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REZENSION/474: Ressler - Alternative Ökonomien, alternative Gesellschaften (SB)


Oliver Ressler (Hg.)


Alternative Ökonomien

Alternative Gesellschaften


Wie Oliver Ressler feststellt, haben es alternative Konzepte einer ökonomischen und gesellschaftliche Entwicklung seit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus schwer, da es an einem Gegenentwurf zum herrschenden System fehlt und der Kapitalismus alternativlos erscheint. Wer es sich jedoch nicht nehmen läßt, das hegemoniale System zu kritisieren, um langfristig einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen, komme nicht umhin, sich vom Stigma des Utopischen nicht schrecken zu lassen und Alternativen zu skizzieren, so unrealistisch deren Umsetzung auf breiter Front auch anmuten mag. Die Rede ist von Entwürfen, die sich von den bestehenden Machtverhältnissen in kapitalistisch-verwertungsorientierten Ökonomien und den parlamentarisch-repräsentativen Demokratien nicht vereinnahmen lassen, sondern diese in Frage stellen und deshalb im gesellschaftlichen Diskurs von jeder ernsthaften Auseinandersetzung ausgeschlossen und daher kaum noch wahrgenommen werden.

Resslers künstlerisches Schaffen ist seit langem von dem Gedanken beseelt, nicht politische Kunst zu machen, sondern statt dessen Kunst politisch zu machen und damit deplaziert, unausstehlich oder anstößig zu wirken, wie der in New York lebende Gregory Sholette in seinem Vorwort schreibt. Als Künstler, der denkt und spricht, der hinterfragt und sich einmischt, will der in Wien lebende und arbeitende Ressler die Grenzen sprengen, in die man Kunst und deren Kompetenz einzupferchen pflegt. Er hat Ausstellungsprojekte, Arbeiten im Außenraum und Videos zu Themen wie Kapitalismus, Widerstandsformen, gesellschaftliche Alternativen, Rassismus und Gentechnologie durchgeführt, wobei viele seiner Projekte in Kooperationen mit anderen Kulturschaffenden entwickelt wurden.

Dem Buch "Alternative Ökonomien, alternative Gesellschaften" liegt das Ausstellungsprojekt "Alternative Economics, Alternative Societies" zugrunde, das seit 2003 in zahlreichen Städten Europas, mitunter auch in Asien und Lateinamerika, als expandierende Archivinstallation durchgeführt wird. Präsentiert werden Videoaufzeichnungen von Interviews mit Gesellschaftstheoretikern, Ökonomen und Historikern, die unterschiedliche Konzepte und Modelle für alternative Ökonomien und Gesellschaften vorstellen. Der vorliegende Band in deutscher und ungarischer Sprache gibt die überarbeiteten Transkriptionen und Übersetzungen dieser Videos wieder, ergänzt durch einen ausführlichen Anhang mit Bildern der Ausstellung, die dem Leser deren Aufbau und Charakter vor Augen führen.

Ressler sieht das Wegbrechen klarer Orientierungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts durchaus als Chance, differenzierte Beschreibungen von Organisationsmodellen, Prinzipien für den Aufbau einer Gesellschaft und Beschreibungen konkreter historischer Erfahrungen als einen unhierarchisch strukturierten Pool vorzustellen und zu nutzen. Wie heute ein ganzes Bündel von Initiativen, Strategien und Modellen existiere, deren Gemeinsamkeit die Zurückweisung des kapitalistischen Herrschaftssystems sei, so seien der Verzicht auf die klassische Organisation in Parteien und die fehlende Dominanz der einen Bewegung über die andere Ausdruck und Inhalt des Strebens nach einer alternativen Form des Zusammenlebens und einer veränderten Gesellschaft. Die Vielfalt der versammelten Konzepte führt zwangsläufig zu inhaltlichen Antagonismen, doch zeichnen sich zugleich auch Gemeinsamkeiten wie die Stärkung von direkter oder partizipativer Demokratie, die gerechte Verteilung von Reichtum und Produktionsmitteln, eine verbindliche Solidarität zwischen den Menschen, der Abbau von Hierarchien oder die Stärkung der Selbstverwaltung ab.

In einer Mischung aus theoretischen Modellen und Fallstudien ergänzen die Interviews einander zu einem Dossier historischer und gegenwärtiger Entwicklungen, bei denen es sich um lokale Reformen, aber auch Entwürfe globaler Art handeln kann. Ein klassisches Vorbild stellt der französische Historiker Alain Dalotel vor, der an der Mauer des Friedhofs Père Lachaise von der kurzen und tragischen Geschichte der Parise Commune von 1871 berichtet. An Kollektive im Spanischen Bürgerkrieg zwischen 1936 und 1938 erinnert die Gewerkschafterin Salomé Moltó, und der Soziologe Todor Kuljic zeigt an der Arbeiterselbstverwaltung im ehemaligen Jugoslawien emanzipatorische Praktiken der einfachen Leute auf, die den Menschen später wieder weggenommen wurden. Jüngeren Datums in dieser Reihe historischer Lektionen sind Stellungnahmen maskierter Frauen und Männer aus den Reihen der Zapatistas bei den Treffen für die Sechste Deklaration im mexikanischen Chiapas.

Der in Mexiko lebende Lateinamerikaexperte Heinz Dieterich führt in seine Auseinandersetzung mit dem "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" ein, und über einen neuen Sozialismus forscht und schreibt auch der Schotte Paul Cockshott, der sich mit Wesensmerkmalen einer kooperativen und kollektiven Gesellschaft befaßt. John Holloway leitet aus dem historischen Scheitern revolutionärer Regierungen die Schlußfolgerung ab, daß an der Idee einer Transformation mit Hilfe des Staates an sich etwas falsch sein müsse, und diskutiert eine Veränderung der Welt ohne Übernahme der Macht.

Weitere in ihrer Schwerpunktsetzung theoretische Beiträge gehen unter anderem auf die Zunahme der immateriellen Arbeit ein, die weder die Ausbeutung eliminiert noch die Arbeit als solche entscheidend verändert oder gar ersetzt hat. Ausführlich zur Sprache kommt auch der Widerstand gegen verschiedene Formen der Unterdrückung in der postindustriellen Gesellschaft, in der sich die Frage nach dem revolutionären Subjekt neu stellt. Viele Interviewpartner und -partnerinnen mit anarchistischen, ökologischen oder feministischen Positionen stimmen darin überein, daß Arbeit nicht mehr als kollektives Mittel sozialer Transformation angesehen werden könne.

Michael Albert stellt die Vision einer partizipativen Ökonomie vor, die sich als Alternative zum Kapitalismus versteht und auf wenigen zentralen Werten und Institutionen beruht. Der Anarchist Ralf Burnicki hat sich mit der Möglichkeit einer gerechten Gesellschaft befaßt und im Rahmen einer Studie das Modell einer Konsensdemokratie entworfen, die auf einer Selbstorganisation von unten basiert und zu einem Umdenken der Subjekte führen soll. Auf eine Basisdemokratie setzt auch Chaia Heller, eine frühere Schülerin des Ökoanarchisten Murray Bookchin, deren Libertärer Kommunalismus auf die Veränderung der Kommunikation abzielt. Die Utopie müsse in die Küche zurückgebracht werden und dort funktionieren, wie auch die Regeln der Küche für die größeren Unternehmen gelten müßten, und nicht umgekehrt, fordert der Bremer Theoretiker Christoph Spehr einen neuen Ansatz für die postmoderne, kooperative Gesellschaft.

Fürsorge als Arbeit, die dem kommerziellen Markt an sich entgegensteht, hat die feministische Ökonomin Nancy Folbre aufs Korn genommen, wenn sie anmahnt, der gewöhnlichen Arbeit von Frauen in häuslicher Betreuung und Pflege mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Utopistische feministische Visionen stellt die Autorin Marge Piercy vor, und die Kölner Soziologin Maria Mies erörtert die Subsistenz als unmittelbare Befriedigung menschlicher Bedürfnisse im Gegensatz zur allgemeinen Warenproduktion. Und nicht zuletzt erörtern Wirtschaftstheoretiker wie Takis Fotopoulos Ansätze zu einer Überwindung von Lohnarbeit, Geld und anderen Wesensmerkmalen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung.

Bei diesen und weiteren Beiträgen, die in gebotener Kürze dazu dienen, das Gesamtwerk des Künstlers zu illustrieren, enthält sich Oliver Ressler durchweg jeder Bewertung der vorgestellten Konzepte oder Projekte, so daß es dem Leser überlassen bleibt, sich über deren Vorzüge, Nachteile und Erfolgsaussichten Gedanken zu machen. Den konstruktivistischen Wurzeln des Herausgebers am nächsten kommt wohl der Schweizer Gymnasiallehrer und Undergroundautor p.m., der die abgenutzte Terminologie der Linken schlichtweg durch neue Worte ersetzt und die mit diesen Kunstbegriffen geführte Debatte als "Video-Art" präsentiert.

Zweifellos können Künstler auch schreiben und philosophieren, sich organisieren und Widerstand leisten, in bestimmten historischen Situationen als Partisanen oder Revolutionäre in Erscheinung treten. In dem hier vorgestellten Zusammenhang geht es darüber hinaus um Kunst als Politikum, also eine Form oder ein Instrument, das Menschen zum Nachdenken, Zweifeln und Aufbegehren inspirieren kann. Gregory Sholette vermag in der "deplazierten Angelegenheit", als die der politische Künstler zumeist eingestuft wird, durchaus "für kurze Zeit alternative Ökonomien des Vergnügens und des Austausches, des Humors und des Spiels" zu erkennen, "die ultimative Bedrohungen der sozialen Ordnung darstellen".

Da Kunst als gesellschaftliches Regulativ über beträchtliche Narrenfreiheit verfügt und im Rahmen des ihr zugestandenen Spielraums provozieren darf, wo andere Stimmen und Ausdrucksformen längst sanktioniert würden, stellt sich allerdings die Frage, worin diese ultimative Bedrohung bestehen könnte, die Sholette politischen Künstlern wie Oliver Ressler attestiert. Will man nicht berufsständischem Wunschdenken verfallen und die grundsätzlich integrative und systemstabilisierende Funktion eines Handwerks oder Gewerbes im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung verkennen, sollte der Zweifel an der Widerständigkeit und Unbestechlichkeit des eigenen Werks der engste Wegbegleiter sein.

Ressler zielt darauf ab, sich direkt in die politische Sphäre einzubringen und verwendet Ästhetik auf pragmatische Weise als Strategie, mit seinen Projekten öffentliche Diskussionen auszulösen. In Zusammenarbeit mit Dario Azzellini entstanden die Filme "Venezuela von unten" (2004) und "5 Fabriken - Arbeiterkontrolle in Venezuela" (2006). Das gemeinsam mit David Thorne durchgeführte Projekt "Boom!" befaßt sich mit zentralen Widersprüchen des globalen Kapitalismus, Martin Krenn war sein Partner bei der Realisierung von "European Corrections Corporation" über die Privatisierung von Gefängnissen, und mit Zanny Begg nahm er in "What Would It Mean To Win" den Protest gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm zum Thema. Wenn Oliver Ressler sagt, er sei am Transfer von Themen vom realpolitischen in den symbolpolitischen Raum interessiert, und vielleicht dann wieder zurück, so weist ihn die Wahl seiner Themen jedenfalls als einen Künstler aus, der keine Berührungsängste mit heißen Eisen an den Tag legt.

27. März 2009


Oliver Ressler (Hg.)
Alternative Ökonomien
Alternative Gesellschaften
Promedia Verlag, Wien 2008
232 S., 19,90 Euro
ISBN 978-3-85371-291-7