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REZENSION/407: Bernecker u.a. (Hg.) - Lateinamerika 1870 - 2000 (SB)


Bernecker u.a. (Hg.)


Lateinamerika 1870 - 2000

Geschichte und Gesellschaft



Als der kolumbianische Schriftsteller Gabriel Garcia Marquez im Jahr 1982 den Literaturnobelpreis erhielt, sprach er in seiner Stockholmer Dankesrede von einer neuen und umwälzenden Utopie eines Lebens, in dem niemand darüber verfüge, wie andere zu sterben hätten, in dem sich Liebe als wahrhaftig erweise und Glück möglich sei. Eines Lebens, in dem die Völker, die zu hundert Jahren Einsamkeit verurteilt seien, am Ende und für alle Zeit eine zweite Chance auf Erden bekämen.

Ohne dem Streit der Literaten und Kritiker Tribut zu zollen, kann man "Hundert Jahre Einsamkeit" durchaus als Leitroman Lateinamerikas würdigen, bringt er doch auf geradezu programmatische Weise das Verhängnis des Kontinents auf einen Begriff. Dies war und blieb eine Weltregion, über die andere Mächte verfügten, ohne daß sie je aus deren Schatten getreten wäre und Impulse gesetzt hätte. Ein Reich vielfältigster Ressourcen, die der unablässigen Plünderung anheimfielen und niemals eine eigenständige Entwicklung beflügelten. Und nicht zuletzt ein Luftschloß ewigen Wunschdenkens, das sich den abgöttisch verehrten Metropolen des Fortschritts in der vergeblichen Hoffnung andiente, ein Abbild aus zweiter Hand könne es eines Tages dem Original gleichtun.

Elend, Rückschrittlichkeit und ein Unvermögen, sich aus eigener Kraft über dieses Schicksal zu erheben, schien nicht nur die Staatsgebilde, sondern gleichsam von Grund auf die dort vermengten Völkerschaften wie eine unabwendbare Erblast niederzudrücken. Von der Moderne abgehängt und marginalisiert, galt Lateinamerika als vergessener Kontinent, dessen "hundert Jahre Einsamkeit" sowohl nach außen hin die Isolation vom Puls der Zeit, als auch im Innern die Aufsplitterung in zänkische Fraktionen bis hin zur unüberbrückbaren Ferne des Mitmenschen versinnbildlichten.

Wenn Marquez sein Werk nicht als Elegie mißverstanden wissen wollte, sondern zur Verwunderung seiner Zuhörer von einer Utopie und zweiten Chance für eben diese Völker sprach, gestand man ihm dies milde lächelnd als frommen Wunsch eines Kindes seiner Provenienz zu, das es eben nicht besser weiß, als von einem wundersam glücklichen Ausgang zu fabulieren. Nichts konnte aus Lateinamerika kommen, das aus europäischer Sicht im großen Weltgeschehen je Bedeutung und Einfluß erlangen würde, weshalb man auch von Schwellenländern sprach, wenn man dem höchsten dort erreichbaren Entwicklungsstand einen Namen gab, der das Verhältnis zweifelsfrei definierte: Der angemessene Platz dieser Völker war günstigstenfalls vor der Tür, niemals jedoch im Haus.

Nicht anders dachten die Nordamerikaner, zumal sie Lateinamerika nach jahrhundertelanger sukzessiver Vereinnahmung im Zuge ihres imperialen Strebens kurzerhand zu ihrem Hinterhof erklärten. In einer perfiden Scharade gaukelte George W. Bush zum Auftakt seiner ersten Amtszeit den südlichen Nachbarn vor, sie stünden ganz oben auf seiner Tagesordnung. Längst plante er den großen Krieg, für den er den Rücken freihaben wollte. Und so speiste er die anspruchslosen Völkerschaften schlichten Gemüts mit einem leeren Versprechen ab, das nach dem 11. September 2001 hinfällig war, der die Welt in Kreuzzügler und Schurken teilte. Was immer Staaten und Völker Mittelamerikas, Südamerikas und der Karibik an Hilfe seitens der USA erhofft haben mochten, war über Nacht irrelevant geworden. Als einzig legitime Option verblieb nun, einen Beitrag zum Kriegszug zu leisten und ansonsten den Mund zu halten.

Als sich die Strategen künftiger Herrschaftsicherung anschickten, ein Inferno auszulösen, das die Endzeitstimmung der Naturkatastrophen und Hungersnöte durch die menschengemachte Apokalypse der Endschlacht zwischen Gut und Böse überholen und somit das Überleben der Eliten zu Lasten der Mehrheit der Menschheit sicherstellen soll, regte sich unverhofft Widerstand; nicht in den Metropolen, wo man sich der Supermacht andiente und einander die Bälle vorgetäuschter Skrupel und martialischer Vorstöße wechselweise zuspielte, um der Bevölkerung die Überzeugung zu implantieren, anders seien ihre schwindenden Fleischtöpfe unmöglich zu verteidigen.

Die einzige Weltregion, die sich dem Schulterschluß im inszenierten "Antiterrorkampf" auf breiter Front verweigerte, war Lateinamerika. So groß war dort die Ablehnung des Irakkriegs, daß sich von randläufigen Ausnahmen abgesehen selbst die US-freundlichsten Regierungen mit Rücksicht auf die Stimmung in ihren Ländern davor hüten mußten, dem massiven Druck Washingtons nachzugeben und Handlangerdienste bei der Legitimierung und Durchführung des Angriffskriegs zu leisten. Der verächtlich als Anhängsel marginalisierte unmittelbare Einflußbereich der USA, dessen Widerstand gegen den Imperialismus und das neoliberale Zwangsregime tot und begraben schien, reckte plötzlich die Faust, verweigerte die panamerikanische Freihandelszone, rückte enger zusammen und schenkte in wachsendem Maße dem Entwurf des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez Gehör, der sich vor den heranrollenden Zug stellte, um eine Weichenstellung zu erzwingen.

Politischer Diskurs und gesellschaftliche Praxis haben heute vielerorts in Lateinamerika ein Niveau erreicht, demgegenüber das Mehrheitsinteresse der Bürger Europas nachgerade versteinert anmutet. Für die Hegemonialmacht aber gilt: Die US-Amerikaner glaubten, Lateinamerika vergessen zu können. Nun stellen sie mit Entsetzen fest, daß die Länder des Südens ihre Übermacht weder vergessen noch vergeben haben. Geschichte und Gesellschaft Lateinamerikas zu studieren, ist daher im Licht jüngster Entwicklungen weit über historische Gelehrsamkeit hinaus erhellend und bedeutsam, will man die monolithische neue Weltordnung nicht in einem Akt vorauseilenden Gehorsams für unabwendbar erklären, obgleich sie ihr strategisches Ziel noch längst nicht erreicht hat.

Der vorliegende 15. Band der Edition Weltregionen bietet mit seiner Auswahl relevanter Kernthemen Lateinamerikas der Jahre 1870 bis 2000 eine ebenso fundierte wie anregende Lektüre, die gezielt Schwerpunkte setzt. Wer Kenntnis sucht, wird mit einer Fülle aufschlußreicher Hinweise versehen, die eine fortgesetzte Beschäftigung nahelegen. Nicht minder findet ein Bedürfnis nach Vertiefung vorhandener Grundlagen des Lesers seine Entsprechung, wenn einerseits die Diversität des Kontinents herausgearbeitet und andererseits strukturelle Gemeinsamkeiten und parallele Verläufe der historischen Entwicklungen abgeleitet werden.

Es bleibt die Herausforderung einer derart breit angelegten Gesamtdarstellung einer ganzen Weltregion, noch dazu über den gewaltigen Zeitraum vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, weder der umfassenden chronologischen Darstellung die Konturschärfe der Einzelaspekte zu opfern, noch sich in Detailfragen zu verrennen und darüber das Ringen um den roten Faden aus dem Blick zu verlieren. Indem die Aufsatzsammlung bewußt keine umfassende Abhandlung der historischen Entwicklung Lateinamerikas in dieser Periode beabsichtigt, sondern eine allgemeine Orientierung mit der Diskussion besonders interessierender Spezialfragen zu verbinden sucht, trägt sie dem Lesevergnügen ebenso Rechnung wie dem Studienwunsch.

Als sich die lateinamerikanischen Staaten der institutionellen Klammer spanischer und portugiesischer Kolonialmacht entledigten, stellte sie die errungene Unabhängigkeit vor eine Vielzahl neuer Herausforderungen, die man als Einbindung in den globalisierten Warenverkehr charakterisieren kann. Während die verkrusteten Strukturen tradierter Herrschaft im Innern jeder sozialen Umgestaltung gewaltige Steine in den Weg legten, rief ein liberalisierter Außenhandel innovative Zwangsverhältnisse auf den Plan. Tiefstes Elend, schwere Wirtschaftskrisen und grausame Diktaturen prägten das Antlitz des Halbkontinents, doch brachte er auch gesellschaftliche Visionen, nationale Revolutionen und internationale Solidarität hervor.

In vielfältig ausgeprägten Varianten und Sonderwegen, doch zugleich wiederkehrende Grundmuster reflektierend entfalteten sich die gesellschaftlichen Widersprüche der Länder Lateinamerikas. Dabei folgten herrschaftsstrategische Prozesse nicht etwa einer Regie, die auf Grundlage umfassender Kontrolle nur die Stichworte zu geben bräuchte, um die Handlung nach Drehbuch ablaufen zu lassen. Verschiedene Kräfte auszusteuern, partielle Widersprüche zu funktionalisieren und Gegnerschaft auf dem Weg der Beteiligung einzubinden, zeichnet die hohe Kunst der Herrschaftsicherung in einem perspektivischen Sinne aus. Ohne die immensen Kapazitäten des Machterhalts zu unterschätzen, trägt dieser gerade in seinem Streben nach einem ebenso lückenlosen wie unumkehrbaren Gesamtentwurf und dem damit verbundenen Zwang zur fortgesetzten Expansion den Keim der Überforderung eigener Mittel und Möglichkeiten in sich.

"Ach, armes Mexiko, so fern von Gott und so nah den Vereinigten Staaten!" Diese geflügelten Worte des mexikanischen Präsidenten der Jahre 1876 bis 1880 und 1884 bis 1911, Porfirio Díaz, nahmen gleichsam vorweg, was im Washingtoner Konsens endgültig besiegelt schien. Das letzte Wort war damit jedoch keineswegs gesprochen: Mochte dieser Deckel den Topf lateinamerikanischen Aufbegehrens auch hermetisch schließen, so förderte er gerade dadurch einen lange überhörten Siedeprozeß, der nun zum Ausbruch drängt.

25. September 2007


Bernecker u.a. (Hg.)
Lateinamerika 1870 - 2000
Geschichte und Gesellschaft
Promedia Verlag, Wien 2007
263 Seiten
24,90 Euro
ISBN 978-3-85371-270-2