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REZENSION/298: Fleischmann - Zu den Kältepolen der Erde (Forschung) (SB)


Klaus Fleischmann


Zu den Kältepolen der Erde

50 Jahre deutsche Polarforschung



Auch in der heutigen Zeit der fortschrittlichen Satellitenbeobachtung gibt es noch weiße Flecken auf der Landkarte. Die Betonung liegt auf "noch", denn sie schwinden. Die Rede ist von den eis- und schneebedeckten Polarregionen der Erde, die auf der physischen Karte weiß symbolisiert werden und im Zuge der allgemeinen Erderwärmung schrumpfen. Zudem werden sie von Wissenschaftlern immer genauer erforscht, was meist mit außerordentlichem Aufwand verbunden ist. Zwar stellt die Satellitentechnik den Polarforschern große Datenmengen zur Verfügung und ermöglicht ihnen bislang unerreichte Einblicke in das glaziologische, klimatische, biologische, geologische und meteorologische Geschehen in Arktis und Antarktis, aber die künstlichen Trabanten im Erdorbit können keine Wunder vollbringen - ohne die mühsame Handarbeit auf den frosterstarrten Eisschilden von Antarktis und Grönland, in der schneereichen Wetterküche von Spitzbergen oder an Deck eines Eisbrechers im stürmischen Randmeer des südlichen Kontinents bliebe Polarforschung unzureichend.

Das vorliegende Buch "Zu den Kältepolen der Erde" zeugt von diesem mühsamen Unterfangen. In zehn Kapiteln wird anhand der deutschen Polarforschung unter anderem geschildert, welchen Strapazen die Wissenschaftler dabei ausgesetzt waren. Beispielsweise in der russischen Antarktisstation Wostok. Bei sommerlich warmen Temperaturen von "nur" -38 Grad Celsius (im Winter bis zu -80 Grad!) in einer Höhe von 3488 Meter - der Luftdruck beträgt hier lediglich 620 mbar - verkommt jeder Atemzug zur Qual und die Bewältigung einer Strecke von 150 Metern zur sportlichen Höchstleistung, nach der der Atem fliegt, wie der ostdeutsche Wissenschaftler Manfred Schneider bei seinem Besuch der russischen Station feststellen mußte (S. 119). Welcher Leser denkt beim Stichwort Antarktisforschung schon daran, daß jeder Neuankömmling auf der Wostok-Station tage- bis wochenlang unter der Höhenkrankheit leidet?

Selbstverständlich liegen nicht alle Antarktisstationen in so großer Höhe, die deutsche Georg-von-Neumayer-Station beispielsweise wurde auf dem Schelfeis errichtet und befindet sich damit annähernd auf dem Niveau des Meeresspiegels. Dennoch ist Forschung auch dort mit großen Anstrengungen verbunden, und zwar sowohl physisch für die beteiligten Wissenschaftler als auch logistisch und damit finanziell für die an der Forschung interessierte Regierung. Gleiches gilt für die Grönland-Expeditionen, wie der Autor eindrücklich zu schildern weiß:

Hinter ihnen lagen fast vier Monate kräftezehrender Arbeit in eisiger Kälte bis -40 °Grad, bei schneidendem Wind, in dem außer Weiß nichts mehr zu erkennen war, und bei über der Weite des Eises gleißender Sonne, die die Luft über dem Boden flimmern ließ. 925 km hatten Hofmann und seine Kollegen von der Westküste bis "Cecilia Nunatak" im Osten vermessen, 79 Pegel gesetzt; an der Nord-Süd-Traverse waren auf einer Strecke von rund 100 km 36 Aluminium-Rohre ins Eis eingelassen worden. Im Gepäck hatten sie jetzt wertvolle Meßergebnisse, die zu Hause in mühevoller Kleinarbeit ausgewertet, verglichen, korrigiert, wieder verglichen und auf systematische Fehler hin überprüft werden mussten.
(S. 56)

Angesichts solcher Strapazen stellt sich dem Leser natürlich die Frage, warum überhaupt Polarforschung betrieben wird. Was will Deutschland in Arktis und Antarktis? Wozu ist Westdeutschland 1978 Mitglied des Antarktis-Vertrags geworden und warum unterhält es auch im Winter eine ständig besetzte Station auf dem südlichen Kontinent?

Antworten darauf finden sich in diesem detaillierten, reichhaltig bebilderten und aufwendig hergestellten Band, dessen Erstellung vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) aus Anlaß seines 25jährigen Bestehens in Auftrag gegeben wurde. Einer der Gründe für Polarforschung wurde eingangs bereits erwähnt: Das Klima der Erde wandelt sich, und die polaren Zonen sind empfindliche Indikatoren, welche die aktuellen Veränderungen deutlich anzeigen.

Diese zu erforschen kann selbstverständlich keine rein deutsche Aufgabe sein, aber umgekehrt würde ohne die Beteiligung vieler einzelner Nationen der globalklimatische Wandel kein Forschungsgegenstand sein. Die Polarwissenschaftler erfüllen demnach eine klassische gesellschaftliche Funktion, indem sie Daten und Analysen zur Verfügung stellen, auf deren Grundlage die Politik Entscheidungen treffen kann. Wie mühsam auch dieses "Geschäft" ist, hat die vor kurzem in Montreal zu Ende gegangene UN- Weltklimakonferenz gezeigt, auf der über Klimaschutzmaßnahmen nach Auslaufen des Kyoto-Protokolls im Jahr 2012 debattiert wurde. Die Ergebnisse der Vereinbarungen sind, gemessen an den Herausforderungen, äußerst bescheiden - dabei waren Gletscherschmelze und Meeresspiegelanstieg bereits 1955 ein Thema der Polarforschung! (S. 50/51)

Ein weiteres Motiv für die Polarforschung ist der potentielle Zugriff auf Ressourcen, und da wurde und wird durchaus in nationalen Kategorien gedacht ("Polarforschung wird nationale Aufgabe", S. 182). Klaus Fleischmann schildert sehr ausführlich das taktische Vorgehen deutscher Politiker und Wissenschaftler bei der Erfüllung jener Voraussetzungen, die erforderlich waren, um in der ersten Liga der Antarktisforschung mitspielen zu dürfen ("Welcome to the Club!", S. 216). Wobei die damalige Hoffnung nicht nur der deutschen Wissenschaftler enttäuscht wurde: Mit den Krillbeständen in den antarktischen Randmeeren kann nicht der wachsende Eiweißbedarf der Weltbevölkerung gedeckt werden (S. 164 ff).

Es locken jedoch andere Ressourcen. Es gibt zwar einen Antarktis- Vertrag, der den Abbau von Rohstoffen untersagt und nur Aktivitäten zu Forschungszwecken gestattet, aber wer will ausschließen, daß dieses 1959 geschlossene und später ergänzte Vertragswerk nicht eines Tages - sollten sich die politischen, ökonomischen oder klimatischen Bedingungen ändern - modifiziert und den neuen "Sachlagen" angepaßt wird? In einer Welt, in der von den führenden Militärmächten sogar die Genfer Konventionen, der Grundkonsens des humanitären Völkerrechts, mißachtet und für nicht mehr zeitgemäß bezeichnet werden, ist nicht zu erwarten, daß ein Vertrag über Nutzungsbeschränkungen der Antarktis dauerhaft gültig bleiben wird. Auch für diesen keineswegs wünschenswerten Fall bestünde für die Wissenschaftler ein gesellschaftlicher Auftrag, nämlich stets einen Fuß in der Tür zu haben und sich, bzw. ihr Land strategisch so zu positionieren, daß es im Falle einer Verteilung von Nutzungsrechten zu den Privilegierten zählt.

Eine Reihe von Staaten entfaltet in den letzten Jahren auf dem weitreichend unerschlossenen Kontinent äußerst rege Aktivitäten, die in die beschriebene politische Richtung interpretiert werden können. Das Bundesforschungsministerium hat 2004 dem Bau einer neuen Station zugestimmt, die britische Regierung ebenfalls. Die Vereinigten Staaten von Amerika fräsen, schmelzen und brechen seit zwei Jahren einen 1600 Kilometer langen "Highway" quer durchs Eis von der heimlichen Antarktis-"Hauptstadt" McMurdo am Rossmeer zur ebenfalls neu errichteten Amundson-Scott-Station am Südpol. Darüber hinaus verlegen sie in einem mehrjährigen Projekt von dort aus ein 1670 Kilometer langes Glasfaserkabel zur französischen Forschungsstation Concordia, von wo die am Südpol gewonnenen Meßdaten via Satellit zeitverlustfrei weiterbefördert werden können.

Die Russen unterhalten zahlenmäßig die meisten Antarktis- Stationen, und Chile hat bereits Lebensraum-Ansprüche formuliert und den vor der Südspitze Südamerikas gelegenen Küstenbereich der Antarktis als "Treuhandgebiet" und potentiellen Siedlungsraum für das Jahr 2100 bezeichnet. Außerdem liebäugelt das weitgehend aride südamerikanische Land mit den im antarktischen Eis gebundenen Süßwasserreserven. Bei der Benennung potentieller und faktischer Nutznießer der Antarktis dürfen selbstverständlich die zahlreichen Forschungsinstitute und Pharmakonzerne nicht vergessen werden. Sie haben längst begonnen, in den eisfreien Küstenbereichen Pilze, Moose, Flechten und andere Pflanzen sowie Mikroorganismen nach interessanten Wirkstoffen zu durchkämmen. Zudem birgt die Antarktis potentiell große Mengen Erze und andere Rohstoffe.

Vor diesem Hintergrund wundert das ausgeprägte Interesse der führenden Wirtschaftsnationen der Erde an einem Gebiet, das größer ist als Nordamerika und dessen rechtlicher Status in der Schwebe gehalten wird, nicht. Neben dem nationalen Eigendünkel, den die Unterzeichner des Antarktis-Vertrags hin und wieder durchblicken lassen, bilden sie zusammen einen exklusiven Club, die Konsultativrunde. Dieses Streben nach politischer Hegemonie ist allerdings nicht der einzige Aspekt der Antarktis-Forschung. Fleischmanns Beschreibungen zeigen deutlich, daß Forschungen in den Kältezonen der Erde so international vernetzt sind wie in nur wenigen anderen Gebieten und daß die dort durchgeführten wissenschaftlichen Studien globale Bedeutung haben.

Mit seiner unvoreingenommenen Art, auch die Antarktisforschung der DDR in aller Ausführlichkeit zu schildern, hat der Autor auf besonders passende Weise unter Beweis gestellt, daß in der Polarforschung ideologische Unterschiede im einheitlichen Weiß ihre Konturen und in der tiefen Kälte ihre Gegenläufigkeit verlieren. Es wäre wirklich ein Mangel gewesen, wenn Klaus Fleischmann nicht eine gesamtdeutsche Darstellung der Polarforschung präsentiert hätte.

"Forschung ist in ihrem Kern unpolitisch" (S. 84), behauptet der Autor, um anschließend die Abhängigkeit der Forschung von der Politik zu beschreiben. Es ist erfreulich, daß eine solche idealistische Vorstellung von Forschung noch nicht gänzlich verdrängt wurde, aber solange jener "Kern" allenfalls im persönlichen Engagement weniger sich mit Leib und Leben der Forschung verschriebener Enthusiasten anzutreffen ist, dürfte dies kaum Konsequenzen für die heutige, sehr wohl politisch diktierte Wissenschaftslandschaft haben.

Auch wenn sich die mitunter etwas trockene Forschungspolitik wie ein roter Faden durch die einzelnen Kapitel hindurchzieht, was bei einem Jubiläumsband über 50 Jahre deutsche Polarforschung gar nicht ausbleiben kann, so war der Autor bemüht, immer wieder auf inhaltliche Fragen, um was es bei den jeweiligen Expeditionen in die polaren Regionen ging und zu welchen Ergebnissen die Forscher gelangt waren, zuzusteuern. Wobei in den Extremzonen der Erde Leid und Freude stets dicht beieinander liegen. So erwähnt Fleischmann den verheerenden Brand in der russischen Forschungsstation "Mirny" Anfang August 1960, bei dem acht Bewohner, unter ihnen der ostdeutsche Christian Popp, ihr Leben verloren, und er zeigt auf der anderen Seite auch die hochwertige kartographische Umsetzung einer ausführlichen Meßkampagne ostdeutscher Forscher in West-Spitzbergen
(S. 38).

Das Buch endet mit einem Ausblick auf "die nächsten 25 Jahre" Polarforschung, der von Jörn Thiede, Direktor des Alfred-Wegener- Instituts für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven, verfaßt wurde. Daraus geht hervor, daß Deutschland den Bau einer Antarktisstation "Neumayer III" bis zum Jahre 2008 in Dronning Maud Land plant, was - vergleichbar mit dem Eisbrecher "Polarstern" - eine millionenschwere Investition ist, die natürlich wieder "eingespielt" werden soll.

Wie sehr die Polarforschung, und nicht nur die deutsche, mit schweren Rückschlägen zurechtkommen muß, beweist Thiede unbeabsichtigt mit seinem hoffnungsvollen Ausblick auf den Start des Satelliten CRYOSAT, durch den "sehr präzise Vermessungen der Oberflächenmorphologie der Eisschilde" vorgenommen werden sollten, um festzustellen, "ob die Eisschilde in der Arktis und Antarktis stabil sind bzw. wo und in welchem Umfang sie Änderungen unterworfen sind" (S. 330). Dieser Ausblick wurde vor dem Absturz der Trägerrakete, die CRYOSAT in den Orbit befördern sollte, verfaßt. Das Projekt ist gescheitert.

Es steht außer Zweifel: Wer sich für die deutsche Polarforschung interessiert, wird an diesem gründlich recherchierten und reichhaltig bebilderten Buch seine Freude haben.


Klaus Fleischmann
Zu den Kältepolen der Erde
50 Jahre deutsche Polarforschung
Delius Klasing Verlag, Bielefeld, 2005
344 Seiten, 328 Farb- und 65 S/W-Fotos
53 meist farbige Abbildungen, Euro 26,00
ISBN 3-7688-1676-1

27. Dezember 2005