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REZENSION/354: Harenberg Malerlexikon - Kunst (Lexikon) (SB)


Harenberg Malerlexikon


1000 Künstler-Biografien aus sieben Jahrhunderten



Das Thema dieses Kunst-Lexikons wird die Neugier derjenigen Leser wecken, die sich besonders für den Künstler als Persönlichkeit interessieren. Daß sich in Selbstporträts neben dem Künstler-Image auch das Spezifische seines Könnens zeigt, nahmen die Herausgeber zum Anlaß, den mehr als 1000 Künstlerbiographien ein Konterfei des jeweiligen Malers hinzuzufügen. Doch nicht jeder Künstler findet Gefallen daran, ein Bildnis von sich zu erstellen. Wo weder ein Selbstporträt noch ein Porträt aus Kollegenhand und auch kein Foto vorhanden war, zeigen Kunstwerke oder anderweitig Porträtierte den persönlichen Stil des beschriebenen Künstlers. Und um nicht Künstler aussparen zu müssen, von denen weder Werk noch Signatur abgedruckt werden konnte, fügten die Herausgeber auch Kurzcharakterisierungen ohne jedwedes persönliches Erzeugnis hinzu.

Die 71 Autoren des Lexikons, fast alle Kunsthistoriker, haben sich durchweg bemüht, anhand der persönlichen künstlerischen Entwicklung darzustellen, inwieweit der jeweilige Maler Einfluß auf die Kunstgeschichte genommen hat. Und es ist den Autoren weitestgehend gelungen, die individuellen Malstile sowie ihre kunstgeschichtliche Bedeutung in verständlichen Worten zu beschreiben, so daß das Lexikon auch dem Kunst-Laien als ein informatives Nachschlagewerk dienen kann.

Wenn doch einmal die akademische Bildung durchschlug und der Leser sich durch Textstellen mühen muß ("Leibls Begriff des `Reinmalerischen' reflektierend, nahm H. eine einfache und kompromisslose, jedes Virtuosentum ablehnende Haltung ein, die den künstlerischen Mitteln gegenüber dem Bildgegenstand ein relatives Übergewicht zuerkannte."), so darf der Leser diese Ausnahmen dem schwierig darzustellenden Thema sowie der Kolumnenbegrenzung anlasten.

Sechsundsechzig Künstlern wurde seitens der Autoren in Einklang mit der Kunstgeschichtsentwicklung eine epochale Bedeutung zugesprochen, indem sie die Lebensdaten und Werke jeweils tabellarisch darstellen und somit hervorheben.

Ansonsten ist es ein Anliegen der Autoren, die Eintönigkeit der alphabetischen Aneinanderreihung zu unterbrechen. Zitate und Kommentare von Freunden, Zeitgenossen oder anderen bekannten Persönlichkeiten zu den Künstlern lockern als Marginalien die normalerweise starre lexikalische Struktur auf. Zudem besitzt jede Künstlerbiographie ihre eigenen Hervorhebungen. Die Lebensläufe wurden nicht in Schemata gepreßt, was sich bei den extrem unterschiedlichen Künstlerbiographien sicherlich als unsinnig erweisen würde.

Daß in der Zeit vor dem 12. Jahrhundert die Künstler in der Kunstgeschichte ihre Werke ohne Signaturen hinterließen, lag an der zu jener Zeit vorherrschenden kirchlich geprägten Anschauung, nach der der Mensch in seiner Wertigkeit weit hinter der Gottes lag und von daher lediglich die Darstellungen christlicher Motive Beachtung fanden. Der einzelne Künstler trat hinter dem Auftrag zurück und verblieb in der Anonymität der Malwerkstätten. Er war ein Handwerker und keineswegs ein künstlerischer Genius. Doch mit dem künstlerischen Anspruch und mit anwachsender Kunstfertigkeit gewann das Abbilden des Menschen in Form von Porträts hoher Geistlicher, von Kaisern, Königen und Adligen die Oberhand.

Die problematische Entwicklung in der Neuzeit, die zu einem Personenkult auswucherte, bei dem das Werk fast nichts, die Person aber alles begründet, ist den Herausgebern durchaus bewußt. Die verschiedenen kunsthistorischen Diskussionen um das Spannungsverhältnis von Leben und Werk bleiben in der Einführung des Lexikons nicht unerwähnt und ein kritischer Unterton läßt sich auch herauslesen.

Um sich diesen Vorwurf - der Betonung der Individualisierung in der Kunstgeschichte - nicht ebenfalls zuzuziehen, haben die Herausgeber ein weiteres Lexikon vorgelegt ("Harenberg Museum der Malerei"), in dem sie dem jeweiligen Werk Aufmerksamkeit schenkten. Doch von der inhaltlichen Aufmachung her hat jenes Lexikon eher eine Feigenblatt- Funktion. Zwar finden die Werke jener 700 ausgewählten Künstler eine Beachtung, doch wird häufig das Bild zum Großteil lediglich beschrieben, die Analyse fällt oft sehr knapp aus und der kunstgeschichtliche Hintergrund beziehungsweise Zusammenhang bleibt mitunter gänzlich unerwähnt.

Mit dem Nachschlagewerk "Harenberg Malerlexikon" wird die Illusion genährt, daß der Betrachter der Person des Künstlers näherkommt, indem er das Abbild betrachtet und den Malstil auf sich wirken läßt. Aufgrund des Erscheinungsbildes des Malers wird ein persönlicher Eindruck hervorgerufen, der vermeintlich eine Bewertung ermöglicht, doch die ist rein emotional geprägt. Und wie weit eine Einschätzung des Menschen nach seinem Abbild von seinem Wesen abweicht, wird uns tagtäglich durch die Medien vorgeführt. Weder das Image noch der Typus eines Menschen hat in den wenigsten Fällen etwas mit seinem Naturell zu tun. Allerdings wird auf diese Darstellungsweise dem Prägen von Vorurteilen Vorschub geleistet, indem nahezu automatisch Typisierungen vom Betrachter vorgenommen werden.

Insofern kann nicht davon gesprochen werden, daß über Selbstporträts der Mensch hinter dem Künstler näher gebracht wird. Im Gegenteil wird durch die Individualisierung, also durch die Betonung des Unterschieds und die Abgrenzung zu anderen Ausdrucksweisen, die Kluft noch tiefer gerissen.

Die Herausgeber haben also - möglicherweise aufgrund nicht tiefergehenderer Analyse ihres Vorhabens und daher unabsichtlich - einen weiteren Beitrag zur Individualisierung in der Kunstgeschichte geleistet.

Eingedenk dieser Einschränkung aber bleibt dem Betrachter zumindest die Freude über die große Anzahl der Selbstbildnisse, Porträts, Fotos und anderer Werke, und er kann sich darüber hinaus informieren, welche Beurteilung und Einordnung den Malern in die abendländische Kunstgeschichte zugewiesen wird.

10.10.2006


Harenberg Malerlexikon
1000 Künstler-Biografien aus sieben Jahrhunderten
Mit über 1000 Selbstporträts
Schlüsselwerken und Fotografien
Meyers Lexikonverlag
ISBN 3-411-76100-8