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REZENSION/441: Daniele Ganser - NATO-Geheimarmeen in Europa (SB)


Daniele Ganser


NATO-Geheimarmeen in Europa

Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung



Nicht erst seit den verheerenden Anschlägen vom 11. September 2001 in New York und Arlington, vom 11. März 2004 in Madrid und vom 7. Juli 2005 in London drängt sich der Verdacht auf, daß hinter dem sogenannten "Terrorismus" reaktionäre Kräfte des Staates und der Großkonzerne stecken, welche die einfache Bevölkerung einschüchtern und lenken sowie oppositionelle Gruppierungen, die stets als Urheber der Schreckenstaten herhalten müssen, diskreditieren. Auch wenn dieser Verdacht Unbehagen auslöst, begründet ist er allemal, wie Daniele Ganser in seinem enorm aufschlußreichen und hochempfehlenswerten Buch "NATO-Geheimarmeen in Europa - Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung" zeigt.

Auch wenn US-Präsident George W. Bush es nach dem Einsturz der Zwillingstürme des New Yorker World Trade Centers anders darstellte, der "Terrorismus" ist kein neues Phänomen in den Ländern der nordatlantischen Militärallianz, sondern seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ihr ständiger Begleiter. Wann, wo und wie er sich manifestierte, hing stets von der politischen Lage in dem jeweiligen Land ab. Falsche-Flagge-Operationen - das heißt Anschläge, die man selbst durchführt, um sie anschließend dem Gegner in die Schuhe zu schieben - sind schon immer eine bewährte Taktik skrupelloser Politiker gewesen, wie der Reichstagsbrand 1933 und der Gleiwitz-Vorfall 1939 zeigen. Ein ganz frühes Beispiel dieses Phänomens im NATO-Hoheitsgebiet war laut Ganser der Bombenanschlag am 6. September 1955 auf das Mustafa-Kemal-Museum im griechischen Thessaloniki, der von Mitgliedern der türkischen Spezialstreitkräfte selbst durchgeführt wurde. Der Anschlag, der lediglich Sachschaden verursachte, verfehlte die gewünschte Wirkung nicht. Am nächsten Tag setzten aufgebrachte Türken in Istanbul und Izmir Hunderte griechischer Wohnungen und Geschäfte in Brand, brachten 16 Griechen um, verletzten 32 und vergewaltigten 200 griechische Frauen.

Als sich 1990 der Warschauer Pakt auflöste und der Kalte Krieg plötzlich vorbei war, dauerte es nicht lange, bis die grüne Gefahr - der Islam - an die Stelle der roten - des Kommunismus - trat und somit Amerikas militärisch-industriellen Komplex vor einem durchgreifenden Umstellungsprozeß rettete. Islamische Fanatiker, die in den achtziger Jahren als Fußsoldaten im Stellvertreterkrieg der USA in Afghanistan gegen die Sowjetarmee gekämpft hatten, führten am 26. Februar 1993 den ersten Bombenanschlag auf das World Trade Center in New York aus, töteten fünf Menschen und verletzten 1000. Geistiger Anführer der Täter war der blinde, muslimische Extremist Omar Abdel Rahman, den die CIA drei Jahre zuvor von Ägypten nach Brooklyn geholt hatte, und ihr militärischer Ausbilder war Ali Mohamed, Feldwebel am John F. Kennedy Special Warfare Center in Fort Bragg im US-Bundesstaat North Carolina. Später wurde Mohamed - vermutlich als Doppelagent der CIA - Leibwächter Osama Bin Ladens, in welcher Funktion er die Anschläge auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam am 9. August 1998, bei denen 224 Menschen getötet und Tausende verletzt wurden, plante.

In seinem Buch befaßt sich Ganser mit denjenigen Geheimarmeen, welche die NATO vor und nach ihrer Gründung überall in Westeuropa aufbaute und deren Bekanntwerden 1990 die sogenannte Gladio-Affäre auslöste. Offizielles Motiv für die breitangelegte Aktion war die von der Sowjetunion und deren Satellitenstaaten in Osteuropa angeblich ausgehende Bedrohung. Nach den traumatischen Erfahrungen, welche Länder wie Belgien, Dänemark, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande und Norwegen im Zuge der raschen Eroberung durch Nazi-Deutschland 1940 gemacht hatten, sollten Vorkehrungen getroffen werden, damit man im Fall einer sowjetischen Invasion gleich von Anfang an mit Sabotageaktionen gegenhalten konnte. Bei der Einrichtung der Stay-Behind-Einheiten, so genannt, weil sie auch nach einem feindlichen Einmarsch zurückbleiben sollten, um gegen die Besatzungstruppen und ihre einheimischen Helfershelfer zu kämpfen, gab es ein großes Problem.

Die Hauptverantwortung für die Umsetzung der ehrgeizigen und gefährlichen Pläne sollten diejenigen Kräfte, die sich beim Widerstand gegen die Nazis im besetzten Europa bewährt hatten, übernehmen. Bei den Amerikanern waren es die Veteranen des Office of Strategic Services (OSS), aus dem 1947 die CIA hervorging, und bei den Briten die des Special Operations Executive (SOE), dessen Aufgaben nach 1945 der britische Auslandsgeheimdienst MI6 übernahm. Später haben die CIA und der MI6 die Führung und die Green Berets der US-Armee zusammen mit dem Special Air Service (SAS) der britischen Streitkräfte die Ausbildung der Stay-Behind-Kameraden vom europäischen Festland übernommen. Das Problem bestand darin, daß beim Widerstand gegen die Nazis Sozialisten und Kommunisten die führende Rolle gespielt, ja, sich als die wahren Patrioten erwiesen hatten.

Nach der Befreiung Westeuropas wollten diese Kräfte nicht zuletzt aufgrund ihres großen Rückhalts in der Bevölkerung an die Macht gelangen und die Gesellschaft in ihrem Sinne gestalten. Doch dies paßte weder den Briten noch den Amerikanern. Noch weniger wollte man Personen mit sozialreformistischen Ansichten in den neuen Stay-Behind-Zellen haben. Um die Linke von den Schalthebeln der Macht fernzuhalten, beschwor man die große sowjetische Bedrohung - bezüglich derer die meisten Historiker inzwischen überzeugt sind, daß es sie so nicht gab, denn die Sowjetunion lag nach dem Zweiten Weltkrieg völlig am Boden -, stärkte konservative, unternehmerfreundliche Kreise und warb für die neue antikommunistische Geheimarmee Monarchisten, Faschisten, Alt-Nazis, Freimaurer und christliche Fanatiker an.

In je einem Kapitel für jeden einzelnen NATO-Mitgliedsstaat beschreibt Ganser detailliert, wie die Stay-Behind-Netzwerke aufgebaut, bewaffnet und organisiert wurden und welche Auswirkungen sie auf ihr jeweiliges Land hatten. In manchen Staaten wie beispielsweise in Norwegen fielen sie praktisch nicht auf. In anderen Ländern sah es ganz anders aus. In Italien überzogen die Gladiatoren im Rahmen der "Strategie der Spannung" das Land jahrelang mit Bombenanschlägen und Überfällen, die sie linken Splittergruppen anlasteten. In Griechenland putschten die Stay-Behind-Leute 1967 gegen die Regierung und brachten die Generäle an die Macht. Ähnliche militaristische Kräfte in der Türkei, wo sie den Namen Konterguerilla trugen, führten dreimal - 1960, 1971 und 1980 - einen Staatsstreich durch. In Francos Spanien, das vor 1945 mit Hitler-Deutschland und Mussolinis Italien und nach deren Niedergang mit den USA paktierte, war Gladio jahrzehntelang selbst die Regierung.

Daniele Ganser hat eine wahre Herkulesarbeit geleistet, die Quellen zu diesem Thema, die in diversen Sprachen vorliegen, zu sichten und auszuwerten. In keinem einzigen NATO-Staat ist es nach Bekanntwerden der Existenz von Gladio zu einer vollständigen Aufklärung gekommen. Da stießen die Rechtsstaaten von NATOs Gnaden schnell an ihre Grenzen. Die Art und Weise, wie über Jahrzehnte hinweg jeder Hinweis auf etwaige Umtriebe irgendwelcher Stay-Behind-Soldaten offiziell geleugnet und nach 1990 die Geschichte der nordatlantischen Geheimarmeen aufgearbeitet, besser gesagt, weitestgehend vertuscht wurde, läßt vermuten, daß heute ähnliche Strukturen existieren, des hochheiligen "Antiterrorkrieges" wegen, versteht sich. Wenn es etwas am vorliegenden Buch zu kritisieren gibt, dann in erster Linie die Tatsache, daß die zahlreichen Hinweise auf eine Verwicklung der britischen Armee und des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 in die "terroristischen" Aktivitäten protestantischer, königintreuer Paramilitärs während der nordirischen "Troubles" wie beispielsweise in die koordinierten Autobombenanschläge von Dublin und Monaghan am 17. Mai 1974 mit 33 Toten und 240 Verletzten praktisch keine Erwähnung finden.

4. Juni 2008


Daniele Ganser
NATO-Geheimarmeen in Europa
Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung
(Aus dem Englischen "NATO's Secret Armies: Operation GLADIO and
Terrorism in Western Europe" übersetzt von Carsten Roth)
Orell Füssli Verlag, Zürich, 2008
445 Seiten
ISBN: 978-3-280-06106-0