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REZENSION/290: Mike Davis - Vogelgrippe (Gesellschaft und Epidemien) (SB)


Mike Davis


Vogelgrippe

Zur Gesellschaftlichen Produktion von Epidemien



Gegenwärtig vergeht kein Tag, an dem die Medien nicht über die Ausbreitung der Vogelgrippe berichteten. Hühner in Vietnam und Indonesien, Truthähne in Griechenland, Gänse in China, ein Papagei in Großbritannien - die Vogelgrippe grassiert, und sie grassiert global. Das tut sie eigentlich jedes Jahr, neu ist dagegen die mediale Aufmerksamkeit, die das Thema inzwischen erlangt hat. Gibt es also einen Grund, warum ausgerechnet jetzt so viel Aufhebens um die Ausbreitung einer Jahr für Jahr wiederkehrenden Krankheit gemacht wird, von der nur wenige Menschen, aber zig Millionen Vögel betroffen sind?

Für Mike Davis, den Autor des vorliegenden Buchs "Vogelgrippe", gibt es einen triftigen Grund. Seiner Meinung nach wird sogar noch viel zu wenig gegen die Gefahr durch die Vogelgrippe unternommen. Dem medizinisch-administrativen Mainstream folgend vertritt er die Ansicht, daß die Welt kurz vor dem Ausbruch einer verheerenden Seuche steht, einer Pandemie, gegenüber der die Spanische Grippe aus den Jahren 1918/19 mit ihren weltweit schätzungsweise 50 Millionen Opfern ein harmloses Vorgeplänkel war. Die meisten Wissenschaftler seien sich darin einig, daß die Pandemie nicht etwa unmittelbar bevorstehe, schreibt der Autor, sondern daß sie bereits Verspätung habe. Der Originaltitel seines Buchs, "The Monster at our Door: The Global Threat of Avian Flu", stellt den Aspekt der Warnung deutlicher heraus als der deutsche Titel.

Seinen Standpunkt trägt der "marxistische Historiker", so die vom Verlag vorgeschalteten bibliographischen Angaben, durch die dreizehn Kapitel des 168 Seiten umfassenden Buchs konsequent durch. Beispielsweise kreidet er der US-Regierung an, sie unternehme so gut wie nichts, um die eigene Bevölkerung vor der Gefahr der Vogelgrippe zu schützen, und er legt den Finger tief in die Wunde kapitalistischen Profitstrebens, das zur Verharmlosung und sogar Vertuschung des auch für den Menschen tödlich gefährlichen aviären Influenzatyps H5N1 in China, Thailand und anderen asiatischen Staaten geführt hat.

Diese gesellschaftskritische Sichtweise, mit der der Stadtökologe Davis das tier- und humanmedizinische Thema bearbeitet, ist sicherlich eine der großen Stärken des Buchs und führt zu einer plausiblen Schlußfolgerung: Sollte es zu der befürchteten Vogelgrippe- Pandemie kommen, böten die im kapitalistischen Wirtschaftssystem beschworenen Marktkräfte keinen ausreichenden Schutz für die Mehrheit der Menschen, weder für die Bevölkerung in den sogenannten Entwicklungsländern noch für die unteren gesellschaftlichen Schichten in den Industriestaaten.

Nachdem Davis im ersten Kapitel einige virologische und epidemiologische Grundlagen zur Vogelgrippe erläutert hat, belegt er im weiteren Verlauf des Buchs seine gesellschaftskritische These durch Beispiele vor allem aus der jüngeren Geschichte der Vogelgrippeverbreitung, die 1997 in Hongkong begann. Er läßt namhafte Experten der Weltgesundheitsorganisation WHO, der Centers for Desease Control (CDC) in den USA und der verschiedensten Forschungsinstitute des westlichen und östlichen Kulturkreises zu Wort kommen, so daß der Leser unmißverständlich über die Brisanz des Themas Vogelgrippe aufgeklärt wird. Aktuelle Ereignisse, wie die Sitzung internationaler Fachleute bei der WHO in Genf in der zweiten Novemberwoche 2005 bestätigen die eindringlichen Warnungen des Autors, der in seinem Vorwort zur Ausbreitung der Seuche schreibt:

Der springende Punkt der Bedrohung durch die Vogelgrippe ist, wie wir sehen werden, dass eine Influenzamutation albtraumhafter Virulenz - die sich in vom globalen Agrokapitalismus geschaffenen Nischen ausgebildet hat und sich dort verschanzt - derzeit dabei ist, sich ein oder zwei neue Gene zu suchen, die es ihr möglich machen, in pandemischer Geschwindigkeit durch dicht besiedelte Städte mit zumeist armer Bevölkerung zu ziehen. Ein Schicksal, das weitgehend von uns provoziert worden ist: Von Menschen verursachte ökologische Schocks wie Ferntourismus, Zerstörung von Feuchtgebieten, industrielle "Revolution der Massentierhaltung" und Verstädterung der Dritten Welt sowie das damit einhergehende Entstehen von Megaslums sind dafür verantwortlich, dass die außergewöhnliche Mutationsfähigkeit der Influenza dabei ist, sich zu einer der gefährlichsten biologischen Kräfte auf unserem belagerten Planeten zu entwickeln. (S. 13)

Die Verknüpfung von globalem Agrokapitalismus, Ferntourismus und Megaslums als begünstigende Faktoren für eine Vogelgrippe-Pandemie wirkt zwar auf den ersten Blick plausibel, ist aber spekulativ. Die meisten Vogelgrippe-Ausbrüche der letzten acht Jahre traten nicht in Megaslums auf, sondern in Dörfern, teils sogar sehr entlegenen. Das schließt nicht aus, daß es eines Tages auch einen Megaslum erwischen kann und daß sich das Virus dort dann rasend schnell ausbreitet, aber solange das eine bloße Vermutung ist, sollte sie auch deutlich als solche gekennzeichnet werden. Daran hält sich Davis nicht, wenn er behauptet, daß sich das Virus derzeit "verschanzt" und dabei ist, "sich ein oder zwei Gene zu suchen", um in "pandemischer Geschwindigkeit durch dicht besiedelte Städte mit zumeist armer Bevölkerung" zu ziehen. Davis entwirft hier ein theoretisches Bedrohungsszenario, das eintreten kann, aber nicht unbedingt eintreten wird, und schon gar nicht zwingend in der von ihm beschriebenen Art und Weise.

Der Vogelgrippe-Subtyp mit der Kennzeichnung H5N1 kann zwar auf den Menschen überspringen, und er hat auch schon mehr als 60 Opfer gefordert, aber bislang wird erst bei zwei Fällen vermutet, daß die allseits gefürchtete Mensch-zu-Mensch-Übertragung stattfand. So tragisch und unannehmbar jeder einzelne Todesfall auch ist, verglichen beispielsweise mit Erregern, die Aids, Tuberkulose, Malaria oder Meningitis auslösen, ist das Vogelgrippe auslösende Virus bislang harmlos - wohlgemerkt, für den Menschen, nicht für Hühner und andere Vögel, die seit 1997 tatsächlich in pandemischer Zahl vom Virus dahingerafft oder vom Menschen abgeschlachtet wurden. Und wer behauptet, daß H5N1 im Begriff ist, sich per Tröpfcheninfektion auszubreiten, muß sich der Frage stellen, warum er die gleiche Befürchtung nicht auch hinsichtlich des extrem mutationsfreudigen Aids-Virus hegt. Dieser Erreger steht nicht im Begriff, sich pandemisch auszubreiten, er hat es längst getan. Und auch er braucht theoretisch "nur ein, zwei Gene", um ohne Körperkontakt von Mensch zu Mensch übertragen zu werden.

Wie man es von Mike Davis erwarten kann, der unter anderem mit den Büchern "City of Quarz, Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles" und "Die Geburt der Dritten Welt, Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter" selbst von politisch Andersdenkenden höchste Anerkennung fand, liest sich auch sein jüngstes Werk sehr flott. Der Autor spielt seine unbestrittene Professionalität aus und zeigt, daß er zahlreiche Informationen zu bündeln und sinnfällig einzuordnen versteht (334 Fußnoten auf 150 Seiten Text sind dafür ein formaler Beleg). Dennoch erweckt das Buch den Eindruck, als habe Davis mit ihm, womöglich aus Aktualitätsgründen, einen Schnellschuß abgefeuert - und der Verlag Assoziation A steht ihm da hinsichtlich der gesamten, unabgeschlossen wirkenden Präsentation in nichts nach. Eben weil der Autor in früheren Büchern (oder seinem Aufsatz auf der Internetseite CounterPunch zur Katrina-Katastrophe von New Orleans) trefflich bewiesen hat, daß er seinen gesellschaftskritischen, mitunter antiimperialistischen Standpunkt sehr wohl zu begründen versteht, hätte es ihm am Beispiel Vogelgrippe gut zu Gesicht gestanden, wenn er nicht bei der Analyse der gesellschaftlichen Produktion von Epidemien stehen geblieben wäre, sondern auch das ein oder andere Wort über die gesellschaftliche Funktion von Epidemien verloren hätte.

Die Funktion der Epidemien besteht in der räumlichen Ausgrenzung einer Bevölkerungsgruppe, die infiziert ist oder ihr aus ordnungstechnischen Gründen zugeordnet wird. Darauf deutet bereits die Herkunft des Begriffs Epidemie, der aus dem Griechischen stammt und sich aus "epi" (auf, darüber, über, hinzu) und "demos" (Gebiet, Volk) zusammensetzt. Gemeint ist somit ein bestimmtes, hinter einer Grenze liegendes Gebiet oder eine "dort hinten" lebende Volksgruppe. Der Ausgrenzungscharakter wird in der von US-Präsident Bush am 1. November 2005 vorgestellten 396 Seiten umfassende "National Strategy for Pandemic Influenza" deutlich. Darin wird unter dem Vorwand der künftigen Vogelgrippe-Eindämmung vorgeschlagen, die verfassungsmäßigen Beschränkungen außer Kraft zu setzen und das Militär im Landesinnern gegen die Bevölkerung auffahren zu lassen, damit es "sanitäre Kordone" um ganze Städte und Regionen zieht und sie mit Waffengewalt gegen jeden Versuch des Ausbruchs oder Eindringens verteidigt.

Diese Maßnahmen dienen nicht dazu, den Betroffenen zu helfen, sondern die Unbetroffenen zu schützen. Die ausgegrenzten Bevölkerungsteile werden in letzter Konsequenz der Vernichtung überantwortet. Das ist die eigentliche gesellschaftliche Funktion von Epidemien. Davis, der die moderne Agroindustrie anprangert, in der es zur massenhaften Vernichtung von Geflügel komme, und der Bush- Administration vorwirft, durch Sorglosigkeit die Vernichtung von Teilen der eigenen Bevölkerung zu riskieren, hatte in seinem Buch "Die Geburt der Dritten Welt" auf die "Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter" aufmerksam gemacht. Diesen politischen Ansatz und Faden hätte er am Beispiel der Epidemie aufgreifen und weiterspinnen können, um nicht den administrativen Epidemologen der US-Regierung Schützenhilfe zu leisten, wenn er deren Forderung nach schärferen bevölkerungspolitischen Zwangsmaßnahmen kolportiert.

Einige zentrale Forderungen Davis' an die US-Regierung wurden von dieser inzwischen erfüllt - damit sind wichtige Kritikpunkte des Autors, beispielsweise daß die US-Regierung es versäumt habe, sicherheitshalber Bestände an Tamiflu - dem wichtigsten und wirksamsten Medikament gegen H5N1 - anzulegen oder Vietnam Geld zum Aufbau von Schutzeinrichtungen zu geben, entkräftet. Mit seinen Forderungen nach einem "globalen Netzwerk von Schutzmaßnahmen gegen die bevorstehende Pandemie" und der "Intensivierung der Impfstoffentwicklung und der Virostatikabevorratung" (S. 149) rennt Davis bei Regierungen und globaladministrativen Institutionen offene Türen ein - und der Neocon Donald Rumsfeld, seines Zeichens US- Verteidigungsminister und Großaktionär des Pharmaunternehmens Gilead, das die Lizenzrechte für Tamiflu besitzt, kann sich bei dem marxistischen Historiker Mike Davis bedanken.

Dennoch, ein Buch, das sich von einem gesellschaftskritischen Ansatz her dem Thema Vogelgrippe nähert, bürstet von vornherein genügend gegen den Strich, daß es allemal lesenswert ist. "Vogelgrippe" ist nicht der Schlußpunkt einer nonkonformen Auseinandersetzung mit dem Thema, es kann aber ihr Anfang sein.

10. November 2005


Mike Davis
Vogelgrippe
Zur Gesellschaftlichen Produktion von Epidemien
Assoziation A, Berlin, Hamburg, Oktober 2005
ISBN 3-935936-42-7