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REZENSION/305: Orland (Hg.) - Artifizielle Körper - Lebendige Technik (SB)


Barbara Orland (Hg.)


Artifizielle Körper - Lebendige Technik

Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive



Die Geschichte der Technik wird gewöhnlich als eine der kontinuierlichen Weiterentwicklung, des qualitativen Fortschritts und unverzichtbaren Zugewinns an Lebensbewältigungsstrategien beschrieben. Seit Beginn der Feuer-Rad-Entwicklung versucht der Mensch, seine Unzulänglichkeiten mit Hilfe körperfremder Materialien zu kompensieren. Das galt schon für den Höhlenbewohner, der einen Stein in die Hand nahm, um Funken zu schlagen und Reisig zu entfachen, und das gilt auch für den heutigen Menschen in seiner komplexen, von einer ausdifferenzierten Arbeitsteilung beherrschten Gesellschaft, in der das "Feuer" aus der Steckdose kommt. Kleidung und Schuhe haben Fell und Schwielen ersetzt, Messer und Gabel unterstützen die einstmals scharfen Zähne und Klauen; Nahrung wird industriell zu- und Trinkwasser chemisch aufbereitet; Fortbewegung findet vornehmlich mittels technischer Konstruktionen statt, deren Nutzung einen für sie passend bearbeiteten Untergrund verlangt.

Hat diese vielfältige technische Bemittelung die Erwartungen des Menschen erfüllt? Hat sie ihn der urtümlichen Not der Überlebenssicherung enthoben und ihn von der Gefahr der als fremd und feindlich zu bezeichnenden Bedingungen befreit?

Barbara Orland, Forscherin an der ETH Zürich mit Schwerpunkt Technikgeschichte, hat in der Reihe "Interferenzen - Studien zur Kulturgeschichte der Technik" einen Sammelband zu unterschiedlichen Aspekten der historischen Technikentwicklung vom 18. Jahrhundert bis heute herausgegeben. In diesem Buch werden zwar allgemein positivistische Beschreibungen "technischer Modellierungen des Körpers" geliefert, aber der genuin substitutive Charakter von Technik schimmert unterschwellig durch die verschiedenen Aufsätze hindurch. In ihnen geht es um Prothetik im erweiterten Sinne, also um die Ergänzung des menschlichen Körpers durch künstlich Geschaffenes, sei es rein artifizieller oder sei es organischer Herkunft.

Das spielt sich immer vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Produktions- und Reproduktionsweisen ab, wie in Heather R. Perrys Kapitel "Brave Old World. Recycling der Kriegskrüppel während des Ersten Weltkriegs" (S. 147-158) an einem klassischen Beispiel aufgezeigt wird. Wurden die Kriegsversehrten doch mittels einer großen Auswahl an funktionalen Armprothesen in der Rüstungsindustrie und Kriegswirtschaft weiter vernutzt, was wiederum "vollständige" Arbeiter von den Fließbändern für die Front freisetzte.

Die mehr als 50 verschiedenen künstlichen Arbeitsarme der Siemens-Schuckert-Werke waren aus der Sicht der vorherrschenden kriegstreibenden Kräfte sicherlich ein Fortschritt. Die Frage, ob dies auch von dem einzelnen so gesehen wurde, ist müßig, denn das Individuum ist ein Produkt der Gesellschaft und begründet diese zugleich, es steht ihr nicht gegenüber. Das möglicherweise vom Prothesenträger als Zugewinn aufgefaßte technische Äquivalent zur eigenkörperlichen Handfertigkeit wird durch die an ihn gerichtete gesellschaftliche Forderung, sich nützlich zu machen, ins Gegenteil verkehrt, es verkommt zu einem Zwang.

Der mittels technischer Systeme transportierte gesellschaftliche Verfügungsanspruch findet sich selbst in einem Kapitel wie "'Körper, Geist und Seele bepuscheln ...'. Wellness als Technologie der Selbstführung" (S. 261-277) wieder. Darin definiert die Autorin Stefanie Duttweiler Wellness als

(...) Beziehungs- und Selbstmanagement - ein permanenter Prozess der austarierenden Selbststeuerung in einem Netz vielfältiger Verknüpfungen mit der Umwelt. Wellness ist eine besondere Form der fürsorgenden Einwirkung auf sich selbst - unabhängig davon, ob man sie selbsttätig an sich selbst oder von anderen ausführen lässt. Ganzheitliches Wohlbefinden erweist sich somit nicht als natürlicher Zustand, sondern als Resultante bestimmter, sozial vorgegebener Techniken.
(S. 266)

Unschwer ist aus dieser Beschreibung die Unmöglichkeit, jemals das Wellness-Ideal des "ganzheitlichen Wohlbefindens" zu erreichen, herauszulesen. Jenes "Austarieren" der menschlichen Gefühlswelt gerät statt dessen zu einem permanenten Prozeß, zu einer dauerunzureichenden Verhaltensantwort auf die an den einzelnen herangetragenen - Duttweiler nennt dies "sozial vorgegebenen" - und von ihm verinnerlichten Ansprüche, so daß sich der Kriegskrüppel der "Brave Old World" Perrys hinsichtlich seiner festen Einbindung in eine übergeordnete Verwertungslogik nicht vom bepuschelten Wohlstandsbürger Duttweilers schöner neuer Wellness-Welt unterscheidet.

Wenn es in diesem Zusammenhang einen Fortschritt zu verorten gibt, dann den, daß der auf dem fernen Schlachtfeld zum Krüppel Geschossene noch weniger daran vorbeischauen kann, wem er seine leibhaftige Opfergabe dargebracht hat, als der Wellness- "Krüppel", der sich in Fitnessstudios bei repetitiven Anstrengungen verkrümmt oder auf weniger rabiate Arten seinen Körper zwecks maximaler Erfüllung der an ihn gestellten Erwartungen entspannt, schmeichelt, Nahrung zuführt oder sonstwie trimmt und solcherart Anpassungsgebaren zum Akt der Selbstfindung verklärt.

Zu der breit angelegten Themenpalette des vorliegenden Buchs zählen unter anderem "Das künstliche Auge", "Das künstliche Herz", "Einbau von Technik ins Gehirn", "Hirntoddiagnostik", "künstliche Befruchtung um 1910", "Geschichte der Wearable- Computing-Forschung" oder auch "Schönheitschirurgie". Es handelt sich jeweils um Vorträge, die im Sommer 2003 von Mitgliedern der Gesellschaft für Technikgeschichte im Collegium Helveticum der ETH Zürich auf ihrer Jahresversammlung unter dem Motto "Technikgeschichte des Lebendigen" gehalten wurden. Den einzelnen Aufsätzen ist die Vortragsform anzumerken, was seine Vorzüge, aber auch seine Begrenzungen hat. Zu den Vorzügen gehört: Die Themen werden trotz mancher Inhaltsschwere sehr leichtfüßig abgehandelt. Der Leser wird bei der Hand genommen und in die jeweilige Diskussion eingeführt. Ergänzt werden die Vorträge durch Fußnoten, die sich häufig nicht auf bloße Quellenverweise beschränken, sondern in denen spezielle Aspekte des Dargelegten vertieft werden.

Die Begrenztheit der Vortragsform zeigt sich dagegen darin, daß spannende Themen ungeachtet der Fußnotenunterstützung meist nur angerissen werden, ja, angerissen bleiben müssen, denn jede einzelne der angesprochenen "technischen Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive" könnte für sich genommen ohne weiteres einen eigenen Band von 286 Seiten füllen, ohne auch nur vollständig abgehandelt worden zu sein. Es ist allerdings nicht das schlechteste Zeugnis, wenn ein Buch Appetit auf mehr macht.

Die Herausgeberin hat ihr einleitendes Kapitel mit "Wo hören Körper auf und fängt Technik an?" überschrieben. Doch geht es ihr - und unzweifelhaft auch den anderen Autorinnen und Autoren - gerade nicht um solche "Dichotomien", über die in "posthumanistischen Diskussionen" gerne philosophiert werde, wie Orland schreibt, sondern vielmehr um die "vielschichtig motivierten Herstellungsbedingungen 'moderner' Körper", orientiert an "den verschiedenen Kontexten, Kommunikationsräumen und Bedeutungsebenen, die die Begriffe 'Körper' und 'Technik' immer wieder neu verwoben haben" (S. 14).

Abgesehen davon, daß in dem Diskurs Technik versus Körper tatsächlich schon sehr viel Abgehobenes zu Papier gebracht wurde und Orlands Anliegen, fächerübergreifend konkrete Entwicklungen zu untersuchen, nachvollziehbar ist, sollte die bislang unbeantwortete Frage nach der Grenze von "Technik" und "Körper" nicht ad acta gelegt werden, führt sie doch schnurstracks zu dem erkenntnistheoretischen Problem, daß die Haltlosigkeit beider Denkkonzepte um so deutlicher zutage tritt, je präziser sie erfaßt werden sollen.

Das bedeutet nicht, daß die beiden Begriffe nicht in ihrer Unbestimmtheit verwendet werden könnten und dies nicht Spuren weiterer Verkennungen legte. Orland selbst liefert dafür in dem Unterkapitel "Experiment und technische Sichtbar-Machung des Körpers" gleich mehrere Beispiele. In "Hinblick auf die Wahrnehmung der menschlichen Gestalt und ihrer Ordnung" seien "reine Genealogien der Apparate und Maschinen" wenig aussagekräftig, vermerkt die Autorin und begründet dies damit, daß Apparate, die heute dem weiten Begriff medizinischer Visualisierungstechniken zugeordnet würden, bei ihrer Entstehung gar nichts mit der Bildgebung in ihrem heutigen Sinn zu tun gehabt hätten. Als Beispiel nennt sie den Kernspintomographen, den es schon zwanzig Jahre gegeben habe, bevor die Resonanzfrequenz der Kernspine "in einem eigenständigen Erfindungsprozess für die Medizin 'lesbar' gemacht" (S. 22) worden sei; zudem seien Verfahren wie die Röntgenologie oder 3D- Ultraschallgebung nicht im Umfeld der Medizin entstanden. Orland bemerkt zutreffend, daß "Bilder vom menschlichen Körper nicht als direkte Abbildungen oder Darstellungen von etwas zuvor nicht Gesehenem verstanden werden" (S. 23) können. Viele der "mit selbstaufschreibenden Apparaten erzeugten Körperzustände mussten erst zu 'sichtbaren' und 'lesbaren' Zeichen des Körpers gemacht werden" (S. 24), sie bedürften stets der Interpretation, erklärt die Autorin.

Den Begriff der "Repräsentation" hält sie in diesem Zusammenhang für problematisch, da bildhafte Darstellungen des Körpers nicht für die unbekannte Natur ständen, sondern produziert würden. Als ein anschauliches Beispiel dafür nennt Orland die Anwendung der mittels Kernspintomographie erzeugten virtuellen Endoskopie. Für das "ungeschulte Auge" werde ein "Fly- through" durch den menschlichen Körper suggeriert, als ob eine Kamera aktuell durch die Venen des Organismus führe:

Tatsächlich jedoch werden die Bilddatensätze von Computer- oder Kernspintomographen im Rechner mit Hilfe raffinierter Algorithmen so verarbeitet, dass simulierte räumliche Visualisierungen des Körperinneren erzeugt werden, die überdies eine Bewegung des betrachtenden Auges suggerieren.
(S. 24)

Hier wäre weiterzufragen, ob davon wirklich nur das "ungeschulte" Auge getäuscht wird oder ob sich nicht auch der Experte schon aufgrund seiner berufsbedingten Routine im Umgang mit den Ergebnissen der Visualisierungsapparate hinters Licht führen läßt.

Von absichtlicher Täuschung handelt hingegen das Kapitel "'Bewegung' und 'Rührung'", in dem Adelheid Voskuhl über "Musik spielende Androiden und ihre kulturelle Bedeutung im späten 18. Jahrhundert" berichtet. Anhand mehrerer Beispiele beschreibt die Autorin Maschinenmenschen, die sich täuschend echt bewegten und von einer so ausgeklügelten Mechanik gesteuert wurden, wie man es eigentlich erst der modernen Transistoren-Technologie zugetraut hätte. Daß sich in einem jener Androiden auch schon mal ein Mensch verborgen hat, der den Zuschauern sprichwörtlich etwas vorspielte und ihnen vorgaukelte, was sie sehen wollten, war die Ausnahme. Voskuhl kommt in ihrer kulturgeschichtlichen Betrachtung des Maschinenmenschen zu dem Schluß, daß der Blick auf die Epoche "um 1800" einen Eindruck von dem "historischen Spannungsbogen" vermittle, "den das Motiv der Sorge um die maschinale Aus- und Überformung des Menschen in der Moderne geschlagen" (S. 99) habe.

Die Sorge ist begründet. Die wenigsten Menschen von heute können auf die Unterstützung durch Technik verzichten, das heißt, sie befinden sich in einer tiefen Abhängigkeit von etwas, das ursprünglich einmal ausschließlich dazu gedacht war, ihre Überlebensfähigkeit zu verstärken. Folgerichtig müßte Technik als Ausdruck des Mangels und des Ersatzes konstatiert werden. Und wenn Technik ihren Anspruch erfüllte, bedürfte es strenggenommen keiner Weiterentwicklung. Da der Mangel nicht behoben, sondern verschoben wird, wäre die Lösungssuche per Technik gleichsam als fortgesetzte Überantwortung des Menschen an die notgenerierenden Verhältnisse zu definieren. Anders gesagt, die vermeintliche Befreiung vom Höhlenmenschendasein hat sich als eine hochqualifizierte Unterwerfung an wesentlich umfassendere und vereinnahmendere Erfordernisse herausgestellt.

Der vielbeschworene Fortschritt erweist sich somit als Inbegriff der Verstetigung einer gegen den Menschen gerichteten Mangelproduktion. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn in diesem Buch die Technik hin und wieder weniger affirmativ rezipiert worden wäre, da ihre Anwendung potentiell ins Räuberische umschlägt. So hat die hier am Beispiel der Schweiz geschilderte Hirntoddiagnostik die Definition des Todes immer mehr in die vormalige Sphäre des Lebenden verschoben. Dadurch werden der Transplantationsmedizin und ihrer privilegierten Profiteure sehr direkt zusätzliche menschliche Organe zugeschanzt. Und die Wearable-Computing-Forschung ist daran beteiligt, den Menschen in ein Netz von Überwachungsfunktionen einzuweben, angefangen von physiologisch abgreifbaren Werten bis zur lückenlosen Verfolgung seines Aufenthaltsorts.

Ohne in das übliche Lösungsmuster der einstigen Maschinenstürmer oder anderer technikkritischer bis technophober Zeitgenossen zu verfallen, die, bildlich gesprochen, Menschen zurück auf die Bäume oder auf den Affenfelsen treiben wollen - was derart unpraktikabel ist, daß es jeden anderen non- positivistischen Umgang mit Technik von vornherein der Lächerlichkeit preiszugeben scheint -, wäre zu fragen, ob die Technikentwicklung so alternativlos ist, wie sie im allgemeinen dargestellt wird. Das Buch "Artifizielle Körper - Lebendige Technik" könnte als Gelegenheit aufgefaßt werden, ein konstruktives Streitgespräch zu befördern, in dem über das bloße Huldigen technischer Lösungen weitergehende Fragen gestellt werden, die vielleicht einmal am Beginn der Technikentwicklung gestanden und seitdem von ihrer Aktualität und Dringlichkeit nichts eingebüßt haben.


Barbara Orland (Hg.)
Artifizielle Körper - Lebendige Technik
Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive
Achter Band der Studienreihe "Interferenzen" zur
Kulturgeschichte der Technik von David Gurgeli
Chronos Verlag, Zürich, 2005
286 Seiten, Euro 24,80
ISBN 3-0340-0690-X

27. Februar 2006