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REZENSION/312: Hanzig-Bätzing/Bätzing - Entgrenzte Welten (Zeitkritik) (SB)


Evelyn Hanzig-Bätzing/Werner Bätzing


Entgrenzte Welten

Die Verdrängung des Menschen durch Globalisierung
von Fortschritt und Freiheit



Ein Buchtitel, in dem ein Antagonismus zwischen dem Menschen und ihm heiligen Ideen wie denen des Fortschritts und der Freiheit aufgebaut wird, macht neugierig. Zumal dann, wenn er signalisiert, daß den Autoren die Sache des Menschen am Herzen liegt, obwohl und gerade weil er für die Entwicklungen, die seinen Niedergang befördern, verantwortlich ist. Evelyn Hanzig-Bätzing, Dozentin für Philosophie an der Universität Bamberg, und Werner Bätzing, Professor für Kulturgeografie an der Universität Erlangen-Nürnberg, machen es sich nicht leicht bei dem Versuch, den Widerspruch zwischen einem positiven Entwurf des Menschen und seiner Verdrängung durch von ihm selbst initiierte Ideen und Prozesse auf den Begriff zu bringen. Der Leser merkt, daß es ihnen ein persönliches Anliegen ist, nicht nur Kritik an den widrigen Bedingungen der geistigen, kulturellen und materiellen Entwicklung zu üben, sondern die Frage nach der Aufgabe des Menschen in der Welt weiterzuentwickeln.

Die Autoren betonen im Vorwort, daß das Buch das Ergebnis einer Kooperation zweier persönlich seit langem miteinander verbundener Personen darstellt, wobei man sich aus dem jeweils eigenen Blickwinkel "die gemeinsame Leitfrage nach der Art und Weise der Entgrenzung in unserer Gegenwart" (S. 15) gestellt habe. Sie legen Wert auf die Feststellung, daß ihr Werk "nicht im akademischen Milieu entstanden" sei, sondern "sich einer langen Auseinandersetzung mit der Alltags- und Lebenswelt und der Frage, als was der Mensch heutzutage darin vorkommt" (S. 16), verdanke. Dabei räumen die Autoren ein, daß ihre Analysen "nicht die Normen von fachwissenschaftlichen Texten" erfüllen. Sie beanspruchen jedoch, einer "Wissenschaft im eigentlichen Sinne" gerecht zu werden, da sie "Wissenschaft als Teilbereich der Gesellschaft, die zum besseren Verständnis des Selbst- und Weltverhältnisses des Menschen beiträgt" (S. 17), verstanden wissen wollen.

Dieser emanzipatorische Anspruch betrifft demgemäß vor allem Menschen, die die Welt nicht allein durch die Brille berufsständischer und ökonomischer Interessen betrachten, sondern die das Primat der Eigennützigkeit, sei es durch persönlichen Entschluß, sei es durch die gesellschaftlichen Umstände bedingt, vom Thron des ersten Bewegers gestoßen haben. Schon mit dem Verwerfen des reinen Nützlichkeitsdenkens und der Wahrung humanistischer Prinzipien auch und gerade gegen die Wahrscheinlichkeit ihrer Verwirklichung setzt sich der Mensch ins Abseits eines Konsenses, der mit der Durchdringung aller Lebensbereiche durch die sozialdarwinistische Ratio nicht nur hegemonial, sondern in aktiver Ausgrenzung jeglichen Widerspruchs wirksam wird.

Wenn "die Verdrängung des Menschen" kein reines Thema akademischer Betrachtung und intellektueller Erörterung sein soll, sondern eine zutiefst lebenspraktische Herausforderung verkörpert, dann verlangt dieses Problem nach entschiedener Parteinahme und entschlossener Streitbarkeit. Dies ist natürlich nicht mit einem Objektivitätspostulat vereinbar, das die Einmischung des Menschen in seine ureigensten Belange untersagt, weil es angeblich die Urteilskraft trübe, die anstehenden Probleme zur eigenen Sache zu erklären, mithin parteiisch zu sein. Schaut man genauer hin, dann ist es mit der Unberührbarkeit des wissenschaftlichen Urteils häufig schon aus profanen Gründen wie der finanziellen Bemittelung, des persönlichen Ansehens oder der politischen Konformität seines Urhebers nicht weit her. Überprüft man schließlich insbesondere im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften die zur Anwendung gelangenden Normen und Methoden, dann stößt man allzu häufig auf den ideologisch eingeschränkten Horizont herrschender Auffassungen denn auf zumindest in sich widerspruchsfreie Wissenssysteme. Insofern ist der Wissenschaftsbetrieb in einem viel tieferen und unheiligeren Sinne herrschaftskonform und opportunistisch, als es das Bild des Elfenbeinturms abstreitet.

Die Autoren des vorliegenden Buches können zwar ihre akademische Herkunft nicht verleugnen und wollen dies auch gar nicht, doch sie bemühen sich, ihr Thema, das man im weitesten Sinne als das Problem der Auflösung der Selbstvergewisserung dienender Grenzen wie Differenzen menschlichen Erkenntnis- und Urteilsvermögens umschreiben kann, über bloße Fachdiskurse hinaus zu einer Frage von allgemeiner Bedeutung zu treiben. Dabei hat man es im Grunde genommen mit zwei Büchern zu tun, unterscheiden sich die je individuell verfaßten Kapitel doch beträchtlich in Inhalt wie Diktion voneinander. Das läßt den inneren Faden, dem Problem der Entgrenzung und Nivellierung der nicht nur geistigen, sondern auch materiellen Topografie humaner Lebenswelt auf die Spur zu kommen, zwar nicht abreißen, verlangt dem Leser jedoch einige Mühe ab, zwischen den eher gegenständlichen, historisch-soziologischen Ausführungen Werner Bätzings zum "Verhältnis des Menschen bzw. menschlicher Gesellschaften zu ihrer Umwelt in geografischer und humanökologischer Perspektive" (S. 15) und den abstrakten Reflexionen Evelyn Hanzig-Bätzings über das "Selbst- und Weltverhältnis des Menschen in philosophischer und psychoanalytischer Perspektive" (S. 15) zu wechseln.

Diese Mühe auf sich zu nehmen belohnt den Leser jedoch mit einem weiten Blick auf die vielfältigen Facetten menschlicher Entwicklung hin zum maximal verfügbaren Individuum, das in der Beschleunigung und Komplexität der Anforderungen, die sich schon aus der Gewährleistung seines Überlebens ergeben, kaum zur Besinnung kommt oder gar den Mut aufbringt, sich der umfassenden Fremdbestimmung seiner Lebenswelt entgegenzustellen.

So beleuchtet Rainer Bätzing im ersten Kapitel "Grenzenlose Dynamik von Wirtschaft und Gesellschaft als Fortschritt" das Postulat einer die stetige Besserung humaner Lebensverhältnisse garantierenden Entwicklung mit einem Abriß der politisch- ökonomischen Entwicklung von der Antike bis heute. Dabei nimmt er anhand des Warencharakters nicht nur der gehandelten Produkte, sondern auch der Arbeitswelt in der Dienstleistungsgesellschaft und der persönlichsten Belange des Menschen im sozialen Wechselspiel eine kritische Bewertung der Kommodifizierung aller Lebensverhältnisse und des daraus resultierenden Strukturwandels vor. Daß er die Geschichte menschlicher Produktivität mit dem Bild eines "gewaltigen Strohfeuers, dessen neue und schier unglaubliche Möglichkeiten hoch auflodern, sich dann aber sehr schnell selbst verzehren" (S. 98), illuminiert, eignet sich bestens als Kommentar zur Entfesselung neuer Konflikte aufgrund des unstillbaren Durstes nach Energieressourcen, mit denen eine angebliche Wertschöpfung unterhalten wird, deren Mangelproduktion immer mehr Menschen als Asche eines Brandes zurückläßt, der die Grundlagen menschlichen Lebens überhaupt zu verzehren droht.

Im zweiten Kapitel "Die Überwindung des abendländischen Einheitsdenkens durch postmodernes Differenzdenken als Ermöglichung von Freiheit" nimmt Evelyn Hanzig-Bätzing den Leser auf eine Tour d'horizon durch die Philosophiegeschichte mit, auf der sie vor dem Hintergrund des Flexibilitätsdogmas die Frage nach der Identität des Menschen aufwirft. Dabei gelangt sie von der vereinheitlichenden Wirkung der Philosophie der griechischen Antike und ihrer Transformation zu einem System monotheistischer Letztbegründung durch den Einfluß des Christentums zur Kritik der Philosophie Hegels, die sie als "Herrschaftsdenken" ausweist, da der Mensch nach ihm zur Identität gelange, "wenn er mit dem alles beherrschenden und alles durchherrschenden Prinzip, dem herrschenden Vernunftprinzip übereinstimmt" (S. 109). Sartre und Heidegger lastet sie das Festhalten an einem positiven Menschenbild an, wodurch die Behauptung, daß "das Bestehende das Negative, Entfremdete ist", in ihrer Ausschließlichkeit gebrochen werde, so daß sich ihr Existenzialismus verdächtig mache, "bloß als Kitt des Bestehenden zu fungieren" (S. 115).

Adorno hingegen hält die Autorin insofern in Ehren, als daß dieser das "Negative der Welt" (S. 116) vor dem Hintergrund des industriellen Massenmords am weitestgehenden als dem Menschen eigenes Handlungsmotiv anerkannt habe.

Philosophieren nach Auschwitz, das kann für Adorno nur noch bedeuten, die Erfahrung des Nichtidentischen und das in ihr miterfahrene Unterdrückte und Verdrängte zum Maßstab der Kritik zu machen, das heißt, der 'Unfreiheit zum Laut zu verhelfen', nämlich das Unsagbare nicht auf Gesagtes zurückzubiegen, das 'Begriffslose' nicht in die vereinheitlichende Logik der Begriffsbildung zu zwingen, Nicht-Identität nicht auf Identität zurückzuführen. Die unterdrückte Wahrheit des Unsagbaren zur Sprache zu bringen bedeutet demnach, dem Nichtidentischen Ausdruck zu verschaffen: also eine Lücke zu bewahren in dem auf Restlosigkeit ausgerichteten abendländischen Einheitsdenken. Philosophie bezieht ihre Rechtfertigung allein noch aus dem, was nicht gedacht werden kann, oder anders gesagt, was metaphysischer Erfahrbarkeit, dem Subjekt als denkendem Prinzip sich schon immer entzieht, also aus dem, was sich dem Menschen in seiner konkreten Selbst- und Welterfahrung allererst erschließt.
(S. 117 f.)

Die von Evelyn Hanzig-Bätzing aufgeworfene Frage, woraus "dem Subjekt das Positive, jene Kraft nämlich, die es zum Widerstand gegen den gesellschaftlichen Identitätszwang befähigt" (S. 118 f.), erwachse, beantwortet sie gemäß des Adornitischen Diktums, daß es kein richtiges Leben im falschen geben könne, mit dem Aufruf zur Verweigerung:

Das heißt, sich dem Ganzen zu verweigern, nicht mitzumachen: sich darüber bewusst zu sein, dass leben immer nur bedeuten kann, sich der Macht gesellschaftlichen Ausgeliefertseins zu entziehen, dem Zwang zur Identifizierung mit Gesellschaft zu entrinnen und sich schließlich der Unmöglichkeit der Realisierung des eigenen Lebens als Eigenem inne zu werden. Denn 'alles Mitmachen, alle Menschlichkeit von Umgang und Teilhabe ist bloße Maske fürs stillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen.'
(S. 119)

Diese weitreichende Positionierung Adornos legt nahe, daß es den Menschen, auf den gerade auch in seiner Verneinung Bezug genommen wird, noch gar nicht gibt, daß es sich bei dem, was man gemeinhin mit diesem Begriff umschreibt, allenfalls um ein Potential handelt, das erst in der Auseinandersetzung mit der Totalität der Gewalt und des Raubes und einer grundlegenden Umwälzung bestehender Verhältnisse zur Existenz gelangte. Dem steht das von der Autorin ausgemachte Problem entgegen, daß "jedes negativistische Denken sich dem Verdacht der inneren Widersprüchlichkeit aussetzt, nämlich im Negativen doch die Existenz von Positivem behaupten zu müssen" (S. 119). Hanzig-Bätzing zieht daraus die Schlußfolgerung, daß der Denker mit seinem Gegenstand stets verstrickt bleiben muß, totale Negation also nicht möglich sei.

Wenn jedoch die "Aufgabe der Philosophie" im Nichtidentischen, also der Verweigerung der Sprache und des Denkens all dessen, das die Totalität der Gewalt und des Raubes konstitutiert, angesiedelt sei, "nämlich dem Leiden derer Stimme und Ausdruck zu verschaffen, die sich nur um den Preis gesellschaftlichen Ausgeschlossenseins, ihres psychischen oder gar physischen Überlebens dem Identitätszwang zu entziehen vermögen" (S. 118), dann kann es sich beim Problem der Verstrickung der Philosophie nur um eine Folge ihrer Vergesellschaftung handeln, wenn man nicht ohnehin behaupten wollte, daß diese gar keine andere Wissenschaft zuläßt als eine, deren Erkenntnisfähigkeit an ihre sozialökonomischen Voraussetzungen gebunden bleibt.

Man könnte Adornos berühmten Grundsatz, es könne kein richtiges Leben im falschen geben, demgemäß auch als verstiegenen Vorwand deuten, die Grenzen gesellschaftlicher Determination nicht zu überschreiten, indem man das klare Orientativ des vertrauten Wertmaßstabs von richtig und falsch an die Stelle des Unbekannten, Unverknüpften und Ausgegrenzten setzt, das es kenntlich zu machen und zu vertreten gälte, wenn man das Problem des an seiner Widersprüchlichkeit vergehenden Menschen in aller Konsequenz zur eigenen Sache machte. Ginge es der Philosophie um die Bewältigung grundlegender Probleme des Menschen, dann stellte sich die Frage nach gesellschaftlicher Anerkennung ebensowenig, als daß der Denker vermiede, sich in den Augen der anderen schuldig zu machen. Man könnte auch sagen, Adorno hat sich gescheut, auf seinen von Hanzig-Bätzing als "so deprimierend wie einleuchtend" bestätigten Befund "von der absoluten Negativität der Welt und der vollständigen Abwesenheit von Positivem" (S. 120) Taten folgen zu lassen, die nicht in die vermeintlich sichere Distanz bloßen Betrachtens zurückführen und den vertrauten Wertekatalog reproduzieren, sondern in der Praxis des radikalen Abschlusses alles negieren, was sich der unmittelbaren Einsicht jedes atmenden und fühlenden Wesens als inakzeptabel erweist.

Das wäre zumindest eine Konsequenz, die sich aus der Analyse der jeglicher Subjektivität in einem von fremden Zwängen, Kräften und Wirkungen bestimmten Universum eigenen Widersprüchlichkeit ziehen ließe. Das Problem des Philosophierens beginnt mit den in Anspruch genommenen Voraussetzungen, die nicht der ausschließenden kritischen Überprüfung zu unterziehen sich durch die Wiederkehr immer gleicher Denkfallen rächt. Hanzig-Bätzings Antwort auf den Verzicht darauf, das Nichtidentische zum Ausgangspunkt einer wirkmächtigen Negation zu machen, für die es noch keine Sprache gibt, weil das Subjekt erst im Akt des Sprechens Gestalt annimmt, besteht denn auch in der ontologischen Verortung des Nichtidentischen, wo "die Kraft zum Widerstand ... aus der vollständigen Abwesenheit des Positiven, aber als anwesende Abwesenheit" (S. 121), zu schöpfen wäre. Wenn dem Subjekt "nur in Gewissheit seiner Abwesenheit die Hoffnung auf Erfüllung des Umsturzes" (S. 121) erwüchse, dann beschiede es sich mit der Hoffnung. Diese jedoch dient als bloße Aussicht auf Befreiung seit jeher der Sedierung des widerstreitenden Elements.

An der postmodernen Philosophie wiederum kritisiert Hanzig- Bätzing die Aufhebung jeder sinnvollen Begrenzung durch die Beliebigkeit des Urteilsvermögens, die alles nivellierende Pluralität der Lebensentwürfe und die Aufhebung verbindlicher Parameter in Zeit und Raum als destruktive Momente eines dementsprechend erinnerungs- und geschichtslosen, schlußendlich im Simulakrum der virtuellen Realität seines materiellen Äquivalents beraubten Opfers irreführender Annahmen zur ihn bedingenden Wirklichkeit. Ihre These, die virtuelle Realität der Informationsgesellschaft suggeriere den metaphysischen Anspruch auf umfassenden Zugriff zum Preis qualifizierter Fremdbestimmung, kann jeder Nutzer moderner Informationstechnologie in seiner alltäglichen Praxis überprüfen.

Im dritten Kapitel "Die Reduzierung von Natur auf die Funktionen 'Ressource' und 'Erlebnis'" arbeitet Werner Bätzing den Widerspruch zwischen Verklärung und Verbrauch der Natur anhand der Beispiele Umweltschutz und Freizeitkultur heraus, wobei seine Ausführungen zu den heute so beliebten Aktivsportarten in ihrer treffenden Charakterisierung besonders zu empfehlen sind. Die Paradoxie, daß der vermeintlich sorgsamere und bewußtere Umgang mit den natürlich Ressourcen sowie die Nutzung der Natur als Erlebnisraum zu einer realitätsfremden Idealisierung mit zerstörerischen Folgen für das, was man besonders wertzuschätzen meint, führt, bringt der Autor auf den Begriff einer prekären Entfremdung des Menschen von seiner biologischen Herkunft, mit der er weder seiner Gefährdung durch die Natur noch seiner Abhängigkeit von ihr gerecht wird.

Die Folgen dieser Verkennung für den geografischen Lebensraum des Menschen stellt Werner Bätzing im vierten Kapitel "Das Verschwinden des Raumes und die Auflösung von Stadt und Land" anhand der Veränderung des Verhältnisses zwischen urbaner und ländlicher Kultur dar. Dabei verwendet er das Ideal des vollkommenen Marktes, in dem sich alle Unterschiede der Verwertungsbedingungen durch die optimale Allokation des Kapitals mit dem Ergebnis steigenden Wohlstandes für alle angleichen sollen - was schon deshalb in sich widersprüchlich ist, da damit die Voraussetzung kapitalistischen Wirtschaftens aufgehoben würde -, als entlarvende Analogie für die unterstellte Homogenisierung der ökonomischen, sozialen und landschaftlichen Gestalt der modernen Industriegesellschaft, um die unterstellte entropische Angleichung des Raums durch die konträre Entwicklung hin zu einer fragmentierten und disparaten Kulturlandschaft zu widerlegen.

Als Triebkräfte dieses Wandels der Raumstruktur macht der Autor ökonomische, infrastrukturelle und technologische Innovationen aus, um zu dem Schluß zu gelangen, daß die insbesondere im Kontext moderner Informationstechnik paraphrasierte Ortlosigkeit heutiger Produktions- und Lebensweisen nicht nur weit übertrieben ist, sondern auf gegenteilige Weise wahr wird. Sein Aufruf, es bedürfe "einer bewußten Abkehr, ja einer Verweigerung gegenüber den zentralen Selbstverständlichkeiten unserer Gegenwart mit ihrer Orientierung an den 'großen' Ideen und statt dessen einer aktiven Hinwendung zum konkreten Leben und zum konkreten Raum, die mit einer gezielten Aufwertung des multifunktionalen Alltags- und Erfahrungswissens einher geht" (S. 237), kann man angesichts des galoppierenden Schwunds über die Jahrhunderte gereifter Fertigkeiten und Kulturtechniken handwerklicher wie geistiger Art nur unterstreichen.

In den folgenden vier Kapiteln leistet Evelyn Hanzig-Bätzing profunde Gesellschafts- und Kulturkritik, wobei sie sich des begrifflichen Instrumentariums der Psychoanalyse bedient. Die Zerstörung kindlicher Lebenswelten, die längst nicht mehr vor den Leistungsnormen, Darstellungszwängen und Vernunftprinzipien der Erwachsenen geschützt sind, die sich bei Heranwachsenden besonders destruktiv auswirkende psychopharmakologische Kontrollgewalt, die ihrerseits immer infantiler werdende Erwachsenenkultur, der über die Vergesellschaftung der Physis Zwangscharakter annehmende Perfektionswahn der Biotechnologie, der damit einhergehende Warencharakter des Körpers und die daraus resultierende Diskriminierung des Alters, das zusehends Gefahr läuft, mit dem utilitaristischen Argument einer gesellschaftlich angeblich nicht mehr vertretbaren Gesundheitsversorgung dem vermeintlichen Gnadenwerk der Euthanasieärzte überantwortet zu werden - das und mehr wird von der Autorin vor dem Hintergrund einer Ideologie erörtert, die die Entgrenzung des Menschen durch ein Primat der Machbarkeit, das sich aus dem Interesse an intensiver Vernutzung humaner wie natürlicher Ressourcen speist, vorantreibt. Dabei erweist sich der vergesellschaftete Mensch gleichermaßen als Opfer wie Täter eines Verbrauchs, der immer zu Lasten des anderen geht und die angestrebte Sicherheit und Dauerhaftigkeit so gegen sich selbst kehrt.

Die Autorin begibt sich in eine Auseinandersetzung mit der Misere der postmodernen Gesellschaft, die dem Leser einiges an Abstraktionsvermögen abverlangt und deren Begrifflichkeit die Akzeptanz eines Menschenbildes voraussetzt, das seinerseits eher Teil des Problems als seiner Lösung ist. So hätte man sich bei ihrer Kritik an der Biomedizin eine grundlegendere Bewertung des Begriffspaars Krankheit/Gesundheit gewünscht, handelt es sich bei diesem doch um ein Einfallstor medizintechnokratischer Verfügungsgewalt, deren Folgen weit über die persönliche Befindlichkeit hinaus Gestalt und Existenz des Gattungswesens Mensch betreffen. Demgemäß weist die Verwendung psychopathologischer Kategorien wie die des Borderline-Syndroms das Problem auf, daß es sich bei der Korrelation von seelischen Zuständen und Krankheitsbildern um das Produkt eines gesellschaftlich favorisierten Menschenbilds handelt, dessen ausgrenzende Gewalt aus einem herrschaftsförmigen Umgang mit Norm und Abweichung resultiert.

Nicht von ungefähr gelangen die Autoren im abschließenden, gemeinsam verfaßten und unter ein Postulat Adornos gestellten "Fazit: 'Das Ganze ist das Unwahre'" zu der "Auffassung, das Kranke als gesunde Reaktion auf Krankmachendes zu verstehen" (S. 433). Hinter dem Positivismus dieser zentralen Achse sozialer Selektion eröffnet sich womöglich ein Umgang mit dem "Verlust psychischen Lebens" (S. 434), der die Bezichtigungen und Zumutungen technokratischer Vereinnahmung wirksam in Frage stellte.

Das jedenfalls scheint das Anliegen des Autorenpaares zu sein, wenn es daran appelliert, das "Machbare nicht zu machen, sich ihm zu verweigern" (S. 437). Machbares wird hier verstanden als Attribut eines sich selbst fremdgewordenen Menschen, der sich "im reinen Machen des Machbaren, also in der mimetischen Aneignung des Bestehenden" (S. 434), das wiederum auf alles davon Abweichende einen "Zwang zur Egalisierung" (S. 435) ausübt, erschöpft. Dem zu widerstehen entspräche

eine Handlungsweise des Subjekts, die eine Entgegensetzung gegenüber dem bloßen Gelebtwerden durch das Ganze darstellt. Sofern nämlich eine solche Verweigerung Befreiung von äußeren und inneren Zwängen bedeutete, innere Souveränität und Unabhängigsein und damit das Verweilen des Menschen bei sich selbst ermöglichte, käme ihr die Bedeutung zu, einen Riss im Bestehenden zu generieren. Denn mit der Verweigerung entstünde eine Unterbrechung des permanenten Reproduzierens von Vorgegebenem, des blinden, bewusstlosen täglichen Funktionierens.
(S. 437)

So sympathisch und unterstützenswert dieses Anliegen ist, so kompliziert und impraktikabel wird es vermittelt. Hätten die Autoren die von ihnen kritisierte Entgrenzung menschlicher Lebenswelten auf den eigenen intellektuellen Ansatz übersetzt, dann wären sie mit der in Anspruch genommenen Potenzierung reflexiver Instanzen wie "Ich", "Selbst", "Erfahrung" und "Bewusstsein" sparsamer umgegangen. Die sich aus einer zwischen Innen- und Außenschau changierenden Selbstvergewisserung generierende Orientierung, die das Eigene und Originäre des Menschen lediglich beanspruchen kann, weil sie das Fremde in seiner Totalität nicht genügend würdigt, ist ein notgedrungen schwaches Gefährt der Emanzipation. Es kann von einer sich in immer kürzeren Zirkeln des Vergessens und der Wiederholung verbrauchenden Kultur der Verwertung des Menschen durch eine ihn vollständig regierende Ökonomie ohne Probleme ignoriert werden und deren Herrschaft im Endeffekt nicht gefährden.

Wo die Grenze der Erkenntnis dasjenige, das sich jenseits ihrer Markierung befindet, als unbekannt ausschließt und es der Reichweite eigenen Vermögens entzieht, liegt es nahe, das zur Verfügung stehende Instrumentarium begrifflicher Bewältigung auf seine konkrete Handhabbarkeit hin zu überprüfen. Während der von den Autoren kritisierte Ganzheitsanspruch schon deshalb keinen Bestand haben kann, da jede Objektivierung den Betrachter außen vor läßt und das Ganze ebenso wie alle anderen Operatoren des Zählens und Teilens Fragment bleiben muß, entfaltet die Beschränkung auf das zur Verfügung stehende Handwerkszeug erst dadurch seine Wirkung, daß der Spekulation auch im Kleinsten und Vertrautesten ein Ende bereitet wird. Man bestreitet die Totalität des Fremden nicht dadurch, daß man seine Mittel und Methoden adaptiert, sondern indem man sie einer kritischen und abschließenden Überprüfung unterzieht. Evelyn Hanzig-Bätzing und Werner Bätzings Diagnose des Problems "entgrenzter Welten" ist weitgehend zuzustimmen, doch eine die materialistische Seite des Problems stärker betonende Analyse hätte die zentralen Widersprüche sicherlich handhabbarer gemacht.


Evelyn Hanzig-Bätzing/Werner Bätzing
Entgrenzte Welten
Die Verdrängung des Menschen durch Globalisierung
von Fortschritt und Freiheit
Rotpunktverlag, Zürich, 2005
496 Seiten, Euro 28,00
ISBN 3-85869-295-6

19. März 2006