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REZENSION/355: WIDERSPRUCH 50 - Beiträge zur sozialistischen Politik (SB)


WIDERSPRUCH 50


Beiträge zur sozialistischen Politik

Alternativen!



Von der "neoliberalen Konterrevolution", wie sie Milton Friedman 1962 postulierte, über das Dogma Margret Thatchers zu Beginn der 1980er Jahre, wonach es keine Alternative zum neoliberalen Politik- und Gesellschaftsentwurf gebe, bis hin zu den neokonservativen Plänen einer neuen Weltordnung zu Ende des letzten Jahrhunderts zieht sich ein roter Faden. Es geht dabei um nichts weniger als das Fundament und Generalgerüst des nächsten Herrschafts- und Entwicklungsschritts, den man mit dem vom beliebigen Gebrauch so abgenutzten Begriff "Globalisierung" eher verschleiert als treffsicher charaktersiert und aufklärt. Der vielbeschworene Triumph des Kapitalismus bestätigt keineswegs den Glaubenssatz seiner Überlegenheit, wohl aber das Ausmaß seines beispiellosen Aggressionspotentials. Was sich als grundsätzliche Krisenhaftigkeit der dominanten Wirtschaftsordnung, ökologisches Desaster oder Kampf der Kulturen zu einem endzeitlich anmutenden Inferno zu verdichten scheint, ist die forcierte Organisation des Überlebens zu Lasten der eigenen Art, also Raub und Vernichtung als einzig gültige Maxime der Herrschaftssicherung.

Wenngleich die Entfaltung dieses Entwurfs die gesamte Geschichte menschlicher Entwicklung prägt, bricht sich derzeit doch eine neue Stufe innovativer Verfügungsgewalt Bahn, die sich in ihrer unerhörten Wucht und Konsequenz der Reichweite bislang ins Feld geführter kritischer Denkansätze zu entziehen droht. Herrschaft in der strategischen Phase ihrer globalen Durchsetzung hat sich die Eliminierung nicht nur des konkret existierenden, sondern darüber hinaus jeglichen potentiellen Widerstands auf ihre Fahnen geschrieben. Sie strebt damit präventiv den Griff auf eine Zukunft an, in der ihre Struktur und Verlaufsform zu einem nicht länger bestreitbaren und somit letztgültigen Gefüge geronnen ist.

Getragen von waffenstarrender Gewalt und zugespitzten ökonomischen Zwangsverhältnissen etablieren die Ideologieschmieden des finalen Entwurfs ein gesellschaftliches Bewußtsein, das nicht länger vom Widerstreit konkurrierender Modelle geprägt ist. Wo es zuvor der Propaganda bedurfte, die bei aller Überzeugungskraft doch ihre Herkunft aus dem Konflikt alternativer Positionen nie verleugnen konnte und daher nach einer gewissen Frist erschöpft und als solche identifizierbar war, soll künftig eine Form umfassender Denkkontrolle das Spektrum des Vorstellbaren und Wünschenswerten fugenlos durchdringen. Von langer Hand geplante Konzepte geschienter Reduktion auf herrschaftskonforme Raster verbannen die Denkmöglichkeiten der Gegenbewegung in den Orkus des Undenkbaren.

Die frappierende Renaissance überwunden geglaubter Attribute von Gut und Böse im weltpolitischen Handlungskontext kommt nicht von ungefähr und sollte nicht als Rückfall in eine sinistre Vergangenheit mißdeutet werden. Sie repräsentiert vielmehr die Bemusterung künftiger Überlebenssicherung der Eliten im globalen Maßstab, die jedes Aufbegehren der ins Verderben getriebenen Mehrheit der Menschheit als Ausgeburt fanatischer Gesinnung bar jeder Vernunft, ja geradezu entmenschlichter Niedertracht diffamiert und auszurotten trachtet.

Angesichts dieser hermetischen Abschottung der bürgerlichen Subjekte kommt dem kritischen Diskurs eine außerordentliche Bedeutung zu, die nicht am Ausmaß seiner Verbreitung bemessen werden kann. Ihn zu pflegen, heißt den Keim des Unbehagens zu nähren, das sich unterhalb der Schwelle mediengenerierter Öffentlichkeit formiert. Drohen die aufoktroyierten Formeln und Konzepte auch jegliche abweichende Option zu ersticken, so rufen sie doch zugleich eine Gegenreaktion hervor. Wenngleich sich also Verlauf und Richtung des hereinbrechenden nächsten Entwicklungsschritts der Herrschaft prognostizieren lassen, ist damit keine Unausweichlichkeit formuliert. Mag die verbliebene Chance auch verschwindend gering anmuten, so ist die letzte Schlacht noch nicht geschlagen.

Im Kontext dieser Zuspitzung könnte die programmatische Namensgebung der Reihe "Widerspruch" erfrischender kaum sein, wie auch das Leitthema des Jubiläumsbands 50 mit "Alternativen!" sowie dem integrierten Teil "Neuformierung der Linken" der Gewalt des für unvermeidlich erklärten monolithischen Gesellschaftsentwurfs die Stirn bietet. Seit 25 Jahren hält das Zeitschriftenprojekt dem kritischen Geist die Treue und gibt jährlich zwei Themenhefte mit Beiträgen aus dem Wissenschafts- und Kulturbereich, aus Linksparteien und Gewerkschaften, aus der Ökologie, Friedens- und Frauenbewegung heraus. Der in der ersten Ausgabe vom März 1981 formulierte Anspruch, ein theoretisch-politisches Diskussionsforum zu schaffen und ein breites linkes Spektrum zu repräsentieren, konnte dank eines großen Kreises sachkundiger und parteiergreifender Autorinnen und Autoren, die ohne jedes Honorar für dieses Medium schreiben, eingelöst, konsolidiert und ausgebaut werden.

Die Beiträge geben durchaus unterschiedlichen Ansätzen und Ausrichtungen Raum, die indessen vielfach aufeinander Bezug nehmen und einen ebenso anregenden wie streitbaren Diskussionszusammenhang stiften. Das vorliegende Heft formuliert differenzierte Thesen zu den grundlegenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Umstrukturierungen, womit es thematisch an Heft 40 "Zukunfts-Perspektiven" aus dem Jahr 2001 anknüpft. Eingehend diskutiert werden insbesondere neo- und linkskeynesianische Konzepte alternativer Wirtschaftspolitik, sozial-, arbeits- und beschäftigungspolitische Innovationen, aber auch feministische und sozialemanzipatorische Positionen. Bezug genommen wird zudem auf die Neuformierung der Linken, wobei der Stellenwert alternativer Vorstellungen in den Organisations-, Programm- und Strategiedebatten zur Überprüfung ansteht.

Der emeritierte Professor für Politische Wissenschaften Elmar Altvater legt dar, auf welche Weise staatliches Handeln jene Rahmenbedingungen gezielt herbeiführt, die dann als begrenzter Spielraum wirtschaftspolitischer Gestaltung wie unvermeidlich auf einen ständigen Finanztransfer vom öffentlichen zum privaten Sektor hinauslaufen. Im Zuge dieses Prozesses nimmt betriebswirtschaftliches Effizienzkalkül Besitz von den gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, deren Privatisierung die vormaligen Bürger eines Gemeinwesens mit einem Kanon von Rechten in bloße Konsumenten mit individualisierter Kaufkraft verwandelt.

Die Privatisierungen verändern das Bewusstsein der Menschen. Der 'lock-in-Effekt' ist erst vollkommen, wenn den Menschen Alternativen zum privaten Eigentum, dem individualistischen und instrumentell-rationalen Umgang damit und zur Abstimmung der individuellen Wahlakte mittels des Marktmechanismus schon gar nicht mehr einfallen oder wie überflüssige Flausen ausgetrieben werden. Utopisches Denken, das für die Entwicklung von Alternativen unverzichtbar ist, wird abgewürgt, wenn die Rahmenbedingungen des Handelns wie die ehemalige Berliner Mauer und heute vielleicht die israelische Mauer unüberwindbar scheinen. (S. 8)

Altvater erhebt die Forderung nach einer solidarischen Ökonomie, die ein Gegenmodell zu den angeblichen Sachzwängen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse entwirft und zu realisieren trachtet. Eine derartige Alternative entfalte sich erst im Streit mit den angeblich alleingültigen ökonomischen Konzepten und deren politischer Protektion, wobei lokale Projekte, nationalstaatliche Wirtschaftspolitik und globale Vernetzung interagieren müßten, will man prekäre Arbeitsverhältnisse und elende Existenzweisen überwinden. Ihm schwebt dabei die Wiedereinbettung des Marktes in die Gesellschaft und die Überwindung der einfältigen Handlungslogik nach dem Äquivalenzprinzip vor, wobei dies kein Weg zurück sein dürfe, sondern einer der sozialen Emanzipation sein müsse.

Das Prinzip der Solidarität und Fairness ist den Prinzipien von Äquivalenz und Reziprozität entgegengerichtet, denn es geht vom gesellschaftlichen Kollektiv und nicht von Individuen und ihren marktvermittelten Beziehungen aus, und es kann nur in organisierter Form zur Geltung kommen. Auch wird keine hierarchische Regulation von Ökonomie und Gesellschaft von oben verlangt, im Gegenteil. Solidarität entsteht nur mit breiter Beteiligung von unten. Gemeinsame Anstrengungen zur Lösung eines gemeinsamen Problems sind gefragt. Jede(r) leistet einen solidarischen Beitrag nach seinen bzw. ihren Möglichkeiten, das heißt unter Bedingungen der Fairness. Solidarität setzt daher ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit und innerer Verbundenheit in einer Gesellschaft voraus, die in einer gemeinsamen Lebenserfahrung begründet sein kann, um ein großes Problem, beispielsweise Arbeitslosigkeit, Armut oder Rechtlosigkeit, zum Beispiel gegenüber transnationalen Unternehmen, oder zur Überwindung einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise, gemeinsam zu bewältigen. (S. 12)

Was unter Ökonomie zu verstehen sei, hat sich historisch gesehen des öfteren gewandelt und stellt sich heute für verschiedene Sphären der Gesellschaft durchaus unterschiedlich dar. Dies zu analysieren führt Luise Gubitzer ein Sektorenmodell der Gesamtwirtschaft ein, welches deutlich macht, daß in den einzelnen Lebensbereichen nach einer jeweils anderen Rationalität gearbeitet und gewirtschaftet wird. Während die gewinnmaximierenden Unternehmen das private Eigentum mehren, hat der Staat eine Reihe öffentlicher Aufgaben zu erfüllen. Davon zu trennen sind nicht profitorientierte Organisationen der Sozialarbeit, des Bildungswesens, der Beratung oder der Selbstverwaltung. In der Hauswirtschaft werden zahlreiche Tätigkeiten zumeist von Frauen unentgeltlich verrichtet, und schließlich umfaßt der illegale Sektor ein weites Spektrum paralleler, prekärer oder explizit kriminalisierter Erwerbsformen. Neoliberalismus zeichnet sich in diesem Zusammenhang dadurch aus, daß Gewinnmaximierung und individuelle Vorteilsrationalität des Profitsektors allen anderen Bereichen aufgezwungen werden. Dies führt zu einer forcierten Ausbeutung und Verelendung, wobei innergesellschaftlich wie auch global Bevölkerungen und Regionen in zunehmendem Ausmaß von der Sicherung des Überlebens ausgegrenzt werden.

Mit der verschärften Umlastung produktiver und reproduktiver Arbeitsleistung vom Gemeinwesen auf eine individualisierte Existenz untrennbar verbunden ist der Geschlechterwiderspruch, dessen Verhältnis zum Klassenwiderspruch zu den traditionellen Kernthemen der Frauenbewegung zählt. Diane Elson und Jasmine Gideon erläutern internationale Abkommen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der letzten Jahrzehnte im Überblick, wobei sie nicht zuletzt Strategien diskutieren, die über den legalistischen Ansatz hinausgehen. Wird die Geschlechterfrage als rein frauenspezifisches Problem behandelt, droht die damit verbundene Hierarchie als Deformation der gesamten Gesellschaft aus dem Blickfeld zu geraten. Die emeritierte Professorin für Soziologie Frigga Haug warnt vor dem Fehler der Linken, die Befreiung der Frauen dem Kampf gegen den Kapitalismus nachzuordnen. Noch grundlegender geht Claudia von Werlhof bei ihrer Kritik des Patriarchats zu Werke, das sie als dominante Linie dessen ausweist, was als Höherentwicklung und technischer Fortschritt in den Rang alleiniger Gültigkeit erhoben wird. Die Autorin zitiert neue Forschungsansätze, denen zufolge matriarchale Gesellschaften ohne Herrschaft, Staat und Klassen existiert hätten. Sie definiert Kapitalismus als verwirklichte Utopie des Patriarchats und kommt zu dem Schluß, daß die Linke für eine Alternative zum Patriarchat nicht zu interessieren sei.

Wenn die Linke wirklich solche Schwierigkeiten mit Alternativen zum Kapitalismus hat, dann ist dies aufgrund der Patriarchatsanalyse viel besser zu verstehen. Denn Kapitalismus ist kapitalistisches Patriarchat, und mit dem Kapitalismus würde auch das Patriarchat verschwinden, es sei denn, man verzichtet nur auf die Utopie des Patriarchats, und würde sich mit dem Patriarchat ohne 'utopischen Materialismus' begnügen. Dass die Linke aber ausgerechnet auf den 'technischen Fortschritt' verzichten wollte, ist wohl nicht anzunehmen, so, wie es noch unmöglicher ist, den Kapitalismus vom Patriarchat zu befreien, denn dann gäbe es ihn gar nicht. Der Kapitalismus ist erst aufgrund der Utopie des Patriarchats und dem [sic!] Versuch seiner Realisierung entstanden und daher existiert auch gar keine vom Patriarchat unabhängige 'Produktionsweise'! (S. 108)

Tritt an dieser Stelle die Diskrepanz der gezogenen Konsequenzen wohl am deutlichsten zutage, so darf andererseits als gemeinsame Plattform aller referierten Denkanstöße gelten, daß die anhaltende sozialökonomische Krise von tiefgreifenden Strukturveränderungen zeugt. Wenn Keynesianer und Neoliberale behaupten, es handle sich lediglich um eine Störung des Marktgleichgewichts, so trägt dies nur eine als objektive Gesetzmäßigkeit getarnte Ideologie vor. Aufschlußreich ist an dieser Stelle der Beitrag Arnold Künzlis über das "Geheimnis der Unsichtbaren Hand" zur Theoriebildung des Moralphilosophen Adam Smith, der als Gründervater der klassischen und neoklassischen politischen Ökonomie gilt. Dieser ließ sich von der Überzeugung leiten, eine solche "unsichtbare Hand" sorge dafür, daß bei freiem Spielraum der Wettbewerb der Marktkräfte das materielle und soziale Wohl der gesamten Gesellschaft hervorzaubere. Wie sich in ihren Anfängen besonders prägnant aufzeigen läßt, handelt es sich beim Theoriegebäude der kapitalistischen Marktwirtschaft um ein metaphysisches Konstrukt, das seine Verwandtschaft zu religiösen Glaubenssystemen nicht verleugnen kann.


WIDERSPRUCH Heft 50
Alternativen!
Redaktion Widerspruch, Zürich, 2006
228 Seiten, Euro 16,00
Pf. CH-8031 Zürich
www.widerspruch.ch
ISBN 1420-0945