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REZENSION/408: offen-siv (Hrsg.) - Niederlagenanalyse (SB)


Niederlagenanalyse


Die Ursachen für den Sieg der Konterrevolution in Europa

Reprint der besten Offensiv-Artikel



Die Frage nach den Gründen des bisherigen Scheiterns sozialrevolutionärer kommunistischer Bewegungen wird im herrschenden Diskurs nicht wirklich gestellt. Um zu vermeiden, sich mit den Problemen auseinanderzusetzen, die die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderung überhaupt in die Welt gesetzt haben, wird sie vor jeglicher bemühten Erörterung der relevanten Faktoren dieser historischen Entwicklung mit dem gleichen ideologischen Furor beantwortet, der bereits die Auseinandersetzung zwischen der kapitalistischen und sozialistischen Staatenwelt bestimmt hat. Kurz gesagt, die bürgerliche Publizistik hat zu diesem Thema nichts anzubieten, das nicht schon in der Soße altbekannter Propaganda geschwommen wäre und nicht auf die anhaltende Diffamierung der Sowjetunion, der mit ihr verbündeten Staaten und der kommunistischen Parteien in der westlichen Welt hinausliefe.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums klafft heute vor allem eine große Lücke. Wenn sie sich nicht ohnehin unter anderem Namen neugegründet haben und sozialdemokratischen Zielen folgen, wollen viele der einst großen kommunistischen Parteien Europas, die heute noch dieses begriffliche Symbol einer angeblich überkommenen Epoche im Namen führen, vor allem ihr angestammtes Klientel und eventuell vorhandenes Parteivermögen sichern. Andere bekennen sich womöglich zum Fernziel der Etablierung einer sozialistischen Gesellschaft, arbeiten jedoch praktisch daran, ihren Anteil am Kuchen der Privilegien und Pfründe zu sichern, die die staatlich orchestrierten Demokratien Europas vergeben, um kapitalistische Herrschaft zu legitimieren.

In einer politischen Landschaft, in der der Niedergang des größten Teils der sozialistischen Staatenwelt mit der Proklamation des Endsiegs liberaler Demokratien nach dem Vorbild der USA quittiert wurde, muß man Stellungnahmen von Kommunisten, die an der revolutionären Tradition von Marx und Lenin festhalten, mit der Lupe suchen. Um so interessanter ist die Lektüre der Schrift "Niederlagenanalyse", in der die Redaktion der kommunistischen Zweimonatszeitschrift offen-siv anhand einer Auswahl dort bereits erschienener Artikel die Diskussion um "die Ursachen für den Sieg der Konterrevolution in Europa" eröffnet hat.

Durch alle Seiten des umfangreichen, enggedruckten Werks weht ein entschieden streitbarer Geist, der vor allem das als konterrevolutionär herausarbeitet, was in der allmählichen Transformation des wissenschaftlichen Sozialismus Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem ideologischen Gegner signalisiert. Die Analyse der Tendenzen, die der Ansicht der Autoren nach zum Ergebnis des Niedergangs der Sowjetunion und der sozialistischen Staatenwelt Osteuropas geführt haben, ist notwendigerweise von der Schärfe bestimmt, die die damaligen Akteure in der Bewahrung des bereits Errungenen haben missen lassen. Wenn es um nichts Geringeres als die systemischen Grundlagen der Vergesellschaftung des Menschen, die alle Belange seiner Lebensform und -führung betreffen, geht, kann man sich analytische Nachlässigkeit und konzeptionelle Schwammigkeit nicht erlauben.

So ringen die Autoren nicht nur unter dem Titel "Grundsätzliches", sondern in allen fünf Abteilungen des Buches spürbar um die Sicherung des eigenen Standpunkts im Verhältnis zu ideologisch verwandten wie konträren politischen Strömungen. Dabei zieht sich das theoretisch-programmatische Fundament des Marxismus-Leninismus wie ein roter Faden durch die einzelnen Beiträge und belegt, daß es den Autoren tatsächlich um die grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und nicht nur ihre reformistische Modifikation geht. Die Unbescheidenheit dieses Ansatzes hebt sich auf erfrischende Weise von den vorsichtigen Abwägungen und beschwichtigenden Aufrufen zur Mäßigung ab, mit denen etwa in der Partei Die Linke über das Ausmaß antikapitalistischer Rhetorik respektive die Frage, ob man überhaupt so weit gehen sollte, das herrschende System in Frage zu stellen, verhandelt wird.

Der Opportunismus des systemimmanten Manövrierens ist die Sache der offen-siv-Autoren nicht, das macht sie in ihrer Kritik an reformistischen Parteien und der Aufarbeitung konterrevolutionärer Entwicklungen glaubwürdig. Neben der Analyse der imperialistischen Strategie, nach einer Phase der unversöhnlichen antikommunistischen Konfrontation zu Strategien der Kooperation und Kooptation überzugehen, um das sozialistische Staatensystem praktisch von innen heraus zu Fall zu bringen, wird die historische Entwicklung der Sowjetunion unter dem Gesichtspunkt der revisionistischen Degeneration des Vermächtnisses der Oktoberrevolution untersucht.

Von besonderem Interesse ist ein Beitrag von Andrea Schön zu "Geschichtslügen: Fundamente des Anti-'Stalinismus'", der klassische Behauptungen und wie selbstverständlich kolportierte Daten antikommunistischer Propaganda in Frage stellt und widerlegt. Nicht nur sehr instruktiv, sondern auch engagiert geschrieben ist die Abhandlung von Kurt Gossweiler über "Die Zwiebel Gorbatschow", in der der Werdegang des Totengräbers der Sowjetunion durch die diversen Stationen seines politischen Lebens bis hin zu seinem Bekenntnis, von Anfang an nichts anderes geplant zu haben, als den Kommunismus zu zerschlagen, ausgebreitet wird.

Von großem Interesse ist auch die Auseinandersetzung mit der Sonderrolle Jugoslawiens unter Tito und der von Gossweiler und anhand eines historischen Artikels der KP Chinas geführte Nachweis, daß der von Linken im Westen als sozialistischer Mittelweg zwischen Ost und West geschätzte Staat der Südslawen weder wirklich blockfrei noch wirklich sozialistisch war. Die tragische Entwicklung, daß die NATO an der Bundesrepublik Jugoslawien vollzogen hat, worauf man bei der Sowjetunion angesichts ihrer militärischen Stärke verzichtete, zeigt allerdings, daß sogar sozialistische Restbestände, wenn sie nicht bereitwillig preisgegeben werden, Anlaß zu aggressiver Zerstörung dieses Hindernisses kapitalistischer Expansion sein können.

Insbesondere für bundesrepublikanische Leser aufschlußreich sind die Beiträge zur DDR. Der Herausgeber der geheimdienstkritischen Zeitschrift Geheim, Michael Opperskalski, widmet sich der äußeren, der inzwischen verstorbene Rolf Vellay der inneren Zerschlagung der DDR, und Andreas Reichel referiert über Probleme des Landes bei der Beschaffung von Energierohstoffen. Berichte über den Niedergang der kommunistischen Parteien Westeuropas runden den historischen Teil des Buches zu einem durchaus bitteren Resümee ob der verlorengegangenen Chancen einer gesellschaftlichen Veränderung zum Besseren ab.

Im abschließenden Ausblick erklärt Frank Flegel, Redakteur und Organisator von offen-siv, die Grundzüge der marxistischen Werttheorie, und Opperskalski pocht noch einmal auf die Bedeutung des wissenschaftlichen Charakters kommunistischer Politik. Von besonderem Interesse ist auch die Standortbestimmung der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), da ihr eine Kritik der im Rahmen der Europäischen Union gegründeten Europäischen Linkspartei (ELP) und der Sozialforumsbewegung zu entnehmen ist. Wie auch an anderen Stellen des trotz des Abdrucks von Artikeln und Vorträgen aus einem größeren Zeitraum inhaltlich konsistenten Buches erweitert die dezidierte Kritik von links an linken Parteien und Organisationen das Spektrum des gesellschaftspolitischen Diskurses erheblich.

Das zentrale Thema des Konters innerhalb revolutionärer Bewegungen wirft über die theoretische Konzeption hinaus allerdings die Frage danach auf, welcher Qualitäten und Eigenschaften es bedarf, eine elementare Veränderung in einer mit allen Mitteln administrativer Herrschaft, ökonomischen Raubes und militärischer Gewalt durchgesetzten Gesellschaftsordnung zu bewirken. So steht das Streben nach individuellen Vorteilen diesem Anliegen nicht weniger im Weg als die Mechanismen staatlicher Bestandssicherung und eine auf Überlebenskonkurrenz basierende Wirtschaftsweise. Darauf zu hoffen, daß die neue Welt auch den neuen Menschen gebiert, setzt voraus, daß die materiellen Umstände derart dominant sind, daß der einzelne ihnen gegenüber auf totale Reaktivität festgelegt ist.

Ebensogut könnte man postulieren, daß die Beendigung der Herrschaft des Menschen über den Menschen dort beginnt, wo der Revolutionär ohne jegliches Kalkül auf Gewinn und Verlust, ohne Streben nach persönlicher Anerkennung und institutioneller Würdigung seinen Prinzipien treu wirksam wird. Warum sollte der Kommunismus vor seiner gesellschaftlichen Durchsetzung nicht im persönlichen Engagement verwirklicht werden und damit den Grundstein zu seiner weiteren Durchsetzung legen? Die Frage, warum der Konter selbst kleinste Einheiten gemeinsamen Kampfes kontaminiert, wird in der Analyse der politischen Strategien des Revisionismus nur bedingt tangiert.

Das gilt auch für das Problem menschlicher Bedürfnisse, die die Erfordernis ihrer ökonomischen Befriedigung determinieren, in ihrer quasi naturgegebenen Gültigkeit jedoch nicht in Frage gestellt werden. Die zwischen Sein und Bewußtsein ausgespannte Dialektik birgt mit der unhinterfragten Inanspruchnahme anthropologischer Konstanten biologischer Bedingtheit eine Fehlerquelle, die das Scheitern des historischen Fortschritts in Kauf nimmt, weil die Konfrontation mit dem Problem, daß der Mensch schon vor dem Sozialkampf ein räuberisches Wesen war, außen vor bleibt. So wäre es leichtfertig, Ökonomie als Kategorie natürlicher Fülle aufzufassen, auf die wie selbstverständlich zurückzugreifen wäre, um eine ideale Gesellschaft zu verwirklichen.

Das Problem des Mangels ist nicht nur konstitutiv, weil der Mensch von Bedürfnissen getrieben wird, sondern weil er diese bis hin zur Schaffung einer komplex strukturierten kapitalistischen Mangelordnung gegen den andern ins Feld führt. Ob die Produktivkraftentwicklung in den Nutzen aller Menschen zu stellen ist, ist nicht nur eine Frage des Eigentums der Produktionsmittel, sondern auch des Zugriffs auf Ressourcen endlicher Art wie des nicht nur aus gesellschaftlichen Gründen fremdbestimmten Charakters menschlicher Arbeit. Eine auf positivistischen Grundlagen basierende Gesellschaftswissenschaft enthält so viele unausgelotete Voraussetzungen, daß der potentielle Kontrollverlust, der den geplanten Verlauf jeder politischen Willensbildung bedroht, mit ihren Mitteln nicht in den Griff zu bekommen ist. Hier tun sich viele Fragen auf, die weiterzuentwickeln im Interessen jedes Menschen sind, der sich nicht damit zufrieden geben will, in einer von Zwang und Not getriebenen Welt zu leben. Der bislang unvollständigen Verwirklichung des Kommunismus gemäß relativiert sich die Niederlage ebenso, wie es der Sieg seiner Gegner tut.

26. September 2007


offen-siv (Hrsg.)
Niederlagenanalyse
Die Ursachen für den Sieg der Konterrevolution in Europa
Einzelverlag, Offensiv, Frank Flegel, Hannover 2007
378 Seiten, 12,50 Euro
ISBN: 978-3-00-021905-4