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REZENSION/283: Wallerstein - Das moderne Weltsystem III (Soziologie) (SB)


Immanuel Wallerstein


Das moderne Weltsystem III - Die große Expansion

Die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert



Im Mittelpunkt des dritten und vorläufig letzten Bands von Immanuel Wallersteins Meisterwerk über das "moderne Weltsystem" stehen drei epochale Ereignisse: die Industrielle Revolution, der Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Staaten von Amerika und die Französische Revolution. Gleichzeitig behandelt Wallerstein als viertes großes Thema die "Inkorporierung ausgedehnter neuer Gebiete in die Weltwirtschaft". Gemeint sind in erster Linie Indien, das Osmanische Reich, Rußland und Westafrika, aber auch Mittel- und Südamerika. Die Bedeutung, welche Wallerstein diesem zu Lasten der betroffenen Regionen verlaufenden Integrationsvorgang beimißt, hängt mit seiner grundlegenden Konzeption eines letztlich auf der Basis von militärischer Gewalt und technologischer Innovation in Zentrum, Peripherie, Semiperipherie und Außenarena unterteilten, kapitalistischen Weltsystems zusammen.

Was die industrielle Revolution Großbritanniens betrifft, stellt Wallerstein viele, wenn nicht sogar alle Annahmen zu diesem Phänomen, die sich im Laufe der letzten rund 150 Jahre angesammelt haben, in Frage. Wie man bereits im zweiten Band erfahren hat, hält der Yale- Professor die damaligen technologischen und sozialen Umwälzungen in England und Schottland weder für besonders bahnbrechend, noch für einmalig. Er spricht dagegen lieber von einer Innovationswelle, die zwischen 1650 und 1850 viele Länder, jedoch besonders die des Zentrums - Frankreich, Großbritannien und die Niederlande - sowie der Semiperipherie - Deutschland, Schweden, Spanien u. a. - erfaßt hat. Unter Verweis auf das einst weit verbreitete Verlagssystem, das sich weniger auf Dampftechnologie als vielmehr auf gnadenlose Heimarbeit stützte, bemängelt Wallerstein die historische Unschärfe unserer Sicht von der damaligen Zeit:

Ein Paradebeispiel für diese Unschärfe ist der Gemeinplatz, wonach die industrielle Revolution in Großbritannien des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts insofern revolutionär war, als sie die Fabrik als bestimmenden Rahmen der industriellen Arbeitsorganisation etablierte. Dieser Vorstellung stehen jedoch zwei Beobachtungen gegenüber: Einerseits hatte es bereits davor Fabriken (im Sinn der räumlichen Konzentrierung mehrerer von einem Unternehmen entlohnter Arbeiter) gegeben. Andererseits wird das Ausmaß, in dem sich das Fabriksystem ausgebreitet hatte, selbst im Fall Großbritanniens immer wieder überschätzt. (S. 44)

Für Wallerstein sind es weniger die technologischen Erneuerungen wie James Watts Dampfmaschine, als vielmehr die weltwirtschaftliche Hegemonialrolle Großbritanniens im 19. Jahrhundert, welche die gängige Vorstellung vom "britischen Sonderweg" wesentlich begründet haben. Den Startschuß für den Aufstieg Großbritanniens zum wichtigsten Staat des Zentrums siedelt Wallerstein bei dessen Sieg im Siebenjährigen Krieg über Frankreich (1756 bis 1763) an, der den Menschen heutzutage in erster Linie dank Daniel Defoes berühmten Romans "Der letzte Mohikaner" ein Begriff ist. Diese Niederlage hat das Ende von rund zwei Jahrhunderten französischer Kolonisierungsbemühungen in Nordamerika eingeleitet und sollte gleichzeitig einen zunächst nicht erwarteten Nebeneffekt haben. Die Bewohner der 13 britischen Kolonien zwischen dem St.-Lorenz-Strom und Florida wurden aufmüpfiger, wehrten sich gegen die Zwänge der merkantilistischen Politik Londons und erstritten sich schließlich die Unabhängigkeit. Recht ausführlich schildert Wallerstein unter anderem unter Verweis auf die Erkenntnisse des 1948 verstorbenen, amerikanischen Meisterhistorikers Charles Beard die Beweggründe der verschiedenen Siedlergruppen, die weitaus materialistischer - z. B. die Gier nach Indianerland im Westen und die Angst vor Ausbeutung und wirtschaftlicher Unterdrückung durch die Mutternation - und weniger idealistischer Natur waren, als es einem die hehren Erklärungen George Washingtons, Benjamin Franklins und Thomas Jeffersons suggerieren.

Wie berechtigt jedoch die Ängste der nordamerikanischen Siedler davor waren, langfristig auf der Stufe eines Rohstofflieferanten in tiefer Abhängigkeit gehalten zu werden, zeigt die von Wallerstein in großer Ausführlichkeit behandelte Inkorporierung anderer Weltregionen, allen voran Indien, durch die Zentrumsmächte des Kapitals. Tatsächlich hatten die Untertanen des Mogulenreichs vor dem Auftauchen der East India Company und der Red Coats einen höheren Lebensmittelverbrauch und -standard als der gemeine Brite. Darüber hinaus war Indien seit Jahrhunderten der weltweit wichtigste Textilexporteur und stand am Ende des 18. Jahrhunderts an der Schwelle seiner eigenen industriellen Revolution. Nach dem Einfall der Briten wurde Indien durch deren waffentechnologische Überlegenheit, der Kooperationswilligkeit seiner Eliten, die zu Plantagenbesitzern avancierten, sowie die Schuldknechtschaft seiner Bauern als ernstzunehmender Wirtschaftkonkurrent ausgeschaltet und zur billigen Bezugsquelle für Baumwolle, Indigo, Opium und Seide degradiert. Das Aufblühen der Baumwoll- wie auch der Stahlindustrie Großbritanniens konnte nur durch die Unterwerfung Indiens erreicht werden. Diesen Umstand, den Wallerstein als eine "bewußte Deindustrialisierung" bezeichnet und der im 19. Jahrhundert auf dem Subkontinent schwere Hungersnöte mit Abermillionen von Todesopfern nach sich ziehen sollte, überwindet Indien erst heute, rund 200 Jahre danach.

Doch auch das Osmanische Reich, Rußland und Westafrika sollten schwer unter den Folgen ihrer Assimilierung an das kapitalistische Weltsystem zu leiden haben. Aufgezwungene, einseitige Handelsverträge der Hohen Pforte mit London machten den gewerblichen Unternehmen in Anatolien, der Levante und Ägypten - vornehmlich im Textilbereich - den Garaus, wie der selbstzufriedene, von Wallerstein zitierte Spruch eines britischen Ökonomen aus dem Jahr 1862 belegt: "Die Türkei ist kein Land mit verarbeitender Produktion mehr." Noch schlimmer kam es in Westafrika, das erst durch den Sklavenhandel ausblutete und wo ab dem frühen 19. Jahrhundert das einheimische "Schmiedehandwerk und die dortige Eisenverhüttung durch die billigen europäischen Importe 'zugrunde gerichtet'" wurden. Einzig Rußland konnte sich dieser verheerenden Entwicklung halbwegs entgegenstemmen:

Trotz des einschneidenden Rückgangs bei den Exporten ihres industriellen Hauptprodukts, Roheisen, waren die Russen dennoch imstande, mit Hilfe einer Kombination aus hohen Schutzzöllen, die nach den 1830er Jahren verhängt wurden, und einem gewissen Technologieimport den Binnenmarkt für ihre Textilprodukte zu erhalten. Darüber hinaus vermochten sie auch eine Rübenzucker- Industrie aufzubauen. Zu dieser (wenn auch in ihrer Wirkungsmacht eingeschränkten) Fähigkeit, der völligen Deindustrialisierung zu widerstehen, trug die weiterhin relativ große Stärke der russischen Armee nicht unwesentlich bei - was wiederum teilweise erklären kann, warum Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Lage war, in der Weltwirtschaft eine andere Rolle zu spielen als Indien oder die Türkei. (S. 218)

Laut Wallerstein hat auch das, was die USA seit den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 den "globalen Antiterrorkrieg" nennen, seine Ursprünge in der "Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert". Zur "Auferstehung der islamischen Bewegungen" beziehungsweise "Wiederbelebung der Sufi- Bruderschaften" schreibt er:

Diese trug sich im späten 18. Jahrhundert in der gesamten islamischen Welt zu und stand zweifellos im Zusammenhang mit dem Bedrohungsgefühl, das im Zuge der (christlich-)europäischen Expansion und des Niedergangs der drei größten islamischen politischen Gebilde jener Zeit - die Reiche der Großmogulen, der Safawiden und der Osmanen - aufgekommen war. Im westafrikanischen Hinterland schuf die fortwährende Zerrüttung durch den transatlantischen Sklavenhandel ohne Zweifel einen weiteren Nährboden für dieses Unbehagen. (S. 245)

Kehren wir doch zum Siebenjährigen Krieg zurück, der für beide Beteiligten schwere finanzielle Belastungen mit sich bringen sollte. Der Staat Großbritannien konnte den daraus entstandenen Verpflichtungen gegenüber seinen Gläubigern in London und Amsterdam nicht zuletzt dank der Ausplünderung Indiens nachkommen und entging dadurch dem Bankrott. Frankreich dagegen geriet in eine schwere Finanzkrise, die, verstärkt durch Einbrüche im Außenhandel und mehrere Jahre schlechter Ernten, in die Revolution von 1789 mit dem Sturz der Monarchie und der Ausrufung der Republik münden sollte. In großer Ausführlichkeit geht Wallerstein auf die wichtigsten, in den letzten 200 Jahren gewonnenen Forschungsergebnisse von Historikern wie Albert Soboul über dieses Monumentalereignis ein sowie der Frage nach den tatsächlichen Motiven und Zielen unter anderem der Sansculotten, der Jakobiner und der angeblich reaktionären Aufständischen in der Vendée nach.

Zusammengenommen sieht der 1930 geborene Wallerstein sowohl die Revolution als auch die Regentschaft von Napoleon Bonaparte als Reaktion auf die wirtschaftliche Hegemonialrolle Großbritanniens im Weltsystem an, welche zu akzeptieren man in Frankreich partout nicht gewillt gewesen ist. Den größten Fehler in den nach ihm benannten Kriegen soll der korsische Machtmensch nach eigenen Angaben nicht mit dem Rußlandfeldzug, sondern mit der Entscheidung zur Eroberung Ägyptens statt Irlands gemacht haben. Inspiriert von den erfolgreichen Unabhängigkeitsbestrebungen der nordamerikanischen Siedler und der Revolution in Frankreich, sehnten sich am Ende des 18. Jahrhunderts die Iren aller Konfessionen nach einer Republik und einem Schlußstrich unter der britischen Vormundschaft. In diesem Zusammenhang erwähnt Wallerstein die Tatsache, daß der Revolutionsrat in Paris 1796 auf Drängen Wolfe Tones, des Anführers der United Irishmen, 35 Schiffe mit 12.000 Soldaten nach Irland schickte, sie jedoch wegen schwerer Atlantikstürme nicht wie geplant in Bantry Bay im Südwesten der Insel an Land setzen konnte. Wäre die Landung dieser großen französischen Streitmacht gelungen, so die einhellige Meinung der Historiker, hätten sich die zahlenmäßig unterlegenen britischen Garnisonstruppen nicht lange halten können.

Als es 1798 doch noch zum Aufstand der Vereinigten Iren kam, wurde dieser von Londons Vizekönig in Dublin, General Charles Cornwallis, der sich rund zwanzig Jahre zuvor als Oberbefehlshaber der britischen Truppen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg blamiert hatte, mit dem Ergebnis von rund 30.000 Toten blutig niedergeschlagen. Während Wallerstein zurecht von einem "tragischen Ende" der irischen Revolutionsperspektive und einem "Wendepunkt" für das Weltsystem hin zur bis heute währenden Dominanz der sogenannten Anglosphäre spricht und dabei Napoleons Fehlentscheidung hinsichtlich eines zweiten Landungsversuchs erwähnt, muß korrigierend festgehalten werden, daß die Franzosen 1798 immerhin mit 1098 Offizieren und Soldaten unter General Joseph Humbert in der westirischen Killala Bay landeten. Infolge der leider viel zu schwachen französischen Expedition kam es in der Grafschaft Mayo zum Volksaufstand. Doch zu jenem Zeitpunkt waren die United Irishmen an der Ostküste in ihren Hochburgen Belfast, Dublin und Wexford faktisch bereits zerschlagen. Nach nur kurzer Zeit und wenigen Scharmützeln mußten sich Humbert und seine Männer der britischen Übermacht ergeben, während ihre irischen Streitgefährten von Cornwallis' Truppen als aufrührerisches Bauerngesindel niedergemetzelt wurden.

Für Wallerstein sind es zuallererst die nicht zu bestreitenden, antikapitalistischen und damit emanzipatorischen Aspekte, welche die aus menschheitsgeschichtlicher Perspektive unermeßliche Bedeutung der Französischen Revolution ausmachen. Für das soziale Vermächtnis der Revolution spricht zum Beispiel die von Wallerstein angeführte Tatsache, daß es den französischen Arbeitnehmern zu Anfang des 19. Jahrhunderts, was Löhne und Lebensmittelversorgung betrifft, trotz der Niederlage von Waterloo und der daraus resultierenden Festigung der Herrschaft Londons über den Zugang zu den außereuropäischen Märkten besser als ihren britischen Kollegen ging. Bis heute hat der Ruf nach "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" seine Wirkung nicht verloren, auch wenn gegensätzliche Tendenzen - siehe die am 3. September dieses Jahres in einer öffentlichen Rede erteilte Absage des derzeitigen französischen Innenministers, neoliberalen Scharfmachers und Möchtegern-Präsidenten Nicholas Sarkozy an das Ziel eines gesellschaftlichen Ausgleichs - Hochkonjunktur zu haben scheinen. "Alle wesentlichen, politischen Ereignisse haben langfristige Ursachen, auch wenn diese im Nachhinein oft leichter feststellbar sind als zur Zeit des jeweiligen historischen Ereignisses" stellt Wallerstein auf Seite 279 zurecht fest. Um so mehr ein Grund, sich mit diesen langfristigen Ursachen auseinanderzusetzen, wozu das vorliegende Buch - zusammen mit den ersten beiden Bänden - den idealen Einstieg bietet.

5. Oktober 2005


Immanuel Wallerstein
Das moderne Weltsystem III. Die große Expansion:
Die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert
Aus dem Englischen von David Mayer
Originaltitel: "The Modern World System III. The Second Era of Great
Expansion of the Capitalist World-Economy"
Promedia Verlag, Wien 2004
595 Seiten
ISBN 3-85371-223-1