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REZENSION/448: Gerhard Feldbauer - Geschichte Italiens (SB)


Gerhard Feldbauer


Geschichte Italiens

Vom Risorgimento bis heute



Staatstragende Kräfte, supranationale Eliten mit welthegemonialen Ansprüchen und nicht zuletzt nationale wie internationale Großunternehmen sind sich in einem Punkt ganz gewiß einig: Der Feind steht links. Nach dem Niedergang der Sowjetunion scheint die Systemkonfrontation zwischen Kapitalismus und Sozialismus, um diese heute nicht selten als inhaltsleer empfundenen Schlagworte scheinbar vergangener Tage kalter und gar nicht so kalter Kriege zu bemühen, von ersterem klar gewonnen worden zu sein. Der kapitalistische Westen wähnt sich seit der sogenannten Wende der Jahre 1989/90 in der Siegerpose, was ihn keineswegs zu einer größeren Toleranz im Geiste der vielbemühten Meinungsfreiheit in Hinsicht auf Andersdenkende veranlaßte. Wenn diese noch dazu nicht bereit sind, den "roten Stern" auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen, sondern allen Ernstes die Frage aufwerfen, wie sich in der Tradition vergangener und sei es verlorener Kämpfe die bislang in keiner Weise befriedigend beantwortete soziale Frage neu formulieren läßt, stellt sich schnell heraus, daß diese bereits die vergangenen Jahrhunderte dominierende Kernauseinandersetzung keineswegs beendet ist. Vor diesem Hintergrund versteht es sich von selbst, daß eine Geschichtsschreibung "von links" "für links" von großem Interesse sein muß für all die Menschen, die instinktiv spüren und wissen, daß die ihnen angebotene und eigentlich alternativlos vorgegebene historische Sicht ihnen nicht nur nicht weiterhilft, sondern einzig zur Befriedung etwaiger Widersprüche konzipiert wurde. Auf einen kurzen Nenner gebracht ließe sich dieses Dilemma mit der These, die Geschichte wird stets von den Siegern geschrieben, auf den Punkt bringen.

Gerhard Feldbauer, langjähriger Korrespondent in Italien und Vietnam und intimer Kenner insbesondere der italienischen Geschichte, hat nun mit seinem im Juni 2008 im PapyRossa-Verlag erschienenen Band "Geschichte Italiens. Vom Risorgimento bis heute" einen konstruktiven Beitrag zu einer historisch-kontroversen Debatte vorgelegt. Da er sich konsequent um eine "linke" Geschichtsschreibung, die aus naheliegenden Gründen kaum als existent bezeichnet werden kann, bemüht und seine umfangreichen Sachkenntnisse ganz in den Dienst dieser Parteilichkeit stellt, kann sein neuestes Buch kritischen Geistern nur empfohlen werden. Es ist noch dazu als vollkommen gelungen zu bezeichnen gemessen an dem Anspruch, interessierte Leser über die neuzeitliche Geschichte Italiens zu informieren auf eine Weise, die eine eigenständige politische Stellungnahme überhaupt erst ermöglicht, indem ihnen genügend Anhaltspunkte und Argumentationen an die Hand gegeben werden, um die vorherrschende historische Sicht wie auch die bis in die aktuellste Gegenwart hineinwirkende Letztbegründung staatlichen Handelns kritisch analysieren und hinterfragen zu können.

Dabei präsentiert Feldbauer die "Geschichte Italiens" seit der Entstehung des italienischen Nationalstaats auf eher nüchterne Weise und läßt die umfangreichen und mit sicherer Hand ausgewählten Fakten weitgehend für sich sprechen. Sein Buch, sprachlich wie inhaltlich keineswegs (nur) ein Insiderwerk für Gleichgesinnte, erweist sich für jeden Interessierten als aufschlußreich und lesenswert und braucht den Vergleich mit der offiziellen, per se staatstragenden Geschichtsschreibung nicht zu scheuen. Es lädt nachgerade zu einer kontroversen Auseinandersetzung ein, wobei es ihm unweigerlich zum Vorteil gereicht, historische Entwicklungen und Ereignisse von höchster politischer Brisanz nicht ausklammern zu müssen.

Zu nennen wären hier beispielsweise die Hintergründe der Ermordung des christdemokratischen Ministerpräsidenten Aldo Moro im Mai 1978 durch die Roten Brigaden, wobei es sich, wie man inzwischen weiß, um eine Operation der sogenannten "Strategie der Spannung" gehandelt hat, als deren Drahtzieher der US-amerikanische Geheimdienst CIA ausgemacht werden konnte. Diese Strategie verdeckt arbeitender ausländischer Geheimdienste und ihrer inländischen Partner - im Italien zur Zeit des Kalten Krieges organisiert in der 1981 aufgeflogenen Geheimloge P2 in Zusammenarbeit mit der 1990 enttarnten NATO-Geheimorganisation "Gladio" - zielte darauf ab, eine starke Linke zu bekämpfen und wenn möglich zu zerschlagen, indem ihr eigens zu diesem Zweck eingefädelte Anschläge angelastet werden, die im zweiten Schritt eine Rechtfertigung für eine gegen sie gerichtete Repressionswelle liefern.

Im Fall Aldo Moro wurden gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, weil der, wie Feldbauer es nennt, den "linken Flügel" der christdemokratischen DC ("Democrazia Cristiana") repräsentierende und von der US-Regierung wie der italienischen Rechten als Störenfried eingestufte Moro eliminiert werden konnte, der "Allende Italiens", wie ihn der damalige US-Außenminister Henry Kissinger genannt hatte (S. 221). Als Moro 1974, in dem Jahr nach dem gewaltsamen Sturz der demokratisch gewählten sozialistischen Regierung Chiles, als Außenminister in den USA weilte, wurde in Washington offen damit gedroht, "Italien in ein zweites Chile zu verwandeln" (S. 220). Gleichwohl bildete Moro mit den italienischen Kommunisten (IKP), die bei den Parlamentswahlen von 1976 34 Prozent der Stimmen erzielten, eine gemeinsame Regierung. John Volpe, US-Botschafter in Italien, erklärte daraufhin, die Regierungsbeteiligung der IKP stünde "in grundsätzlichem Widerspruch zur NATO" (S. 221), so als habe diese je zugegeben, keineswegs ein Verteidigungssystem, sondern ein antikommunistisches Militärbündnis zu sein. Die spätere Ermordung Moros muß, wer auch immer die tödlichen Schüsse abgefeuert hat, auch in der Verantwortung Washingtons gesehen werden, zumal Ray Cline, seinerzeit Direktor des Center of Strategic and International Studies der CIA, zuvor angekündigt hatte, daß die "Situation in Italien durch die Geheimaktivitäten der CIA" gelöst werde (S. 221).

Moro war mitnichten zum Kommunismus konvertiert, sondern hatte in realistischer Einschätzung der politischen Lage im Italien der 1970er Jahre begriffen, daß seine Partei das Land allein nicht mehr "halten" könne (S. 220). Was lag da näher, als zu versuchen, die Kommunisten, noch bevor sie wie die Allende-Sozialisten in Chile durch einen noch größeren Wahlerfolg regulär an die (alleinige) Regierungsmacht hätten kommen können, in eine DC-geführte Koalition einzubinden und auf diesem Wege zu schwächen, ihnen Zugeständnisse abzuringen und sie in einen Prozeß der "Sozialdemokratisierung" zu bugsieren? Solcherlei taktische wie strategische Überlegungen waren für die faschistische und äußerste Rechte Italiens sowie die grauen Eminenzen des Kalten Krieges in Washington offensichtlich schon zu kompliziert. Und so kostete die in Italien durch Moro eingeleitete und auch auf Seiten der Linken keineswegs unumstrittene Regierungszusammenarbeit zwischen den Christdemokraten und der IKP, die als "historischer Kompromiß" in die Geschichte Italiens eingehen sollte, den populären DC-Politiker das Leben, da seine Feinde in den Schaltzentralen der westlichen Welt glaubten, Italien würde nun "rot" (kommunistisch) werden.

Feldbauer selbst hat diesem Fragenkomplex ein eigenes, im Jahre 2000 unter dem Titel "Der Mord an Aldo Moro, Rote Brigaden und CIA" ebenfalls im PapyRossa Verlag erschienenes Werk gewidmet, und so kann es gar nicht ausbleiben, daß Kenner der Materie in diesem oder auch manch anderem Themenkomplex der "Geschichte Italiens" auf bereits Bekanntes und unter Umständen vom Autor selbst, der bereits mit einer ganzen Reihe informativer Italien-Bücher in Erscheinung getreten ist, schon Publiziertes stoßen. Ein Grund zur Kritik ergibt sich daraus keineswegs, zumal Feldbauers "Geschichte Italiens" so übersichtlich und chronologisch gegliedert ist, daß sie sich als ein die Geschichte Italiens umfassend und zusammenhängend darstellendes Lesebuch ebenso nutzen läßt wie als ein historisches Nachschlagewerk, das zu bestimmten Detailfragen wie etwa Mussolinis "Marsch auf Rom" im Oktober 1922 auf Anhieb aufschlußreiche Informationen sowie eine fundierte Einschätzung des Autors bereithält.

Es mag dem Anspruch geschichtswissenschaftlicher Ernsthaftigkeit geschuldet sein, daß sich Feldbauer - wie es den Anschein hat - in punkto Kommentierung und Bewertung der von ihm verfaßten "Geschichte" noch zurückhält. Ungeachtet der Tatsache, daß Geschichtsschreibung stets die (nachträgliche) Sicht derjenigen widerspiegelt, die aus sozialen, politischen und nicht eben selten militärisch ausgetragenen Kämpfen und Auseinandersetzungen als die Stärkeren hervorgegangen sind, erhebt sie als Wissenschaftszunft den Anspruch von Objektivität und Neutralität, was das Anliegen all derjenigen, die den auf diese Weise bevorzugten Inhalten und Positionen gegenüber einen "zweiten Standpunkt" entwickeln und behaupten wollen, nur erschweren kann. Gerhard Feldbauer, der als langjähriger Auslandskorrespondent der Nachrichtenagentur der DDR ADN noch am eigenen Leib erfahren haben wird, daß die den sogenannten Kalten Krieg bestimmende Systemkonfrontation zwischen Kapitalismus und Sozialismus nicht in Studierzimmern und Theoriezirkeln geführt wurde, spricht in dieser Hinsicht in seinem Buch eine zwar eindeutige, wenn auch für jüngere und kaum "politisierte" Leser womöglich nicht immer unmittelbar verständliche Sprache.

So könnten Interessierte, so sie auf die flüchtigste, der Schnellebigkeit unserer Zeit und Lebensgewohnheiten entsprechende Weise Feldbauers Geschichtsbuch zur Hand nehmen und das erste Kapitel des Prologs lesen, Gefahr laufen zu verkennen, welchen historischen Schatz es tatsächlich bereithält. Wer in einem Prolog, laut Duden der "einleitende Teil des Dramas" oder auch die "Vorrede", einführende Worte des Autors erwartet, in denen dieser seine Position zur Geschichte Italiens vorab klarstellt und deutlich macht, was ihn dazu bewogen hat, sich gerade mit diesem Thema in aller Ausführlichkeit und Schärfe zu befassen und worin seiner Meinung nach die spezifischen, für politisch engagierte Menschen heute relevanten Anhaltspunkte und historischen Bezüge liegen, blättert vergeblich. Aus Sicht des Autors mag es schon um der Chronologie der geschilderten Entwicklungen und Ereignisse willen funktional und folgerichtig sein, gleich zu Beginn des Buches die Strömungen und Verhältnisse zu schildern, die zu einem tieferen Verständnis der Staatsgründung und weiteren Geschichte Italiens unerläßlich sind. Auf womöglich wenig versierte Leser könnten Bourbonen und Habsburger sowie der Papst vergangener Jahrhunderte, von denen in den ersten Sätzen des Prologs die Rede ist, abschreckend wirken:

In den Befreiungskämpfen des Risorgimento, der nationalen Bewegung Italiens von 1789 bis 1871, ging es darum, den weltlichen Herrschaftsanspruch des Papstes und die Fremdherrschaft der Habsburger und Bourbonen zu brechen, um einen einheitlichen italienischen Nationalstaat und die bürgerliche Ordnung zu errichten. Unerbittlich suchten die ausländischen Monarchen und der Pontifex, den Freiheitsdrang der Italiener zu unterdrücken. Aus Furcht vor deren revolutionären Forderungen verzichteten die italienischen Feudalherrscher darauf, in den Kriegen zur nationalen Befreiung die Unterstützung der kleinbürgerlichen Demokratien anzunehmen. Die Härte der von den revolutionären Patrioten sechs Jahrzehnte lang geführten Befreiungskämpfe, die zahlreichen Aufstände, die leidenschaftliche Entschlossenheit, mit der sie geführt wurden, die großen Opfer, die sie forderten, hinterließen unvergessliche Eindrücke im Bewusstsein der Volksmassen. Davon zeugte nicht zuletzt, dass sich Jahrzehnte später die Resistenza gegen Hitlerdeutschland und seine einheimischen Lakaien auf Geist und Traditionen des Risorgimento berief.
(S. 8)

Generell wäre an Feldbauers Geschichtsbuch bestenfalls - wenn überhaupt - zu kritisieren, daß der Autor es im Grunde seinen Lesern überläßt, Schlußfolgerungen zu ziehen und weiterführende Fragen aufzuwerfen. Um dies an einem Beispiel, das ob der Fülle und Stringenz der dargelegten Ereignisse und Entwicklungen nur willkürlich ausgewählt werden konnte, zu veranschaulichen, hier folgendes Zitat:

Im August 1921 schloss die ISP-Führung mit Mussolini einen "Versöhnungspakt", der die mit den Sturmabteilungen angezettelten Bürgerkriegsauseinandersetzungen beenden sollte. Neben dem Ziel, die Kommunisten zu isolieren, wollte Mussolini die ISP dazu bewegen, zusammen mit seiner Partei in eine bürgerliche Regierung einzutreten, was diese jedoch ablehnte. Die ISP löste nach der Unterzeichnung des Paktes eilfertig ihre Kampftruppen Ardidi del Pópolo (Tapfere des Volkes) auf, in denen sich Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten und bürgerliche Antifaschisten zum bewaffneten Widerstand gegen den faschistischen Terror zusammengeschlossen hatten. Die Sturmabteilungen blieben dagegen bestehen und setzten ihren Terror fort. Am 28. Februar 1921 ermordeten sie den populären Führer der Eisenbahnergewerkschaft Spartaco Lavagnini am Arbeitsplatz. Dennoch rief der "Avanti" am nächsten Tag zu Gewaltlosigkeit auf und appellierte, "unerschütterlich in der Defensive zu bleiben". Während die ISP hilflos resignierte, wandte sich die IKP dagegen, die Arbeiter wehrlos dem faschistischen Terror auszuliefern, und erklärte in einem Aufruf vom 2. März 1921: "Wir beantworten (...) Gewalt mit Gewalt, den Einsatz der Waffen mit dem Einsatz der Waffen." Obwohl sich der "Versöhnungspakt" als eine hinterhältige Falle zur Zerschlagung des Widerstandes der Sozialisten erwies, traf Pietro Nenni, zu dieser Zeit Chefredakteur der "Avanti", im Januar 1922 erneut mit Mussolini zu Gesprächen zusammen. Während der "Duce" zu dieser Zeit bereits den "Marsch auf Rom" vorbereitete, hatte er vor der Zusammenkunft mit Nenni im Parlament erneut ein Regierungsbündnis zwischen Faschisten und Sozialisten vorgeschlagen, das er als Ausweg aus der Krise und zur Beendigung des Bürgerkrieges bezeichnete.
(S. 93)

Soweit diese höchst aufschlußreiche historische Schilderung aus der Zeit kurz vor der endgültigen Machtübergabe an den "Duce" Mussolini, den Diktator Italiens. Zum besseren Verständnis sei angemerkt, daß es sich bei den erwähnten Sturmabteilungen um Kampfverbände der faschistischen Partei Mussolinis gehandelt hat, die zu dieser Zeit einen blutigen Terror gegen die erstarkende Arbeiterbewegung entfesselt hatten. Bei der ISP, mit der Mussolini zu paktieren wünschte, handelte es sich um die Italienische Sozialistische Partei, von der sich im Januar 1921 die Kommunistische Partei Italiens, Sektion der KI (KPI), die sich ab 1943 Italienische Kommunistische Partei (IKP) nannte, abgespalten hatte. Die ISP hatte die Oktoberrevolution 1917 in Rußland anfangs noch begrüßt und beschlossen, der Kommunistischen Internationalen beizutreten, dann jedoch am 15. Januar 1921 den dafür erforderlichen Bruch mit dem "Reformismus" verweigert. Die ISP, in der Mussolini bis zu seinem Parteiausschluß im Jahre 1914 als führender Funktionär die Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie sowie die Abkehr vom Marxismus propagieren konnte, begünstigte insofern die Etablierung des Faschismus in Italien, obwohl 1920, wie Feldbauer schreibt, "bereits 2.500 Italiener (Männer, Frauen, Kinder und Greise) unter den Kugeln der Faschisten und der öffentlichen Sicherheitskräfte auf Straßen und Plätzen den Tod fanden" (S. 94).

Feldbauer läßt an dieser Stelle die geschilderten Fakten für sich sprechen und enthält sich einer deutlichen Stellungnahme etwa zur damaligen Politik der ISP. Gewiß ließe sich einwenden, daß dies nicht im mindesten erforderlich wäre - gleichwohl wäre es der Wirkung des gesamten Werkes nicht abträglich gewesen, hätte der Autor so manches für ihn Selbstverständliches in klare Worte gepackt. Schließlich sind historische Fakten, die die Unterstützung bürgerlicher und sogar sozialistischer Kräfte für den antikommunistischen Faschismus in Italien belegen, heute beileibe nicht jedem geläufig und werden ob dieses scheinbaren Widersinns nicht selten mit Verwunderung zur Kenntnis genommen. Wie konnte es angehen, daß Linkskräfte sich für den Kampf gegen links vereinnahmen ließen? Doch auch auf die Frage nach der Standfestigkeit der sogenannten bürgerlichen Mitte in Hinsicht auf die von ihr beanspruchten demokratischen Werte hält Feldbauers Buch aufschlußreiche Details bereit.

So erfuhr Mussolinis "Marsch auf Rom", der am 28. Oktober 1922 stattfand und nichts anderes als einen faschistischen Putsch darstellte, eine nachträgliche Scheinlegalisierung durch den Monarchen und die Parlamentsparteien. König Vittorio Emanuele III. hatte ihn sogar begünstigt, indem er die militärische Verteidigung der Hauptstadt verhinderte. Am Tag danach beauftragte er Mussolini, dessen Partei im Parlament zuvor lediglich über 36 von 508 Sitzen verfügt hatte, mit der Regierungsbildung. Die bürgerlichen Parteien, offensichtlich nicht minder bestrebt, der von ihnen als Gefahr gesehenen Linksentwicklung durch ein offen repressives Regime entgegenzutreten, traten in die Regierung Mussolinis ein und verschafften dieser mit 306 gegen 106 aus den Arbeiterparteien stammende Stimmen eine parlamentarische Scheinlegitimität.

Zur Erinnerung: Der Feind steht links, und dies beantwortet fast schon alle Fragen nach dem Wieso und Warum. Nach Ansicht all derer, die sich und ihre Privilegien durch die Idee des Sozialismus und mehr noch jeden Versuch, eine kommunistische Utopie in die Realität umzusetzen, gefährdet sehen und alles zu tun bereit sind, um dieses "Gespenst" zu vernichten, sind demokratische Spielregeln keine Hindernisse. Dies galt für das Italien der 1920er Jahre ebenso wie für das damalige Deutschland, in dem der Faschismus zur Zerschlagung einer starken KPD und Arbeiterbewegung gut zehn Jahre später an die Macht gebracht werden konnte. Die Allianz gegen die postulierte rote Gefahr griff in Italien allerdings weit über das als bürgerliche Mitte und ausgewiesene Rechte identifizierte antikommunistische Lager hinaus in die, so will es scheinen, eigenen Reihen hinein.

Feldbauers Recherchen zufolge herrschte unter den Faschisten die Auffassung vor, daß sie die Macht wohl nicht hätten ergreifen können, wäre ihnen "der Feind" ent- und vor allen Dingen geschlossen entgegengetreten. So soll ein enger Mitarbeiter Mussolinis zugegeben haben, "der Erfolg sei weniger von der Stärke des Faschismus als von der Schwäche und zögerlichen Haltung seiner Gegner abhängig gewesen" (S. 99). Der Sinn und Zweck des Mussolini-Staates war so offenkundig wie der des späteren Hitler-Regimes, hatte doch der "Duce" in seiner ersten Parlamentsrede Klartext geredet und erklärt, er sei "gegen das Parlament und gegen die Demokratie" (S. 92). Monarchistische, bürgerliche und Mitte-Links-Kräfte können schwerlich behaupten, von Mussolinis Absichten nichts gewußt zu haben. Dieser hatte schon 1921 freiweg angekündigt: "Wir werden kein Parlamentsclub sein, sondern ein Aktions- und Exekutionskommando." (S. 92)

Doch zurück zur "Sozialistischen Partei Italiens", die keineswegs betriebsblind oder ahnungslos mit Mussolini paktierte, sondern bereit war, ihm aktiv zuzuarbeiten durch die Entwaffnung der bestehenden antifaschistischen Kampfverbände. Diese waren aus der Not bewaffneter Angriffe seitens der faschistischen Sturmabteilungen auf die Arbeiter- und Bauernbewegung entstanden. Wahlerfolge linker Parteien stellten einen Alptraum der Eliten der damaligen kapitalistischen Staaten - keineswegs nur in Italien - dar. Eine Regierungsübernahme durch ISP und/oder KPI hätte womöglich eine katalysatorische Wirkung auf die übrigen westeuropäischen Staaten, in denen starke Arbeiterbewegungen entstanden waren und sozialistische und mehr noch kommunistische Parteien im Begriff standen, dem historischen Vorbild der russischen Oktoberrevolution von 1917 nachzueifern, entfalten können.

Es zählt zu Feldbauers Verdiensten, den sogenannten "Trasformismo" erläutert zu haben, worunter er schon um 1900 Bestrebungen faßte, die von der erstarkenden Arbeiterbewegung ausgehende Gefahr für die herrschende Klasse durch die Spaltung, parlamentarische Einbindung und damit Schwächung ihrer Gegner abzuwehren:

Zur Stabilisierung der Regierungsfähigkeit führte Depretis den so genannten Trasformismo ein, die Zusammenarbeit von Parlamentariern der regierenden Fraktion und der Opposition unter Berücksichtigung gegenseitiger Interessen. Mit dem Anwachsen der Arbeiterbewegung wurde der Transformismus nach britischem, deutschem und französischem Beispiel auch ihr gegenüber praktiziert, um eine schmale Oberschicht zu korrumpieren und über sie ihre Partei in den Parlamentarismus und das kapitalistische Herrschaftssystem einzubinden.
(S. 59)

Leider blieb Feldbauer dieser Linie im weiteren Verlauf der von ihm bis in die Gegenwart hinein akribisch geschilderten Geschichte nicht in aller gebotenen Schärfe treu. Daß sich die IKP bzw. ihre Nachfolgepartei in der jüngsten Vergangenheit ihres "linken" Erbes vollständig entledigte und jede sozialistische und sogar sozialdemokratische Tradition ablegte, hätte als letzter Akt eines solchen "Trasformismo" bezeichnet werden können. Feldbauer hingegen bewertet das Gegensatzpaar Faschismus/Antifaschismus als einen "Grundzug der italienischen Geschichte", wie dem Buchrückentext zu seinem Werk zu entnehmen ist, in dem es heißt:

Gerhard Feldbauer richtet sein besonderes Augenmerk auf die großen sozialen und politischen Kämpfe in der neueren Geschichte Italiens. Anschaulich zeigt er, wie sehr diese davon geprägt war, dass der Nationalstaat von einem Bürgertum durchgesetzt wurde, das unter dem Druck einer radikaldemokratisch-revolutionären Volksbewegung agierte. Mit Mussolinis "Marsch auf Rom" wurde dann der Gegensatz von Faschismus und Antifaschismus zu einem Grundzug der italienischen Geschichte über die Resistenza und die Nachkriegszeit bis hin zum Debakel der linken Mitte und zum erneuten Wahlsieg Berlusconis im Jahr 2008.

Faschismus und Antifaschismus als ein zentrales Begriffspaar im Zusammenhang mit der Geschichte Italiens zu begreifen, ist mitnichten abwegig und birgt doch die Gefahr in sich, zu einer Einschränkung der historischen Analyse und damit auch der Schlußfolgerung beizutragen. Dies deshalb, weil er das im linken Diskurs keineswegs irrelevante Argument, der Faschismus sei die Keule, die zur Verteidigung der Klassenherrschaft des Kapitals immer dann hervorgeholt wird, wenn das moderatere parlamentarische System (allein) bei der Ausschaltung einer starken Linken und/oder Arbeiterbewegung zu versagen droht, kaum berücksichtigt. Feldbauer warnt vor einem neuen Faschismus in Italien und den von rechts drohenden Gefahren, die mit dem jüngsten Wahlsieg Berlusconis in greifbarste Nähe gerückt sind, ohne die Frage aufzuwerfen, ob nicht auch in den Wechselspielen zwischen dem offenen Mussolini-Bewunderer und reichsten Unternehmer Italiens Berlusconi und dem Ministerpräsidenten der Mitte-Links-Regierung Romano Prodi und mehr noch seinem Nachfolger Walter Veltroni eine Art "Trasformismo" bestehen könnte, also eine Art inoffizielle Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition, um die tatsächlichen Kontrahenten des neoliberalen Kriegskurses Italiens mit vereinten Kräften zu schwächen und wenn möglich auszuschalten.

Die Gefahren, die von Politikern vom Schlage Berlusconis fraglos ausgehen, sollen und dürfen keineswegs in Abrede gestellt werden. Die Geschichte Italiens liefert gleichwohl nicht wenige Anhaltspunkte, um die Frage aufzuwerfen, ob nicht der Begriff des Faschismus eine unheilvolle Funktion einnimmt, weil zu seiner Abwehr auf linker Seite Zugeständnisse gemacht werden, die ohne die Androhung extrem repressiver Gewalt nicht durchsetzbar gewesen wären. So erklärt Feldbauer am Ende seines Buches, man könne Prodi nicht "generell vorwerfen, er habe den neoliberalen Kurs fortgesetzt und seine Politik habe sich nicht von der Berlusconis unterschieden" (S. 333). Dabei hatte der Autor selbst kurz zuvor klargestellt, daß der Wahlsieger vom April 2006, Romano Prodi, der Wunschkandidat "führender Kapitalkreise" gewesen war. Diese hatten, durchaus unzufrieden mit Berlusconi, der seit seinem Amtsantritt im Jahre 2001 ein Privatvermögen angehäuft hatte, das ihn auf Platz 25 der Liste der reichsten Menschen der Welt gebracht hatte, den "Wirtschaftsfachmann Prodi für verlässlicher für einen dringend erforderlichen Wirtschaftsaufschwung" (S. 322) gehalten. Daß die Mitte-Links-Regierung Prodis, wenn auch mit weichen Handschuhen, in erster und letzter Linie ordnungspolitische Funktionen wahrzunehmen hatte, deutet Feldbauer ebenfalls an:

Sie wussten, dass dieser zwar den fanatischen Antikommunismus Berlusconis und seiner Verbündeten von der faschistischen AN sowie der rassistischen Lega nicht teilte, aber ansonsten ein zuverlässiger Vertreter der "freien Marktwirtschaft" war. In seinem Bündnis mit den Linksdemokraten sahen sie eher den Vorteil, dass der Widerstand gegen den Sozialabbau, den Berlusconi maßlos angeheizt hatte, besser im Zaum gehalten werden könne.
(S. 322)

Und eben dieser "Sozialabbau" wird, wie es in der gesamten kapitalistischen und neoliberalen Welt angesichts einer sich exponentiell zuspitzenden Mangellage weltweiter Sourcen gar nicht anders sein könnte, nach wie vor und in zunehmenden Maße vorangetrieben. Die felsenfest in der kapitalistischen Welt verankerte Regierung Prodi, die ihre im Innern ergriffenen Maßnahmen wie etwa die Erhöhung des Renteneintrittsalters als einen "gemäßigten Sozialabbau" bezeichnete, konnte sich da gar nicht ausnehmen, weshalb ihr schnelles und von Feldbauer angesichts der nach dem Wahlerfolg Berlusconis im April dieses Jahres wieder akuten Gefahr einer "Faschisierung" Italiens bedauertes Ende eigentlich vorhersagbar war. Die Linksdemokraten verabschiedeten sich, wie der Autor ausführt, "von allen sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Traditionen, auf die sie sich 1991 bei der Umwandlung der IKP in die Linkspartei noch berufen hatten und entsagten jeder linken Bewegung" (S. 330).

Anstelle Prodis kandidierte im April 2008 der Wirtschaftsprofessor Veltroni, Vorsitzender der Demokratischen Partei (PD), zu der sich im Oktober vergangenen Jahres die ehemals kommunistischen Linksdemokraten mit der katholischen Margherita-Partei vereinigt hatten, gegen Berlusconi. Beide orientierten sich in ihrem Wahlkampf an der Zweiparteien-Scharade in den USA, wobei Berlusconi den offenen Kriegskurs des Bush-Nachfolgers McCain bevorzugte und Veltroni den zwar gemäßigter auftretenden, im Endeffekt jedoch bei der Durchsetzung US-imperialer Interessen nicht minder gewaltbereiten Barack Obama. Prodi hatte die Wahl von 2006 noch mit der Unterstützung der in Italien starken Antikriegsbewegung gewinnen können, was ihn immerhin zum Abzug der italienischen Truppen aus dem Irak veranlaßte. Den nächsten Schritt, dem US-Militär den Ausbau des Truppenstützpunktes Vinzenza zu verbieten, vollzog er schon nicht mehr mit der Folge, daß sich die Antikriegsbewegung bei der Wahl 2008 von Prodis Nachfolger Veltroni nicht mehr beeindrucken ließ.

Die Linksdemokraten hatten sich bei dieser Wahl im Unterschied zu 2006 noch weiter in Richtung der bürgerlichen Mitte orientiert. Sie gingen keinerlei Kooperationen mit kommunistischen Parteien mehr ein, was zu ihrer Wahlniederlage beigetragen haben könnte, da sie sich in den Augen linker Wähler damit - gemessen an der Tradition der Resistanza - vollends selbst diskreditiert haben. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte Italiens ist derzeit, da weder das von der "Partito della Rifondazione Communista" (PRC) dominierte Regenbogen-Bündnis noch eine der anderen kommunistischen Parteien die 4-Prozent-Hürde überspringen konnte, keine linke Partei mehr im Parlament vertreten. Die Niederlage der parlamentarischen Linken muß allerdings nicht unbedingt, wie es bei Feldbauer anklingt, mit einer generellen Schwäche der Linksopposition gleichgesetzt werden.

Da Berlusconis Rechtsblock es unterdessen an Kampfansagen an die Linke nicht mangeln läßt, ließe sich hieraus bei aller gebotenen Vorsicht vor historisch begründeten Schnellschüssen durchaus die Schlußfolgerung ableiten, daß die neue Rechtsregierung das Gefährdungspotential der von ihr vertretenen Klassenherrschaft durch eine mehr und mehr außerparlamentarisch organisierte Linke nach wie vor als recht hoch einschätzt. So forderte Marcello Dell'Ultri, mutmaßlicher Nachfolger Berlusconis an der Parteispitze und Chefideologe der in Berlusconis 2007 neugegründeter "Partei des Volkes der Freiheit" aufgegangenen Forza Italia, wie Feldbauer darlegt, mit der Resistenza "Schluss zu machen" (S. 336). Bei dieser Kampfansage an die Linke ließ Dell'Ultri es nicht bewenden: "Wir werden die Geschichte neu schreiben." (S. 336).

Es mag sein, daß die äußerste Rechte Italiens die Widerstandsgeschichte des Landes gern vergessen machen möchte, weil sie genau weiß, daß ihre momentane parlamentarische Vormachtstellung keineswegs synonym gesetzt werden kann mit den politischen Kräfteverhältnissen im Lande. Die quasi-diktatorischen Verhältnisse, die Berlusconi mit seiner Verfassungsreform durchzusetzen trachtet, könnten ganz in der Tradition der Resistenza dazu führen, die Widerspruchslage mehr noch als bisher zu verschärfen. Rund zehntausend Menschen haben in Rom bereits gegen das am 27. Juni von der im April gewählten neuen Rechtsregierung beschlossene Immunitätsgesetz protestiert, das den Amtsträgern der vier höchsten Staatsämter, also auch Berlusconi selbst, Straffreiheit zusichert.

"Quo vadis Italia?" (Wohin gehst du, Italien?) fragt Feldbauer am Schluß seines Buches, ohne seine politische Enttäuschung über den jüngsten Wahlerfolg Berlusconis und den nun drohenden neuen Faschismus verbergen zu können. Dabei sind die Androhung wie im zweiten Schritt die Anwendung massivster repressiver Gewalt zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung, die unter den Begriff Faschismus subsumiert werden könnten, kapitalistischen Staaten ohnehin immanent. Und so ließe sich als die gute Nachricht in der schlechten dieser Rechtsrutsch auch als katalysatorisches Element beim Wiedererstarken einer linken Opposition in der Tradition der Resistenza bewerten, die sich nicht per Definition auf die parlamentarische Bühne zu beschränken gewillt ist, sondern das Potential einer um ihre demokratischen und sozialen Rechte ringenden Massenbewegung in sich trägt, die umso mehr an Zulauf und Stärke gewinnt, je ungeschminkter die Verhältnisse im Berlusconi-Staat in Erscheinung treten.

11. Juli 2008


Gerhard Feldbauer
Geschichte Italiens
Vom Risorgimento bis heute
PapyRossa Verlag, 2008
360 Seiten
ISBN: 978-3-89438-386-2