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REZENSION/416: Yehudit Kirstein Keshet - Checkpoint Watch (SB)


Yehudit Kirstein Keshet


Checkpoint Watch

Zeugnisse israelischer Frauen aus dem besetzten Palästina



Der Nahostkonflikt ist kein Sonderfall der Menschheitsgeschichte, wohl aber das Paradebeispiel einer Staatsgründung, die sich gleichsam im Zeitraffer und Fokus weltweiter Aufmerksamkeit vollzog, samt den daraus resultierenden Elendsfolgen für die unterworfenen Palästinenser. Der Staat Israel gründet auf der Vertreibung eines anderen Volkes und der Vernichtung seiner Kultur, die noch längst nicht abgeschlossen ist. Was seit Jahren als systematische ethnische Säuberung betrieben wird, könnte als strategischer Entwurf in letzter Konsequenz darauf abzielen, die Palästinenser vollständig selbst aus jenen verbliebenen Territorien zu verdrängen, die von israelischer Seite Schritt für Schritt dezimiert werden.

Juden aus aller Welt, die auf der Flucht vor Drangsalierung und unerträglichen Lebensverhältnissen nach Israel gekommen sind, sehen sich dort mit einer Grundsatzentscheidung konfrontiert. Ist dies ihr gelobtes Land, das ihnen gleichsam als Erbrecht ihres Volkes zusteht und dessen Verteidigung mit Zähnen und Klauen ihre heiligste Pflicht darstellt? Haben sie nicht als Flüchtlinge endlich eine sichere Heimat erreicht und in diesem Hort der Geborgenheit eine Existenz in relativem Wohlstand verdient? Ist nicht der Vorrang des eigenen Überlebens in angemessenen Umständen angesichts der persönlichen Lebensgeschichte und der Leiden des jüdischen Volkes mehr als gerechtfertigt? Dies scheint die Überzeugung zu sein, die von einer breiten Mehrheit der Israelis verfochten wird.

Noch sind es wenige, die Skrupeln und Zweifeln Raum geben. Was sollte das für eine Zuflucht und Rettung sein, die mit dem Leid eines anderen Volkes erkauft ist? Wie kann man sich auf erlittene Not berufen, wenn man diese nun ungerührt anderen Menschen aufbürdet? Kann der Schlachtruf "Nie wieder!" denn allen Ernstes auf das eigene Volk beschränkt und gegen das andere gewendet werden? Der tiefste Graben trennt nicht Israelis von Palästinensern, sondern die Dominanz des eigenes Überlebens um jeden Preis vom Streit gegen das Leiden aller.

"Checkpoint Watch" legt ein persönliches Zeugnis ab, wie es eindringlicher nicht sein könnte. In einem Bericht von außerordentlicher Intensität und Dichte wird der Leser an die erschütternde Erfahrung herangeführt, die zuerst eine Handvoll und schließlich mehr als fünfhundert israelische Frauen machten, die sich zu der Organisation Machsom Watch zusammengeschlossen haben. An den Kontrollposten bei Jerusalem und im Westjordanland, den markanten Schnittstellen des Besatzungsregimes mit der alltäglichen Drangsalierung der Palästinenser, konfrontieren sie sich mit einer Grausamkeit und Folgekonsequenz, die sich nur jenen erschließt, die sich nicht abwenden und durch ihr Schweigen das Unvorstellbare erst möglich machen.

In ihrem Vorwort hält Amira Hass einen Vergleich mit der Gleichgültigkeit und Komplizenschaft der deutschen "Volksgenossen" in den dreißiger und vierziger Jahren für durchaus statthaft, nimmt doch die Mehrheit der Israelis die physische und psychische Unterdrückung der Palästinenser hin und heißt sie sogar gut. Wie das Schweigen der deutschen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit das damalige Regime ermutigt habe, immer ausgeklügeltere und gewalttätigere Schritte in Richtung Endlösung zu tun, mache dieselbe Grundhaltung der Israelis heute den Weg frei für die ethnische Säuberung und die Vollendung der Vertreibung.

Zugleich legt Yehudit Kirstein Keshet eine präzise Analyse des Kontrollsystems vor, dessen Zweck es ist, das Leben der Palästinenser immer weiter einzuschnüren, ihren Freiheitsdrang abzuwürgen und ihr Territorium so weit zu zerstückeln, daß eine menschenwürdige und autonome Existenz unmöglich wird. Sie weist schlüssig nach, daß der Begründungszusammenhang israelischer Sicherheitsinteressen einer Überprüfung nicht standhält und als Universalvorwand strategisch in Stellung gebracht wird, um einen langfristig angelegten Entwurf der Herrschaftsicherung und Expansion durchzusetzen.

Das System ist so ausgeklügelt, daß es sich der Aufmerksamkeit in Israel und des Auslands weitgehend entzieht. Im Kontrast zu Bomben und Raketen, Verhaftung, Folter und Gefängnis, Aushebelung einer gewählten Regierung und Protektion eines Marionettenregimes sowie zahlreicher weiterer spektakulärer Repressionsinstrumente und Angriffsmanöver mutet es vergleichsweise harmlos und beinahe nebensächlich an. Doch dieser Eindruck täuscht, denn wie sich bei näherer Überprüfung herausstellt, handelt es sich geradezu um das Kernstück stetig ausgebauter Verfügungsgewalt.

Am Vorabend des Golfkriegs von 1991 wurde ein Militärgesetz abgeschafft, das den Palästinensern Bewegungfreiheit zwischen Gazastreifen und Westjordanland ermöglicht und die Einreise nach Israel gestattet hatte. Auf diese Weise wollte man in den vorangegangenen Jahren die besetzten Gebiete wirtschaftlich einbinden und damit einen unabhängigen Staat verhindern, wie auch billige Arbeitskräfte bereitstellen. War diese Bewegungsfreiheit bis 1991 lediglich einer Minderheit verwehrt worden, so kehrte sich nun das Verhältnis um. Seither entscheidet Israel nach eigenem Ermessen, welcher Gruppe von Personen das Privileg gewährt wird, für eine gewisse Frist der Einkesselung der Mehrheit nicht zu unterliegen. Im Jahr 2000 kamen Beschränkungen innerhalb des Westjordanlands hinzu, und der Gazastreifen wurde nach der Räumung 2005 von außen hermetisch abgeriegelt.

Seit den frühen neunziger Jahren wurde die Schließungspolitik immer weiter verfeinert und bürokratisiert, wobei die einzelnen Schritte zufällig und sporadisch wirkten, im Überblick jedoch erkennen lassen, wie raffiniert unauffällig, aber erbarmungslos die Würgeschlinge zugezogen wurde. So verwandelte man den Gazastreifen in ein riesiges Gefängnis und zerstückelte das Westjordanland durch Siedlungen und Verbindungsstraßen. Dort richtete man immer neue Kontrollpunkte, Wachttürme und Straßensperren ein, postierte Panzer und ließ Soldaten patrouillieren. Zugleich wurde es immer schwieriger, einen Passierschein zu bekommen, da die administrativen Abläufe verkompliziert und völlig undurchschaubar gemacht wurden.

Mit Hilfe der zunehmenden Schließung verfügte Israel über ein Instrument, das in allen Verhandlungen mit den Palästinensern und den sogenannten Friedensgesprächen eingesetzt werden konnte, indem je nach Bedarf eine Lockerung angeboten oder mit weiterer Verschärfung gedroht wurde. Auch wurde die palästinensische Wirtschaft Schritt für Schritt demontiert und die Überlebensfähigkeit der Bevölkerung eingeschränkt. Die Siedlungen und Umgehungsstraßen verschlingen palästinensischen Grund und Boden, Kontrollposten, Passierscheinverfahren und Verbote rauben die Luft zum Atmen und den Raum zum Leben. Sie zerstören soziale Bindungen, erschweren Ausbildung und Arbeit, nehmen den Menschen die Zukunftsperspektiven und beim endlosen Warten auf eine Genehmigung oder Durchlaß die kostbare Ressource Zeit, die unwiederbringlich verlorengeht.

Fast jedes palästinensische Dorf ist von mechanischen Sperren umgeben, die den Verkehr von Fahrzeugen bis hin zu Feuerwehr und Krankenwagen verhindern. Selbst Alte, Kranke und Behinderte müssen das Hindernis überklettern oder getragen werden. An Kontrollposten zwischen dem Westjordanland und Israel sowie zwischen den Dörfern und Städten müssen Zivilisten einen Passierschein vorlegen und sich unter Umständen einer Gepäckkontrolle und Leibesvisitation unterziehen. An jüdischen und islamischen Feiertagen, häufig jedoch auch ohne Vorwarnung, wird eine Schließung verhängt, für deren Dauer die Einreise nach Israel nicht möglich ist. Das Verbot wird nach Stunden, manchmal aber auch erst nach Tagen wieder aufgehoben. Die schärfste Waffe in diesem Arsenal der Drangsalierung ist die Ausgangssperre, die das Militär jederzeit und über jeden beliebigen Ort verhängen kann. In dieser Frist, die von einigen Stunden bis zu mehreren Wochen dauern kann, können die Bewohner ihre Häuser nicht verlassen, wenn ihnen ihr Leben lieb ist. In den kurzen und unregelmäßigen Unterbrechungen des Ausgehverbots, die die israelische Militärverwaltung gewährt, versuchen die Menschen, sich in größter Hast mit Lebensmitteln zu versorgen. Von einem normalen Leben kann nicht mehr die Rede sein, und in der drangvollen Enge der Wohnungen wächst der Druck ins Unerträgliche, zumal das Ende dieser Gefangenschaft nicht abzusehen ist.

Flankiert wird diese umfassende Kontrolle und Unterdrückung von einer perfiden Bürokratie, die willkürlich und meist ohne Angabe von Gründen die erforderlichen Ausweise, Magnetkarten und Genehmigungen erteilt oder versagt. Der Weg zur Erlangung der obligatorischen Dokumente ist lang, kompliziert und unüberschaubar, da niemand im Falle einer Ablehnung erfährt, wessen er verdächtigt wird.

Dabei geht es nicht etwa um Reisen in ferne Länder, sondern alltägliche Wege im engsten Lebensumfeld zum Einkauf, zur Schule, zur Arbeit, zu einer Behörde, zum Arzt oder ins Krankenhaus, die zunehmend unplanbar, ungewiß oder unmöglich werden. Bei der Lektüre des Buches erhält man einen Eindruck davon, welche Erniedrigung, Bedrohung und Qual damit verbunden ist, wenn die Menschen in langer Schlange und ungeschützt bei jeder Witterung am Kontrollpunkt stundenlang ausharren und dabei jeder erdenklichen Willkür ausgeliefert sind. Wie der palästinensische Rote Halbmond dokumentiert hat, wird selbst bei akuter Gefahr für Leib und Leben der Durchlaß oftmals verweigert oder verzögert: Zahlreiche schwerkranke Palästinenser starben an diesen Sperren, Schwangere mußten an Ort und Stelle entbinden, was häufig zum Tod der Neugeborenen führte, Ärzte und Pfleger wurden von Soldaten erschossen oder verletzt, Krankenwagen beschädigt.

In einer persönlichen Stellungnahme begründete die Biochemikerin Dr. Nina Mayorek aus Jerusalem im Oktober 2002 ihr Engagement für Machsom Watch mit folgenden Worten:

Ich kam im Jahr 1968 nach Israel, aus Polen, das damals von einer Welle des Antisemitismus überschwemmt wurde. Ich war voller Hoffnung, eine neue Identität und einen Ort zu finden, wo ich hingehören wollte. Nach fünfunddreißig Jahren in Israel habe ich nur das erste meiner Ziele erreicht. Ich habe meine Identität als Jüdin gefunden, und ich habe keine Angst mehr vor antisemitischen Bemerkungen. Aber inzwischen ist Israel nicht mehr der Ort, wo ich hingehören möchte. Ich habe meine Liebe zu Israel verloren, die mir einst so teuer war. Ich kann kein Land lieben, wo die Mehrheit der Juden eine faschistische Regierung unterstützt und ihren Blick abwendet, um nicht sehen zu müssen, welches Unglück den Palästinensern angetan wird. Es ist für mich, als hätte ich die Liebe zu einem geliebten Menschen verloren. Ich kann mich nicht einmal mehr an der Schönheit der Landschaft erfreuen, an den Farben und an der Atmosphäre. Mittlerweile bin ich zu alt, um hier wegzugehen und einen anderen Ort zu suchen, an dem ich wieder in Einklang mit meiner Umgebung leben könnte. Deshalb bin ich dazu verurteilt, an Kontrollposten zu stehen und mein Nein zu der Brutalität, der Dummheit und den Lügen der israelischen Regierung herauszuschreien. Es ist sehr schwer, die Erniedrigung und das Leiden anderer Menschen mitanzusehen. Das dringende Bedürfnis, gegen die Besatzung zu protestieren - das ist es, was mich nahezu jede Woche an die Kontrollposten treibt.
(S. 25/26)

Die Frauen von Machsom Watch haben trotz aller Zweifel, Kontroversen, Anfeindungen und Rückschläge seit Gründung dieser Menschenrechtsorganisation im Februar 2001 nicht mehr aufgehört, tagtäglich an Kontrollstellen zu beobachten, zu dokumentieren, einzugreifen und nicht zuletzt Öffentlichkeit zu schaffen, die der so bequemen wie verhängnisvollen Ausflucht den Boden entzieht, man habe von nichts gewußt.

9. November 2007


Yehudit Kirstein Keshet
Checkpoint Watch
Zeugnisse israelischer Frauen aus dem besetzten Palästina
Edition Nautilus Hamburg 2007
256 Seiten
18,00 Euro
ISBN 978-3-89401-555-8