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REZENSION/342: K. Hagena - Was die wilden Wellen sagen (Joyce/Ulysses) (SB)


Katharina Hagena


Was die wilden Wellen sagen

Der Seeweg durch den Ulysses



Die meisten Menschen haben von dem 1922 erschienenen Roman "Ulysses" des irischen Romanciers, Dichters und Dramatikers James Joyce gehört, die wenigsten aber haben ihn gelesen. Dies liegt zunächst daran, daß der Roman lange Zeit in Großbritannien und den USA verboten war, und zwar aufgrund der "Behandlung sexueller Dinge in der Alltagssprache der unteren Klassen", wie es in einem Urteil von 1933 höchstrichterlich heißt. Diejenigen, die den dicken Wälzer nach der Verbotsaufhebung in den sechziger Jahren einmal in die Hand genommen haben, bilden zwei Gruppen: die einen, die irgendwann aufgegeben haben, weil ihnen die Lektüre zu schwierig oder nicht spannend genug gewesen ist; die anderen, die das Buch zu Ende gelesen haben und es für ein absolutes Meisterwerk halten. Zu letzterer Fraktion gehört eindeutig Katharina Hagena, deren "Was die wilden Wellen sagen - Der Seeweg durch den Ulysses" eine für das breite Publikum überarbeitete Version ihrer Doktorarbeit "Das Meer als sprachbildendes Element des Ulysses" von 1996 darstellt.

Kapitel für Kapitel an die klassische Heldensage Homers angelehnt, ist Joyces Roman die Geschichte von zwei Männern, dem älteren Zeitungsannoncenverkäufer Leopold Bloom (Ulysses wie zugleich Jedermann) und dem jungen Dichter Stephen Dedalus (der Ulysses' Sohn Telemach wie zugleich den Autor selbst repräsentiert), die am 16. Juni 1904 durch Dublin, Hauptstadt des damals zum Vereinigten Königreich mit Großbritannien gehörenden und noch nicht geteilten Irlands, irren, bis sich am Abend ihre Wege kreuzen. Das Datum ist kein Zufall. An jenem Tag in der wirklichen Welt lernte Joyce seine Frau Nora Barnacle kennen. Im selben Jahr verließ er als Zweiundzwanzigjähriger Irland für immer und lebte fortan im selbstgewählten Exil zunächst in Triest, eine zeitlang in Paris und schließlich in Zürich, wo er 1941 infolge langer Entbehrungen als mittelloser Schrifsteller starb.

Tatsächlich reißt die Handlung bei Joyces "Ulysses" den Leser nicht vom Hocker. Die Ereignisse sind eher von gewöhnlicher Art: eine Beerdigung, diverse Kneipenbesuche, der Ehebruch von Blooms Frau Molly mit ihrem Gesangspartner Blazes Boylan, ein abendlicher Abstecher ins Bordell, die üblichen, ausgiebigen irischen Diskussionen über Gott und die Welt, über Religion, Kunst und das Mysterium des Daseins. Doch die ungeheure Detailfülle, mit der Joyce einen Tag in seiner geliebten Heimatstadt rekonstruiert, die Art, wie er jedes der 18 Kapitel in einem anderen Sprachstil schreibt - dem der shakespeareschen Dramaturgie, des Gerichtswesens, der katholischen Liturgie, der griechischen Heldensagen u. a. -, und seine damals bahnbrechende Erneuerung, die ungefilterte Wiedergabe des chaotischen Gedankenflusses der Hauptakteure - allen voran der großartige, den Roman abschließende, jede Interpunktion vermissenlassende Monolog von Molly Bloom -, bieten dem aufmerksamen Leser Genuß pur.

Weil das "der einzige Weg, sich seine Unterblichkeit zu sichern", wäre, hat Joyce nach eigenen Angaben in "Ulysses" "so viele Rätsel und Geheimnisse hineingepackt, dass die Professoren Jahrhunderte lang damit beschäftigt sein werden, sich darüber zu streiten", was er "wohl gemeint" hätte. Nicht umsonst ist die Interpretation von "Ulysses", wie übrigens auch des Nachfolgewerks "Finnegan's Wake", in dem Joyce weitestgehend auf herkömmliche Wörter zugunsten einer selbsterfundenen Sprache verzichtet, zu einer regelrechten Spezialnische im akademisch- literarischen Betrieb geworden, in welche sich nur die Allermutigsten begeben. Dies hat nun Katharina Hagena gewagt, und zwar, wie sie selbst sagt, über den "Seeweg".

Der Ansatz, sich "Ulysses" aus dem Blickwinkel der Seefahrt, der Ozeanologie und des Studiums der Sprache als fließendes, stets sich bewegendes Medium anzunähern, erweist sich als recht ergiebig. Man merkt von Anfang an, daß die 1967 geborene Hagena, die zwischendurch am Trinity College im Herzen Dublins als Lektorin gearbeitet hat und heute als Dozentin an der Universität Hamburg tätig ist, sich mit dem Sujet sehr eingehend befaßt hat. Im Klappentext ist die Rede von über zehn Jahren! Das Resultat läßt sich sehen. Hagena führt den Leser durch den ganzen Roman, hebt die Besonderheiten der verschiedenen Episoden hervor, erklärt die Anspielungen und Andeutungen - sowohl geschichtlich wie auch literarisch -, zitiert aus dem Werk selbst wie auch aus den Erklärungen des Autors, seiner Kritiker und Bewunderer, legt die Quellen seiner Gedankenwelt frei und liefert darüber hinaus wichtiges Hintergrundmaterial, aus dem er im Roman zitiert hat. Im letzteren Fall handelt es sich um die Gedichte "The Secret of the Sea" von Henry Wandsworth Longfellow und "Who goes down with Fergus" von William Butler Yeats sowie um eine Passage aus Shakespeares berühmter Tragödie Hamlet zum Ertrinken Ophelias, "eine Sirene, zu der sie allerdings erst im Tod mutiert". (S. 73)

Neben Joyce (und Homer natürlich) ist hier von der altirischen Zeichensprache Ogham, neben griechischen auch von irischen Göttern wie Mananaan Mac Lir (Vorbild für Shakespeares König Lear), von Dante, Derrida, T. S. Eliot, Foucault, Goethe, Kafka, Nietzsche, Poe, Rimbaud und vielen anderen die Rede. Selbst das "Flow", das bekanntlich ein wichtiges Thema in den hipsten HipHopper-Kreisen unserer Tage ist, kommt bei Hagena nicht zu kurz und zeigt, wie weit Joyces Gedanken über das Verhältnis von Sprache und Musik gingen. Dies erklärt auch die Empfehlung Hagenas, sich "Ulysses" laut - im Kopf oder tatsächlich - vorzulesen, denn erst damit lassen sich viele von Joyces Wortspielereien erschließen.

Der Titel von Hagenas Buch kommt von einer Figur in "Ulysses" her, die nach dem Lauschen an einer Muschel fragt: "Was sagen uns die wilden Wellen?" Was einem Joyces "Ulysses" sagt, hängt vom Leser natürlich selbst ab. Man könnte Joyce vielleicht dafür kritisieren, sich bei "Ulysses" (und erst recht bei "Finnegan's Wake") zu sehr auf die Ausschöpfung der Möglichkeiten der sprachlichen Form konzentriert zu haben, beziehungsweise das Spiel mit den Unzulänglichkeiten der zwischenmenschlichen Kommunikation soweit getrieben zu haben, daß er dabei die Aussage, die Leidenschaft und den Bezug zum konkreten Leben, wie man es in der Kurzgeschichtensammlung "Dubliners" erleben konnte, etwas vernachlässigt hat. Wie dem auch sei, das ändert nichts an der Tatsache, daß "Ulysses" eine sprachliche Meisterleistung ist, die ihresgleichen sucht und zu der Katharina Hagenas "Was die wilden Wellen sagen" jedem, der dieses großartige Buch noch nicht gelesen hat, den idealen Einstieg bietet. Denen, die "Ulysses" bereits gelesen haben, gibt Hagena viele Anregungen, es nochmal zu tun.

Lobende Erwähnung verdienen auch Marei Schweitzer für die aberwitzige Umschlagabbildung und Nadja Zobel/Barbara Stauss für die Umschlaggestaltung. Das aufklappbare Panoramabild bietet ein Sammelsurium diverser Episoden und Charaktere, die in "Ulysses" vorkommen, und sogar einige ebenfalls von Joyce erwähnte Sehenswürdigkeiten, wie Nelson's Säule, die es im Dublin von heute nicht einmal mehr gibt. Auf der Innenseite des Schutzumschlags werden die Zeichnungen auch im einzelnen erklärt. Bravo!


Katharina Hagena
Was die wilden Wellen sagen
Der Seeweg durch den Ulysses
Mare Verlag, Hamburg, 2006
179 Seiten
ISBN: 3-936384-92-4


11. August 2006