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REZENSION/292: Johannes Kandel - Der Nordirland-Konflikt (SB)


Johannes Kandel


Der Nordirland-Konflikt

Von seinen historischen Wurzeln bis zur Gegenwart



Nach der offiziellen Einstellung aller Aktivitäten der Irisch- Republikanischen Armee (IRA) am 28. Juli und der Bekanntgabe vom 26. September, daß die Guerilla unter Aufsicht der von Dublin und London eingesetzten Internationalen Entwaffnungskommission ihr umfangreiches Waffenarsenal vollständig "außer Dienst" gestellt hat, scheint das Ende der sogenannten "Troubles" in Nordirland, die mehr als 3700 Menschen das Leben gekostet und fast 50.000 Verletzte gefordert haben, eingeläutet worden zu sein. Ob damit der Streit um den völkerrechtlichen Status Nordirlands - die mehrheitlich probritisch eingestellten Protestanten, deren Parteien sich unionistisch und deren Paramilitärs sich loyalistisch nennen, befürworten den weiteren Bund mit Großbritannien, während sich die mehrheitlich nationalistisch eingestellten Katholiken die Vereinigung mit der Republik Irland wünschen - endgültig die gewalttätige Phase hinter sich gelassen hat und künftig nur noch mit politisch-demokratischen Mitteln ausgetragen wird, muß sich noch zeigen. Die schweren, tagelangen Ausschreitungen, die Mitte September nach der von der Polizei angeordneten Umleitung eines Marsches des Oranierordens in Belfast aufflammten und die sich rasch auf die ganze Provinz ausweiteten, lassen Skepsis aufkommen.

Für die meisten Deutschen ist der jahrzehntelange Bürgerkrieg in Nordirland weitestgehend unverständlich geblieben, und zwar aus leicht nachvollziehbaren Gründen. Nach zwei verheerenden, verlorenen Weltkriegen im 20. Jahrhundert fiel es den Menschen hierzulande schwer, sich in die Lage zweier Streitparteien zu versetzen, deren politischer Horizont nicht über den der Konfessionskriege des 17. Jahrhunderts hinausgekommen zu sein schien. Andererseits hätten die Deutschen allemal Grund gehabt, sich mit dem Konflikt in Nordirland zu befassen. Schließlich hatte in der ersten Hälfte 1914, sozusagen am Vorabend des Ersten Weltkrieges, das Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm II. durch umfangreiche Waffenlieferungen sowohl an die Unionisten im Norden als auch an die Nationalisten im Süden der grünen Insel - die "gun runnings" von Larne und Howth - die damals schwere Staatskrise um das Verhältnis Irlands zu Großbritannien zusätzlich angeheizt und diesem Streit im sprichwörtlichen Sinne einen nicht geringen Teil der Sprengkraft verliehen, die er bis heute behalten hat.

Ein weiterer historischer Beleg der Verwicklung Deutschlands in die moderne Geschichte Irlands ist der in der beim Osteraufstand in Dublin 1916 verkündeten Unabhängkeitserklärung enthaltene, ausdrückliche Hinweis auf die "gallant allies in Europe". Dieser Passus zusammen mit dem mißlungenen Versuch der kaiserlichen Marine, dem nationalistischen Aufstand im Vorfeld durch die Anlandung von 20.000 Gewehren, zehn Maschinengewehren und fünf Millionen Schuß Munition doch noch zum militärischen Erfolg zu verhelfen, war es, weshalb damals die britische Militärführung in Dublin die Unterzeichner der irischen Unabhängigkeitserklärung als "Staatsverräter" und Handlanger Berlins hinrichten ließ.

Entgegen landläufigen Vorstellungen ist es also nicht allein der britische Imperialismus, der sich auf das Schicksal Irlands ausgewirkt hat, sondern auch der Spaniens im 16. und 17. Jahrhundert, Frankreichs im 18., wie erwähnt Deutschlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in jüngerer Zeit Amerikas. Das starke Engagement der Vereinigten Staaten für den sogenannten nordirischen Friedensprozeß im allgemeinen, die energischen, letztlich erfolgreichen Bemühungen der Regierung Bill Clintons um den historischen Friedensabschluß von 1998 mit Namen Karfreitagsabkommen im besonderen gehen nicht nur auf den Einfluß der irisch-amerikanischen Lobby bei den Demokraten in Washington, sondern auch auf die Tatsache zurück, daß sich seit den siebziger Jahren eine Vielzahl von transnationalen US-Konzernen in der Republik Irland niedergelassen hat und sich ein stabiles Umfeld für ihre Handels- und Produktionsaktivitäten innerhalb der Europäischen Union wünscht. Die hauptsächlich von den Nationalisten in Nordirland und den Menschen in der Republik begrüßte Einmischung Washingtons in die angloirischen Angelegenheiten hatte auch ihren Preis, wie man anhand der Verwendung des an der Atlantikküste liegenden, internationalen Flughafens Shannon für allerlei Transportflüge des US-Militärs - und vermutlich auch für Folterflüge der CIA - im Rahmen des sogenannten globalen "Antiterrorkrieges", welche die traditionelle, außenpolitische Neutralität Dublins zur völligen Makulatur verkommen lassen, unschwer erkennen kann.

Über all dies und mehr referiert gekonnt Dr. phil. Johannes Kandel im vorliegenden, höchst aufschlußreichen Buch, welches laut Dietz-Verlag im deutschsprachigen Raum "die erste umfassende Darstellung und Analyse des blutigen Nordirland-Konfliktes von den Anfängen im 12. Jahrhundert bis zur Gegenwart" darstellt. Die Tatsache, daß Kandels Schwester mit einem nordirischen Protestanten verheiratet ist, hat dem 1950 geborenen Politologen und Leiter des Referats Berliner Akademiegespräche/Interkultureller Dialog der Akademie der Politischen Bildung an der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin einen unvergleichlichen Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse der Unruheprovinz verschafft. Im Vorwort erklärte Kandel den eigenen Ansatz so:

Einige Autoren im deutschsprachigen Raum, die von den siebziger bis in die neunziger Jahre über Nordirland publizierten, ergriffen mehr oder weniger klar politisch Partei für die republikanische Bewegung. Die protestantische, unionistische Position kommt in dieser Literatur sparsam vor und wenn, dann mit deutlich negativer Bewertung. ... Es ist meine Absicht, in diesem Buch beide Richtungen, Nationalisten und Unionisten, zu Wort kommen zu lassen, denn beide vertreten legitime Traditionen und Interessen.
(S. 13f.)

Auch wenn bei Kandel anzumerken ist, daß dieser von der Tendenz her der Position des Historikers Paul Bew von der Queen's University in Belfast näher steht als der des in Dublin ansässigen, ehemaligen Irish- Press-Chefredakteurs und Publizisten Tim Pat Coogan - um die vielleicht prominentesten Vertreter unionistischer respektive republikanischer Geschichtsschreibung zu nennen -, läßt sich anerkennend feststellen, wie umfassend er sich quasi als Außenseiter mit der verworrenen Lage in Nordirland und ihren geschichtlichen Ursprüngen befaßt hat. Im vorliegenden Buch werden nicht nur praktisch alle wichtigen Personen und Ereignisse behandelt und wird die komplette Bandbreite der bisherigen englischsprachigen Fachliteratur der letzten Jahrzehnte ausgewertet, sondern es fließen auch persönliche Eindrücke, Erlebnisse, Gespräche und Recherchen des Autors in den Text ein.

Im ersten, rund 100seitigen Kapitel widmet sich Kandel der Geschichte der britischen Involvierung in Irland von der Landung walisischer Söldner im Jahre 1169 unter dem normannischen Kriegsfürsten Richard "Strongbow" de Clare, über die Niederschlagung der alten gälischen Ordnung durch die Truppen von Königin Elizabeth I., die anschließende Ansiedlung treuer protestantischer englischer und schottischer Siedler im bis dahin rebellischen Norden der Insel, die Feldzüge des puritanischen Diktators Oliver Cromwell, den erfolgreichen, am irischen Fluß Boyne 1690 entschiedenen Kampf der Protestanten unter Wilhelm von Oranien gegen die Katholiken unter Jakob II. um die englische Krone, den gescheiterten Aufstand der nach amerikanischem und französischem Vorbild republikanisch gesinnten und konfessionsübergreifenden United Irishmen 1798, die Entstehung des katholisch geprägten, irischen Nationalismus und des protestantisch gefärbten Unionismus um den Oranierorden im 19. Jahrhundert, die Ulster-Krise von 1912 bis 1914, den Osteraufstand 1916, den irischen Unabhängigkeitskrieg und die Teilung der Insel in den Jahren 1919 bis 1921 und die konfrontative Parallelexistenz der beiden irischen Teilstaaten - des überwiegend katholischen, aus 26 Grafschaften bestehenden Südens und des mehrheitlich protestantischen, aus sechs Grafschaften bestehenden Nordens - bis zum Gewaltausbruch Ende der sechziger Jahre.

Darüber, warum es zu diesem Bürgerkrieg gekommen ist, streiten bis heute die Gelehrten. Fest steht, daß sich Nordirland damals in einer schwierigen politischen und wirtschaftlichen Umbruchssituation befand. Gleichzeitig mit dem Einsetzen einer schweren Strukturkrise ähnlich derjenigen in Nordengland und im Ruhrgebiet, die beispielsweise die traditionsreiche Belfaster Schiffsbauindustrie bedrohte, forderte die katholische Minderheit von etwas mehr als 30 Prozent der Bevölkerung das Ende diverser Diskriminierungsmaßnahmen wie beispielsweise des ungerechten Wahlrechtssystems, welches die unionistische Alleinherrschaft in der Provinz fast 50 Jahre lang befestigt hatte. Vor diesem Hintergrund empfanden Teile der protestantischen Bevölkerung, schon damals vom stimmgewaltigen, freipresbyterianischen Reverend Ian Paisley angeführt, die vorsichtigen Annäherungsversuche der Regierungen in Belfast und Dublin unter Terence O'Neill und Seán Lemass zusammen mit den Demonstrationen der hauptsächlich von Katholiken unterstützten, nordirischen Bürgerrechtsbewegung als Zeichen eines drohenden Ausverkaufs Ulsters an die Republik.

Wie die Situation damals völlig aus den Fugen geriet, schildert Kandel im zweiten Kapitel. Vor allem in den katholischen und protestantischen Arbeitervierteln kommt es in den Jahren 1968 und 1969 zu Gewaltausbrüchen und Vertreibungen von Familien der jeweils anderen Konfession. Auf beiden Seiten rüsten sich die Paramilitärs zum Kampf beziehungsweise zur Verteidigung ihrer Viertel. Wegen der Unfähigkeit der überwiegend protestantisch besetzten, nordirischen Sicherheitskräfte - die Royal Ulster Constabulary (RUC) und ihr paramilitärischer Arm, die "B Specials" -, die Lage wieder in den Griff zu bekommen, sieht sich die Regierung in London gezwungen, einzugreifen und reguläre Truppen in die Unruheprovinz zu schicken. So seltsam, wie es heute klingen mag, wurden diese in den belagerten katholischen Arbeitervierteln in Belfast und Derry zunächst als Retter in der Not begrüßt.

Doch es dauert nicht lange, bis die britischen Streitkräfte in der IRA den Hauptfeind und sich selbst auf Seiten der RUC und der protestantischen Paramilitärs im Kampf um den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich stehen sehen. Um die IRA-Bedrohung im Keim zu ersticken, beginnt man 1971 damit, Hunderte junger katholischer Männer ohne Gerichtsurteil zu internieren. Diese Maßnahme zusammen mit den Ereignissen vom Bloody Sunday, als Anfang 1972 in Derry britische Fallschirmjäger auf eine Bürgerrechtsdemonstration das Feuer eröffnen und mehrere Teilnehmer töten, läßt die Zahl der IRA-Rekruten sprunghaft ansteigen. Wegen der anhaltenden Gewaltwelle suspendiert London 1972, nach 50 Jahren, die nordirische Regierung und das Parlament in Belfast, übernimmt die Direktverwaltung und setzt ihr einen Nordirlandminister im Kabinettsrang vor.

In den Jahren 1972 bis 1974 gibt es trotz aller Gewaltexzesse verschiedene Kontakte zwischen allen Parteien - zwischen der IRA und der britischen Regierung, zwischen Dublin und London, zwischen den nationalistischen und unionistischen Parteien sowie sogar zwischen den loyalistischen und republikanischen Paramilitärs. Höhepunkt der Bemühungen um eine Beilegung des Konflikts stellt das Sunningdale- Abkommen vom Dezember 1973 dar. In dessen Folge wird am 1. Januar 1974 unter Teilnahme der jahrzehntelang alleine regierenden Official Unionist Party (OUP) und der gemäßigt-nationalistischen Social Democratic Labour Party (SDLP) die erste interkonfessionelle Regierung Nordirlands ins Leben gerufen. Diese wird jedoch nach nur wenigen Monaten im Amt von einem Generalstreik der protestantischen Arbeiterschaft im Mai 1974 zu Fall gebracht - was Kandel, wiewohl er recht präzise die Motive der Sunningdale-Gegner wiedergibt, völlig zurecht einen Pyrrhussieg nennt. Es folgen schwere Jahre des politischen Stillstands und des Blutvergießens auf allen Seiten. Die Hungerstreiks der IRA-Häftlinge im Jahr 1981 aus Protest gegen die Aberkennung ihres politischen Status durch die konservative Regierung Margaret Thatcher spitzen die Lage erneut zu. Gleichzeitig jedoch legt gerade der Sieg Bobby Sands', des Anführers der republikanischen Häftlinge im Hochsicherheitsgefängnis Maze, bei einer Nachwahl zum britischen Unterhaus wenige Wochen vor seinem Hungertod im Mai 1981 den Keim jener "Gewehr-und-Stimmzettel"-Strategie, die Sinn Féin, dem politischen Arm der IRA, den Weg zum Erfolg im nationalistischen Lager ebnet und die letztlich den sogenannten Friedensprozeß einleitet.

Im dritten und letzten Kapitel zeichnet Kandel die recht verschlungenen Wege nach, welche dieser Friedensprozeß seit seinen vorsichtigen Anfängen im Jahr 1988 mit den ersten Geheimgesprächen zwischen dem SDLP-Vorsitzenden John Hume und dem Sinn-Féin-Präsidenten Gerry Adams bis heute genommen hat. In den Jahren davor hat es sogar Geheimkontakte zwischen Adams und Vertretern der britischen Regierung sowie vertrauliche Gespräche zwischen ihm und dem führenden Loyalisten John McKeague gegeben. Bereits 1987 hatte die Ulster Political Research Group (UPRG), ein Sprachrohr der größten protestantischen Untergrundarmee, der Ulster Defence Association (UDA), ein politisches Manifest mit dem Titel "Common Sense" veröffentlicht, in dem sie für eine pluralistische Gesellschaft, eine Beendigung der protestantischen Belagerungsmentalität und eine Teilnahme der katholischen Minderheit an einer neuen Provinzregierung eintrat. Dazu schreibt Kandel anerkennend:

Das Papier war deshalb so bemerkenswert, weil es zum einen aus Kreisen stammte, die gemeinhin als hirnlose Killer aus der Arbeiterklasse abgetan wurden und zum anderen im Gegensatz zur unionistischen Defensiv- und Destruktionspolitik eine vernünftige und akzeptable Alternative zum AIA (Anglo-Irish Agreement von 1985 - Anm. d. Red.) zu formulieren versuchte.
(S. 305f.)

Seit die IRA im August 1994 den Waffenstillstand verkündet hat, wird recht erbittert über das konstitutionelle Arrangement für Nordirland gestritten. Mit dem Karfreitagsabkommen will man eine Lösung gefunden haben, mit der alle Seiten, wenn auch zähneknirschend, halbwegs friedlich leben können. Im Rahmen dieses Abkommens, das durch gleichzeitige Plebiszite beiderseits der inneririschen Grenze im Sommer 1998 demokratisch legitimiert worden ist, hat die Republik erstmals auf ihren verfassungsmäßigen Anspruch auf die sechs nordöstlichen Grafschaften verzichtet und statt dessen die politische Wiedervereinigung der Insel zum langfristigen Ziel erklärt, das nur mit der Zustimmung der Mehrheit der Bürger in Nordirland verwirklicht werden darf. Damit sollte für alle Zeiten die Angst der Unionisten vor einer feindlichen Übernahme Nordirlands durch den Süden gebannt werden. Dafür sollte die Kooperation zwischen der Exekutive in Dublin und der neuen Provinzregierung in Belfast institutionalisiert und die nationalistische Bevölkerung mit den politischen Organen des nördlichen Teilstaates versöhnt werden - unter anderem durch eine grundlegende Reform der Polizei, den Abbau der britischen Militärpräsenz und durch Plätze am Kabinettstisch.

Wegen des jahrelangen Streits um die paramilitärische Entwaffnung hat sich das Karfreitagsabkommen bislang nicht so in die Tat umsetzen lassen, wie man es sich ursprünglich erhofft hatte. Trotz mehrmaliger Versuche zur Bildung einer stabilen interkonfessionellen Regierung wird heute Nordirland immer noch von London aus direkt verwaltet. Der vielversprechende Nord-Süd-Rat ruht. Auf beiden Seiten der "sectarian divide" haben die gemäßigten Kräfte - die SDLP und die Ulster Unionist Party (Nachfolger der OUP) - Federn lassen müssen. Heute stellen die Democratic Unionists des scheinbar unverwüstlichen, inzwischen 79jährigen Ian Paisley die mit Abstand größte protestantische Partei dar, während auf katholischer Seite Sinn Féin die Nase deutlich vorn hat.

Nach den vereinbarten Richtlinien des Karfreitagsabkommens ergäben die aktuellen politischen Kräfteverhältnisse eine Provinzregierung mit Paisley als Erstem Minister und Gerry Adams als seinem Stellvertreter - eine Vorstellung, welche die meisten Beobachter für ziemlich abstrus, wenn nicht gar aberwitzig halten. Schließlich beschimpft Paisley Adams und dessen Vize Martin McGuinness seit Jahren als die "Terrorpaten von Sinn Féin/IRA". Doch wie Kandel richtigerweise feststellt, hat der DUP-Gründer bereits mit seinem ersten Besuch beim Dubliner Premierminister Bertie Ahern im September 2004 begonnen, "über seinen eigenen Schatten zu springen". Nach der in diesem Sommer offiziell erklärten Beendigung des bewaffneten Kampfes der IRA und der wie auch immer bewerkstelligten Beseitigung ihres Waffenarsenals kurz danach dürfte in den kommenden Monaten eher Paisleys Fähigkeit zum Pragmatismus als seine "pointierte Rhetorik" gefragt sein.

Mit dem "Nordirland-Konflikt" beleuchtet Johannes Kandel die wichtigsten Aspekte dieser historischen Dauerfehde am Rande Europas und regt zu allerlei konstruktiven Gedanken an. Doch leider weist das Buch ein schweres Manko auf, das nicht unerwähnt bleiben darf. Nirgendwo werden die Anschläge aufgeführt, die loyalistische Paramilitärs Anfang der siebziger Jahre in der Republik Irland verübt haben. Hierzu zählen vor allem die Bombenananschläge, die am 17. Mai 1974 in Dublin und Monaghan 33 Menschen töteten und mehr als zweihundert schwerverletzt zurückließen.

Diese Anschläge, für die bis heute niemand strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen worden ist, sind in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Sie fanden am fünften Tag des UWC-Generalstreiks gegen das Sunningdale-Abkommen statt und haben dessen Untergang praktisch besiegelt. Ihre Durchführung zeichnet sich durch einen hohen Organisationsgrad aus, den die loyalistischen Paramilitärs weder vorher noch nachher erreicht haben. Die drei Bomben in Dublin, obwohl in Autos in verschiedenen Teilen der Innenstadt deponiert, gingen ohne Vorwarnung zeitgleich hoch. Der Anschlag in der im Landesinnern liegenden, grenznahen Kleinstadt Monaghan ereignete sich zwei Stunden später zu einem Zeitpunkt, als die Täter von Dublin, auf der Straße nach Belfast fahrend, gerade den Kontrollpunkt an der Grenze zu Nordirland hätten erreichen müssen, weshalb man vermutet, daß es sich um eine koordinierte Aktion gehandelt hat, um die Polizei der Republik von dort abzuziehen. Auch wenn Kandel den aufgrund zahlreicher Hinweise begründeten Verdacht nicht teilt, wonach hinter diesen ungewöhnlichen Vorgängen das britische Militär steckte, bleibt völlig unbegreiflich, wie er in seinen ansonsten akribischen und um Ausgewogenheit bemühten Ausführungen den an menschlichem Leben verlustreichsten Tag des ganzen Nordirlandkonfliktes aussparen konnte.


Johannes Kandel
Der Nordirland-Konflikt
Von seinen historischen Wurzeln bis zur Gegenwart
Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn, 2005
528 Seiten, Euro 48,00
ISBN 3-8012-4153-X

2. Dezember 2005