World System", spricht im vorliegenden Buch von einem längst ausgebrochenen, "gewaltigen Kampf um das Nachfolgesystem, der zwanzig, dreißig, fünfzig Jahre andauern dürfte und dessen Ausgang seinem Wesen nach ungewiss" ist (S. 229).

Wallersteins Grundthese zufolge ist im 16. Jahrhundert etwas Neues aufgetreten, und zwar kein Imperium alten Stils, sondern eine von Europa her vernetzte und organisierte Weltwirtschaft, für die die Sklaverei auf den Zuckerplantagen der karibischen Inseln, die großen Welthandelsstädte und die Leibeigenschaft in Osteuropa wichtige Grundsteine darstellten. Während nicht nur marxistische Ökonomen seit längerem auf das Problem der seit Anfang der siebziger Jahre sinkenden Profitrate hinweisen und darin den Hauptanlaß für die seitdem in den Industriestaaten zu verzeichnende, neoliberale Offensive auf sämtliche Sozialerrungenschaften ausmachen, geht Wallerstein noch weiter. Für ihn ist das, was die Weltwirtschaft seit rund dreißig Jahren durchmacht, nicht einfach die negative Phase eines der üblichen ökonomischen Zyklen, sondern eine strukturelle Krise gigantischen Ausmaßes. Demnach ist das kapitalistische Weltwirtschaftssystem inzwischen an seine eigenen Grenzen gestoßen, die unmöglich mittels altbewährter Rezepte überwunden werden können.

Wallerstein identifiziert drei säkulare Trends, die seiner Meinung nach der bisherigen Kapitalakkumulation im Wege stehen und die Profitrate nach unten drücken: erstens die globale Verstädterung, die das traditionelle Heer billiger Arbeitskräfte vom Lande zusehends versiegen läßt; zweitens die prekäre Umweltlage, welche die Abwälzung der infolge von Rohstoffgewinnung und Produktion entstandenen Folgekosten auf die Allgemeinheit - die sogenannte Externalisierung - immer problematischer macht; drittens die zunehmende Schwierigkeit des Kapitals, um die Zahlung der vor allem in den Industriestaaten zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Stabilität anfallenden Steuern herumzukommen.

Erst vor dem Hintergrund dieser epochalen Strukturkrise wird die nach innen wie nach außen gleichermaßen hochaggressive Politik der Bush- Regierung sowie ihrer Nachahmer in den anderen Industriestaaten verständlich. Von der Richtigkeit der These Wallersteins, wonach der aktuelle Kurs Washingtons weitaus älter als der 11. September sei, zeugen beispielsweise die wichtigsten Schriften des militärisch- industriellen Komplexes der letzten Jahre wie Samuel Huntingtons "Kampf der Kulturen", Zbigniew Brzezinskis "Das große Schachbrett", die "Vision for 2020" des US-Weltraumkommandos, "Rebuilding America's Defenses" der Denkfabrik Project for the American Century und Thomas Barnetts "The Pentagon's New Map".

In dem 1997 erschienenen Bericht des U. S. Space Command "Vision Beyond National Missile Defense for 2020" beispielsweise wurde die "Kontrolle des Weltraums" durch die Streitkräfte Washingtons zwecks des "Schutzes und der Förderung der kommerziellen und militärischen Nationalinteressen der USA" zum Ziel erklärt. Als Grund, warum das Pentagon "full spectrum dominance", das heißt die militärische Vorherrschaft am Boden, auf See, in der Luft, im erdnahen Weltraum sowie auf der Informationenebene, erlangen müsse, gab man explizit die sogenannte Globalisierung und die damit einhergehende, längst absehbare "Vertiefung der Kluft zwischen den Besitzhabenden und Besitzlosen" an. Nicht umsonst steht daher für den Soziologen Wallerstein, der ähnlich den Pentagonstrategen, jedoch aus der entgegengesetzten Perspektive, die Weltlage als hochgradig instabil einschätzt, der Klassenkampf ganz im Mittelpunkt seiner Erörterungen.

Zur Erläuterung des seit vier Jahren zu beobachtenden "Macho- Militarismus" der Bush-Regierung schreibt Wallerstein:

Die Falken sind aus zwei Gründen der Meinung, die Vereinigten Staaten sollten als Imperialmacht auftreten: Erstens können sie damit durchkommen. Und zweitens würden die USA, wenn Washington seine Macht nicht ausübte, zunehmend marginalisiert. (S. 27)

Wallerstein sieht die USA als militärische Schutzmacht der Reichen dieser Welt an, die ihre Privilegien durch die Zeit des Wandels in eine neue Weltordnung hinüberzuretten versuchten. Bei allen Meinungsunterschieden unter den Führern der Triade-Mächte - USA, EU und Japan - stünden diese den Ländern des Südens, denen Wallerstein China und Rußland zuschlägt, geschlossen gegenüber. Nichtsdestotrotz geht Wallerstein davon aus, daß sich die USA bei ihrem Streben nach der langfristigen Installierung einer Pax Americana übernehmen, sich wirtschaftlich auszehren und schließlich scheitern werden. Interessanterweise gilt als großes historisches Vorbild am Hofe von Bush jun. Winston Churchill. Im Weißen Haus und im Pentagon vergleicht man gern den erbitterten Kampf zwischen Großbritannien und Deutschland in den beiden Weltkriegen mit dem aktuellen Konflikt zwischen den USA und dem "internationalen Terrorismus". Dabei übersehen Bushs Neocons offenbar, daß gerade Churchill wie kein zweiter Londoner Politiker für den Niedergang des British Empire verantwortlich gewesen ist.

Wallerstein geht in seiner leicht lesbaren Analyse des kapitalistischen Weltsystems auf die darin innewohnende Polarisierung einschließlich des dazugehörigen Rassismus ein. In einem Kapitel behandelt der Yale-Professor vor dem Hintergrund der Haider-Debatte in Österreich sogar recht ausführlich die innerhalb der EU anhaltende Diskussion um Fremdenfeindlichkeit, Integration von Einwanderern usw. In einem anderen Kapitel setzt er sich kritisch mit den geschichtlichen Beziehungen des industrialisierten Westens zu den islamischen Ländern auseinander. In der Debatte um Weltlichkeit gegen Fundamentalismus islamischer Prägung sieht er einen Trugschluß, der die Suche nach gesellschaftlichen Problemlösungen lediglich erschwert. Er verurteilt das Aufbauschen des Islams zum neuen Feindbild des Westens und stellt angesichts des Scheiterns des Panarabismus à la Nasser nüchtern fest:

In diesem Sinne haben die Islamisten vollkommen Recht, wenn sie sagen, wir müssten unser Verständnis davon, welche Probleme das existierende historische System spalten und welche historischen Möglichkeiten für ein neu aufgebautes Weltsystem existieren, überdenken. (S. 112)

Wallerstein tritt entschieden für eine Abschaffung des Profitstrebens und eines Wirtschaftsmodells ein, das alles und jeden zur Ware macht. Ihm schwebt eine Gesellschaft vor, die weniger von Hierarchien und Zentralismus geprägt ist, in der größere Gleichheit herrscht und der Einzelne ein größeres Mitspracherecht hat. Für Wallerstein sind die Chancen, eine solche Gesellschaft zu errichten, wegen der angebrochenen Krise im Weltsystem gestiegen - was nur gelingen kann, wenn sich genügend Menschen im Rahmen der "antisystemischen Bewegungen" dafür einsetzen. Doch gleichzeitig steht zu befürchten, daß die alteingesessenen Eliten aus der ausgebrochenen "großen Konfusion" als Sieger hervorgehen werden. Für den allergrößten Teil der Menschheit würde dies Ausbeutung, Unterdrückung und Vernichtung bedeuten. Vor diesem Hintergrund kann man Wallerstein nur Recht geben, wenn er sagt: "Das Ergebnis des Kampfes ist vollkommen ungewiß. Aber in Übergangszeiten steht niemandem der Luxus zu, unbeteiligter Zuschauer zu sein." (S. 171)

8. Februar 2005


Immanuel Wallerstein
Absturz oder Sinkflug des Adlers
Der Niedergang der amerikanischen Macht
Aus dem Englischen von Britta Dutke
Originaltitel "The Decline of American Power -
The U.S. in a Chaotic World"
VSA-Verlag, Hamburg 2004
274 Seiten
ISBN 3-89965-057-3