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REZENSION/364: Heuwinkel/Nümann/Matscheko - Menschen pflegen, Bd. 2 (SB)


Annette Heuwinkel-Otter, Anke Nümann-Dulke, Norbert Matscheko


Menschen pflegen, Band 2

Pflegediagnosen, Beobachtungstechniken, Pflegemaßnahmen



Das in drei Bänden verfaßte Werk "Menschen pflegen" wendet sich an alle Personen, die im Bereich der Pflege tätig sind. Band 2 erläutert den Umgang mit Pflegediagnosen, den pflegediagnostischen Prozeß und die entsprechenden Pflegemaßnahmen.

Die Herausgeberinnen und der Herausgeber A. Heuwinkel-Otter, A. Nümann- Dulke und N. Matscheko, die neben zahlreichen anderen Autorinnen und Autoren selbst auch verschiedene Kapitel verfaßt haben, sehen in der Arbeit nach dem pflegediagnostischen Prozeß die Möglichkeit einer systematischen und effektiven Pflege. In Deutschland wird das Pflegen auf der Basis von Pflegediagnosen allerdings immer noch kontrovers diskutiert. Die Pflegediagnose entspricht nicht unbedingt der vom Arzt gestellten medizinischen Diagnose.

Eine medizinische Diagnose ist krankheitsobjektiv und orientiert sich i.d.R. an einzelnen Organsystemen. Sie wird vorwiegend durch technische Geräte ermittelt.
(aus Bd. 1, Schülerseite 81)

Die medizinische Diagnose Herzinfarkt beispielsweise wird u.a. durch ein EKG (Elektrokardiogramm) gesichert, die pflegerischen Maßnahmen vom Arzt verordnet und vom Fachpersonal durchgeführt. Die medizinische Diagnose war ursprünglich maßgeblich für alle medizinischen wie auch pflegerischen Indikationen.

Dies hat sich geändert, da im Zuge der zahlreichen Gesundheitsreformen der vergangenen zwei Jahrzehnte die Anforderungen im pflegerischen Bereich gewachsen sind. Aus Kostendämfungsgründen gilt es heute grundsätzlich, ambulant vor stationär zu behandeln. Das trifft für akute Erkrankungen ebenso zu wie für die Langzeitpflege. Damit wurde eine Umstrukturierung aller mit Pflege verbundenen Bereiche erforderlich.

Das Pflegen in ambulanten Einrichtungen bzw. das Arbeiten in einem ambulanten Pflegedienst fordert von der Pflegekraft eine noch größere Verantwortung; mehr als jemals zuvor muß sie in der Lage sein, selbständig Entscheidungen zu treffen und erste Maßnahmen einzuleiten.

In der ambulanten Pflege ist es üblich, daß das Pflegepersonal Pflegediagnosen stellt (z.B. Harnwegsinfekt bzw. Blasenentzündung bei liegendem Blasendauerkatheter) und den Hausarzt bittet, ein entsprechendes Rezept für das notwendige Hilfsmittel (z.B. Blasenkatheter) bzw. für ein Medikament auszustellen. In der Regel vertraut der Hausarzt den Fachkenntnissen der Pflegenden und folgt dem Vorschlag.
(aus Bd. 1, Seite 66).

Die Pflegediagnose bezeichnet

die Reaktion eines Menschen auf sein Problem. Sie basiert v.a. auf klinischer Beobachtung und schließt dabei die persönliche Umwelt dieses Menschen ein.
(aus Bd. 1, Schülerseite 81)

Um eine Pflegediagnose zu erstellen, werden zunächst Informationen gesammelt: verbale Hinweise, Veränderungen im Verhalten oder erkennbare Veränderungen des Körpers, die einen Hinweis auf eine Erkrankung geben können. Die Informationen werden analysiert bzw. interpretiert, danach synthetisiert (gebündelt), d.h. in Haupt- bzw. Nebenkennzeichen geordnet, damit die Pflegediagnose entsprechend den ermittelten Kennzeichen formuliert werden kann.

In Band 2 von "Menschen pflegen" wird der Auszubildende (oder Interessierte) beispielsweise in Kapitel H3 (Pflegediagnose "Herzleistung vermindert") unter 'Ein-blick' in die Anatomie und Physiologie des Herzens eingeführt. Er erlernt 'Kriterien der Beobachtung', die unter pflegerischen Gesichtspunkten einen Hinweis auf eine Herzerkrankung geben und wird mit 'Beobachtungstechniken' und allem, was in der Praxis zu beachten ist - dazu gehört auch die Dokumentation - vertraut gemacht. Hat er dies alles erfaßt, geht es um praktische Maßnahmen in der Krankenpflege, die bei "verminderter Herzleistung" zu einer Entlastung des Herzens führen.

In Band 2 wird der Lernende jedoch nicht die medizinische Diagnose Herzinfarkt erklärt finden. Das Krankheitsbild des Herzinfarkts kann in Band 3 unter demselben Pflegediagnosetitel nachgeschlagen werden. In Band 2 ist der pflegediagnostische Prozeß mit den entsprechenden Beobachtungtechniken und Pflegemaßnahmen das wesentliche.

Der Begriff Pflegediagnose stammt aus den USA und wurde dort 1953 geprägt. Da es in den USA keine sozialen Sicherungssysteme gibt, findet die medizinische Versorgung nach marktwirtschaftlichen Prinzipien statt. Dies hat dort zu wissenschaftlichen Ansätzen geführt, die Pflege systematischer und effektiver zu gestalten. So entstand auch der Pflegeprozeßgedanke: Pflegerelevante Probleme werden systematisch beschrieben, damit dann über die Auswahl und die Planung von Pflegemaßnahmen entschieden werden kann.

Der Pflegeprozeß folgt einem rationalen Denkschema, das den Pflegenden hilft bzw. sie zwingt, in klaren, kleinen Schritten zu denken, geplant zu handeln und sich zielbewußt zu verhalten.
(aus Bd. 1, Seite 34)

Im Laufe der Zeit entstanden verschiedene Modelle des Pflegeprozesses - eine modifizierte Version ist die von Heuwinkel, Nümann, Matscheko, wobei der pflegediagnostische Prozeß nur eine Phase darstellt. Als problematisch erwies sich, einheitliche Formulierungen für pflegerelevante Probleme zu finden. Eine verbindliche Terminologie und eine Internationale Taxonomie (Klassifikation, Ordnung) für Pflegediagnosen wurde schließlich 1982 mit der Gründung der North American Nursing Diagnosis Association (NANDA) geschaffen. Mittlerweile sind 172 international anerkannte NANDA-Pflegediagnosen (Sammelbegriffe) erarbeitet.

Um für den deutschsprachigen Raum schlüssige, alphabetisch sortierbare Sammelbegriffe zu schaffen, wurden die NANDA-Pflegediagnosen von den Herausgeberinnen und dem Herausgeber in "Menschen pflegen" zum Teil neu formuliert, ergänzt oder neu aufgenommen. Sie haben 60 als 'grundständig' bezeichnete Diagnosen formuliert und gehen davon aus, damit das Aufgabenspektrum der Pflege so gut wie vollständig abgebildet zu haben.

... wer diese 60 Pflegediagnosen beherrscht, wird jeden Menschen angemessen versorgen können.
(aus Bd. 2, Seite XXV)

A. Heuwinkel-Otter, A. Nümann-Dulke und N. Matscheko nennen als Vorteile des Pflegens anhand von Pflegediagnosen: seltenere Mißerfolge, eine systematische und zielgerichtete, organisierte Pflegearbeit, das Vermeiden der doppelten Ausführung von Aufgaben, die Zeit und Mittel kostet, und eine kürzere, effizientere und inhaltlich substanziellere Übergabe.

Mit ihrem Konzept des Pflegeprozesses vollziehen die Herausgeberinnen und der Herausgeber die durch die Gesundheitsreformen eingeforderten Maßnahmen mit. Diese legen u.a. kostensparendes Wirtschaften nahe, wozu auch der Pflegende angehalten wird. Erste Schritte in diese Richtung müssen bereits in der Ausbildung greifen und so wundert es nicht, daß die vorliegenden drei Bände sich an den oben genannten Vorgaben orientieren.

Die Autorinnen und der Autor halten sich dementsprechend an Paragraph 3 Ausbildungsziel des 2004 novellierten Krankenpflegegesetzes:

... (2) Die Ausbildung für die Pflege nach Absatz 1 soll insbesondere dazu befähigen 1. die folgenden Aufgaben eigenverantwortlich auszuführen:

a) Erhebung und Feststellung des Pflegebedarfs, Planung Organisation, Durchführung und Dokumentation der Pflege,

b) Evaluation der Pflege, Sicherung und Entwicklung der Qualität der Pflege,

c) Beratung, Anleitung und Unterstützung von zu pflegenden Menschen und ihrer Bezugspersonen in der individuellen Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit,

d) Einleitung lebenserhaltender Sofortmaßnahmen bis zum Eintreffen der Ärztin oder des Arztes.
(aus Bd. 1, Seite 66)

Das theoretische Planen, das Zerlegen in kleinste Schritte, in das Denkschema eines "Pflege"-Prozesses, erfordert viel guten Willen und einiges Anpassungsvermögen, denn die Pflegekraft erwirbt ihr Urteilsvermögen und ihre Fähigkeit, umgehend effektive Maßnahmen zu ergreifen, im Verlauf der praktischen Tätigkeit. Das räumen auch die Autorinnen und der Autor ein:

Erfahrene Pflegende erkennen häufig mit einem ersten Blick auf den Patienten (oder in den Arztbrief bzw. die Krankenakte) in welcher Situation oder Verfassung sich der Betroffene befindet. Der pflegediagnostische Prozess verläuft somit verkürzt. Gleichzeitig mit der Erfassung der Situation legen sie Handlungsprioritäten (z.B. bei Lebensgefahr Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Vitalfunktionen) oder die Richtung fest, in die Pflegemaßnahmen gehen müssen (z.B. palliative Pflege).
(aus Bd. 1, Seite 64, Insidertip)

Das Arbeiten nach dem Modell des Pflegeprozesses bzw. das Erstellen von Pflegediagnosen ist eine für den Pflegenden atypische Herangehensweise. Ein wirklicher Vorteil ist nicht ersichtlich, zumal es offensichtlich einiger Motivation bedarf, die Arbeit mit dem Pflegeprozeß durchzusetzen. Der Lernprozeß der von A. Heuwinkel- Otter, A. Nümann-Dulke und N. Matscheko angepriesenen Methode erfordert eine konsequente Begleitung und Schulung anhand exemplarischer und praktischer Fallbeispiele über drei Jahre hinweg. "Ohne diese Motivation wird jeder Versuch einer Pflegeprozesseinführung scheitern (aus Bd. 1, Seite 48/49)."

Das systematisierte, kontrollierte, auf Kostenminderung abzielende Wirtschaften in der Pflege, dem der Pflegeprozeßgedanke dient, hat weitreichende Konsequenzen für den pflegebedürftigen Menschen. Die dem Versicherten nach den gesetzlichen Vorgaben zustehenden Leistungen sind häufig mehr als unzureichend und gewährleisten eine fachgerechte und angemessene Pflege nicht. Die Reformen im Namen der Wirtschaftlichkeit haben dazu geführt, daß die medizinische Versorgung in einem immer enger abgesteckten Rahmen stattfindet. Kranken- wie Pflegekassen kommen lediglich für einen Teil der Behandlungs- bzw. Pflegekosten auf. Da in Deutschland breite Bevölkerungsteile zunehmend verarmen, können lediglich einige wenige Menschen für zusätzlich anfallende Kosten aufkommen. Eine menschenwürdige, medizinische Versorgung wird so fraglich.

Dieser dominierend ökonomische Aspekt bleibt in den Ausführungen der Autorinnen und des Autors unberücksichtigt. Ihrer Meinung nach haben sie mit dem Erstellen von 60 grundständigen Pflegediagnosen und deren Klassifikation (A1, A2, A3 etc.) den Grundstein gelegt, Pflegeleistung nicht nur transparent und nachvollziehbar, sondern noch dazu abrechnungsfähig zu machen.

Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber diese Möglichkeit der Leistungserfassung aufgreift und gemeinsam mit den Pflegenden weiterentwickelt oder ob er an seinem bisherigen Konzept der Verordnung von Pflegemaßnahmen durch den Arzt festhält. Die Entwicklung in Europa läßt jedoch ahnen, daß auch in Deutschland in den nächsten Jahren ein Umdenken diesbezüglich erfolgen wird.
(Bd. 2, Seite XXV)

Es liegt nahe, daß sich das Erlernen von Pflege nach dem Pflegeprozeßgedanken durchsetzen wird. Vorrangig bedeutsam sind auch heute schon die Vorgaben von Kranken- und Pflegekassen; Pflegemaßnahmen werden sich zukünftig daran orientieren müssen. Diese Entwicklung, die schon längst gegriffen hat, findet schleichend und kaum merklich statt. Mit ihrem dreibändigen Werk helfen die Herausgeberinnen und der Herausgeber, den Weg in diese Richtung weiter zu ebnen.

Praktisch gesehen ist "Menschen pflegen" ein ausgesprochen nützliches Nachschlagewerk. Allerdings empfiehlt es sich, Band 2 und Band 3 zusammen zu erwerben; Band 2 beleuchtet eher die pflegerischen, Band 3 die medizinischen Aspekte. In beiden Bänden sind die gleichen Pflegediagnosetitel alphabetisch angeordnet zu finden. Wie bereits oben erwähnt, wird allerdings über Krankheitsbilder wie beispielsweise den Herzinfarkt oder den Diabetes mellitus nur in Band 3 ausführlich informiert.

Nach einer kurzen Wiederholung zum Verständnis der Anwendung von Pflegediagnosen werden in Band 2 die 60 grundständigen Diagnosen der Herausgeberinnen und des Herausgebers formuliert. Die unterschiedlichen Diagnosen mit dem Anfangsbuchstaben 'H' sind numerisch betitelt, beispielsweise H1 - Haushaltsführung beeinträchtigt, H3 - Herzleistung vermindert. Diese Klassifikation kann den Angaben der Herausgeberinnen und des Herausgebers zufolge zu Dokumentationszwecken ebenso genutzt werden, wie die internationale NANDA-Taxonomie.

Abgesehen von der sehr gewöhnungsbedürftigen Methode, nach Pflegediagnosetiteln vorzugehen, sind die Kapitel ausführlich und mithilfe von zahlreichen Photodokumentationen und tabellarischen Übersichten strukturiert. Der Auszubildende findet immer unter IN KÜRZE den vollständigen Pflegediagnosetitel, die entsprechende 'NANDA- Taxonomie' und schließlich 'Risikofaktoren' und/oder 'Kennzeichen'. Es folgen eine Begriffserklärung, der 'Ein-blick - In den Körper', 'Kriterien der Beobachtung' sowie 'Beobachtungstechniken'. Leider sind die pflegerischen Maßnahmen nicht explizit als solche betitelt.

Mit viel Witz gestaltet, mit kleinen Cartoons, kurzen Randinformationen zum Thema oder Fragen zum Verständnis endet jedes Kapitel mit der Schülerseite. Am Buchende stehen 'Gewußt was: Glossar' (einige im Text blau hervorgehobene Worte werden hier erläutert), 'Gewußt woher: Abbildungsverzeichnis' und 'Gewußt wo: Stichwortverzeichnis'. Band 2 umfaßt ca. 1000 Seiten und kostet 34,95 Euro.

20. Dezember 2006


Heuwinkel/Nümann/Matschko
Menschen pflegen
Band 2
Springer Medizin Verlag, Heidelberg 2006
1031 Seiten, Euro 34,95
ISBN 3-540-23507-8