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REZENSION/490: K. Bennefeld-Kersten - Ausgeschieden durch Suizid. Selbsttötungen im Gefängnis (SB)


Katharina Bennefeld-Kersten


Ausgeschieden durch Suizid - Selbsttötungen im Gefängnis

Zahlen, Fakten, Interpretationen



Mord - Folter - Selbstmord. Wenn die Verhältnisse in bundesdeutschen Gefängnissen in den Medien Berücksichtigung finden, sind Schlagworte dieser Art meist nicht fern. Das alltägliche Leben von Menschen in Unfreiheit wird der Berichterstattung erst für wert befunden, wenn es zu gewaltsamen Zuspitzungen generell gewaltsamer Haftbedingungen gekommen ist, die das Klischee vom Straftäter als einer Bestie in Menschengestalt, vor der "wir" durch deren Wegsperren geschützt werden müßten, zu bestätigen scheinen. Meldungen über Gefangenensuizide stoßen in diesem Kontext durchaus auf ein gewisses öffentliches Interesse, das allerdings nicht mit der Bereitschaft verwechselt werden darf, zur Kenntnis zu nehmen, was in bundesdeutschen Gefängnissen mit den dort inhaftierten Menschen geschieht. So war im vergangenen Jahr die Justizvollzugsanstalt Siegburg abermals in die Schlagzeilen geraten:

Zwei tote Häftlinge in JVA Siegburg

Vier Tage nach dem Selbstmord eines Häftlings in der Justizvollzugsanstalt Siegburg in Nordrhein-Westfalen hat sich ein weiterer Gefangener in seiner Zelle erhängt. In einer ersten Reaktion wiesen Justizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter (CDU) und Gefängnisleiter Wolfgang Klein ein Fehlverhalten seitens der JVA zurück. Es habe keinerlei Hinweise auf eine Suizidgefahr gegeben, betonte die Ministerin an einer Pressekonferenz.

Der 20-jährige, der wegen Mordes an seiner Freundin eine neunjährige Jugendstrafe verbüßte, war am Morgen tot in seiner Einzelzelle aufgefunden worden. Erst am Sonntag hatte sich ein 19-jähriger, der wegen Eigentumsdelikten einsaß, am Fenstergitter erhängt. Die JVA in Siegburg war wegen des Foltermords an einem 20-jährigen Häftling 2006 in die Schlagzeilen geraten. [1]

Der damalige Todesfall von Siegburg hatte soviel Staub aufgewirbelt, daß der nordrhein-westfälische Landtag eine Untersuchungskommission ins Leben rief, die im Februar 2009 in einem Zwischenbericht gelobte, daß die von Experten geäußerte Einschätzung, daß "junge Täter in der U-Haft oft erst die psychischen Schäden erleiden, die eine Eingliederung ins 'normale Leben' später unmöglich machen" [2], von nun an ernstgenommen werde. Jüngsten Studien zum Problem der Gewalt zwischen Gefangenen zufolge biete die Unterbringung in einer Einzelzelle keinen Schutz vor solchen Übergriffen, da schon die Zelle selbst "ein Übergriff" [3] sei. Gewalt, noch dazu tödliche Gewalt hinter Gefängnismauern, ist ein Thema, das angesichts jüngster Todesfälle nicht das mindeste an Aktualität und Brisanz eingebüßt hat. So rissen Meldungen über Folterungen, Morde und Selbstmorde in bundesdeutschen Gefängnissen auch in diesem Jahr nicht ab. Allein in den zurückliegenden Wochen nahmen sich, soweit bekanntgeworden, zwei Untersuchungshäftlinge durch Erhängen das Leben: am 15. Juli 2009 eine 61jährige in der Justizvollzugsanstalt Köln, eine Woche später ein 39jähriger in einem Bremer Gefängnis.

Vor diesem Hintergrund könnte dem in diesem Jahr erschienenen Buch "Ausgeschieden durch Suizid - Selbsttötungen im Gefängnis" der Diplom-Psychologin Dr. Katharina Bennefeld-Kersten ein besonderer Stellenwert zukommen, da es Aufschluß zu geben verspricht über die gemeinhin tabuisierte Frage nach den gefängnisspezifischen Ursachen von Gefangenensuiziden. Bennefeld-Kersten ist "vom Fach", sie gilt als renommierte Kriminologin und ist bereits seit 1977 im niedersächsischen Justizvollzug tätig. Sie war Leiterin der Justizvollzugsanstalt Salinenmoor bei Celle und kennt den Gefängnisalltag nicht nur aufgrund ihrer eigenen beruflichen Tätigkeit "aus dem Eff-Eff". Seit 2002 ist sie als Leiterin des Kriminologischen Dienstes in Niedersachsen und seit 2007 als Leiterin des Bildungsinstituts des niedersächsischen Justizvollzugs in Celle in führender Position tätig.

Für die Thematik der Suizide in Gefängnissen wird es in der gesamten Bundesrepublik wohl keine zweite Fachkraft geben, die sich in vergleichbarer Weise mit diesem politisch durchaus prekären Problem beschäftigt hat, das sie unter Inanspruchnahme einschlägiger Wissenschaften und eigener Studien zu erforschen sich bemüht zeigte. Bennefeld-Kersten leitet desweiteren die Arbeitsgruppe "Strafvollzug" im "Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland" (NaSPro) und arbeitet seit Jahren daran, die Suizidprävention in den Gefängnissen durch Aus- und Fortbildung der Justizbediensteten sowie eine spezifische Erforschung des Gefangenensuizids zu verbessern. In dem nun vorgelegten Werk, das eine bislang einmalige Totalerhebung aller von inhaftierten Menschen in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren zwischen 2000 und 2006 verübten Selbsttötungen enthält, geht die Autorin einer Anfangsfragestellung nach, die zumindest eine Perforierung der gesellschaftlichen Tabuisierung der Gefangenenselbsttötungen verheißt, da sie die Bedingungen der Haft wie auch die Inhaftierung selbst als Faktoren mit tödlicher Wirkung nicht gänzlich ausschließt. So heißt es im Buchrückentext:

Ausgeschieden durch Suizid - Mit dieser Formulierung wird die Personalakte eines Gefangenen ad acta gelegt, wenn er sich während der Haft das Leben genommen hat. Was kann Anlass sein für eine solche Tat? Hätte sich dieser Mensch in Freiheit auch getötet oder sind es spezielle Bedingungen, die den Suizid im Gefängnis als Ausweg aus dem Leben nahelegen?

Diese Frage wird, um dies gleich vorwegzunehmen, von der Autorin mit einem klaren "Ja" beantwortet:

Die Eingangsfrage der vorliegenden Arbeit war, ob das Gefängnis-System etwas Entscheidendes dazu beiträgt, das Gefangene veranlasst, sich das Leben zu nehmen. Die Antwort lautet: "Ja". So schwierig sich die Datenerhebung von Verstorbenen gestaltet und so spekulativ die Interpretation ihres Erlebens vor dem Tod erscheinen mag, die Ergebnisse geben - in Übereinstimmung mit der Literatur und Kenntnis des Gefängnis-Systems - eindeutige Hinweise auf vulnerable Betroffene, die ohne gewohnte soziale Unterstützung eine Vielzahl kritischer Ereignisse zu bewältigen hatten, wobei sie in ihren Bewältigungstechniken weitgehend auf intrapsychische Bewältigungsformen reduziert waren.
(S. 197)

Diese Sätze bedürfen einiger erläuternder Anmerkungen, da sie ohne Kenntnis des Gesamtwerkes nicht auf Anhieb verständlich und nachvollziehbar sind. Da wäre zum Beispiel der Ausdruck "vulnerable Betroffene" der - so auch der Begriff "Vulnerabilität" - wie ein roter Faden durch das gesamte Werk gezogen wird ganz so, als käme ihm tatsächlich eine inhaltliche Schlüsselfunktion zu. "Vulnerabilität" ist ein in vielen Wissenschaften verwendeter Begriff und bedeutet "Verwundbarkeit" oder "Verletzbarkeit". In der Psychologie werden "vulnerable Personen" als besonders leicht emotional verwundbare Menschen beschrieben, die eher als andere psychische Störungen entwickeln. Die Autorin, ihres Zeichens Diplom-Psychologin, bearbeitet mit großer Selbstverständlichkeit das von ihr in eigenen quantitativen und qualitativen empirischen Studien beschriebene Phänomen des Gefangenensuizids mit den Mitteln und auf der Basis der dieser Wissenschaftsdisziplin zugrundeliegenden Denkvoraussetzungen und Grundannahmen.

Wenngleich die Autorin es verabsäumt hat, in aller Deutlichkeit ihre eigene Auffassung über Suizid darzulegen, kann doch angenommen werden, daß sie mit der in dem Unterkapitel 3.2 "Suizid in der moralischen Bewertung" in einem kurzen historischen Abriß über die Ende des 18. Jahrhunderts begonnene Suizidforschung erwähnte Behauptung, Suizid sei ein medizinisches und psychologisches Problem (S. 46), konform geht. Allein schon angesichts ihrer eigenen beruflichen Qualifikation darf der Autorin wohl unterstellt werden, daß sie auch den Gefangenensuizid als ein medizinisches bzw. psychologisches Problem definiert. Dieser These läßt sich auf Anhieb entgegenhalten, daß sie Bestandteil einer wissenschaftlich untermauerten gesellschaftlichen Beschwichtigungs- und Desinformationskampagne sei, durch die ein im Grunde einfacher und problemlos nachvollziehbarer Sachverhalt, nämlich daß Menschen, die unter unerträglichen Bedingungen zu leben gezwungen sind, diesen durch die Beendigung ihres Lebens zu entkommen suchen, in ein schier unentwirrbar anmutendes Dickicht scheinbar unendlich vieldeutiger Zusammenhänge gezogen wird.

So verkommt der lohnenswerte Ansatz dieser Arbeit, nämlich die im allgemeinen vorherrschende Tabuisierung der Selbsttötungen gefangener Menschen durchbrochen zu haben durch die Fragestellung nach gefängnisspezifischen Ursachen, weit im Vorfeld ihrer durchaus akribisch und mit großem Aufwand betriebenen empirischen Studien zu einer Sackgasse, in der die von den Inhaftierten ganz offensichtlich als unerträglich erlebten Haftbedingungen nicht zur Disposition gestellt oder als dringend reformbedürftig kritisiert werden. Dies läßt sich auch aus dem Fallbeispiel des Gefangenen Max S., der wegen Diebstahlverdachts in Untersuchungshaft gekommen war, herauslesen, dessen Bericht Bennefeld-Kersten an den Anfang ihres Buches stellte:

(...) Die ersten Tage schlief ich kaum, lag wach im Bett und machte mir Gedanken über meine Freundin und Eltern. Nach einigen Wochen war ich seelisch dermaßen geschafft, dass ich das erste Mal an Suizid dachte. Hinzu kam das ständige Gefühl, als wenn die Zelle anfängt zu fahren. Erst langsam, doch dann immer schneller, irgendwann hatte ich das Gefühl, als fliege die Schädeldecke weg.

Schloss ich die Augen, war es vorbei, öffnete ich sie, fing alles von vorne an. Das Duschen hingegen war eine Befreiung vom Gefangensein. Es war, als flössen alle Sorgen vom Körper, und das warme Wasser vermittelte den Eindruck von Geborgenheit. Jedoch hielt dieses Gefühl nicht lange an. Dann wieder zurück in die Zelle, langsam fing ich an, sie zu hassen. Die Besuche, die ich in dieser Zeit bekam, fingen an, nichts mehr zu hinterlassen. Nach einer Stunde konnte ich nicht mehr genau den Tag sagen, wann er war. Meine Bewegungen, mein Tun, alles wurde immer mehr mechanisch, für mein Bewusstsein war kein Platz mehr. Nachts weinte ich still vor mich hin, es durfte ja keiner der Anderen hören, ich lag ja auf einer Vier-Mann-Zelle. Mein Zeitgefühl verschwand immer mehr, bald stellte sich das Gefühl ein, als wenn Raum und Zeit ineinander verschachtelt wären. Ich nahm mir vor, Suizid zu begehen, der Gedanke daran wurde immer mehr zum dominierenden Punkt. Schließlich wurde ich dann verlegt und hatte ein aufbauendes Gespräch mit der Vollzugsleiterin. Der sogenannte Tapetenwechsel tat meiner Verfassung gut. In dieser, wesentlichen Situation fand ich aus dem Teufelskreis heraus und konnte mein Ich stärken.

Zusammenfassend bin ich der Meinung, dass die Untersuchungshaft als Strafe vor der eigentlichen Strafe zu sehen ist. Denn mal andersrum gefragt, wie kann ein von der Außenwelt isolierter Gefangener den Justizbehörden signalisieren, dass sein Verhalten sich geändert hat? Wie kann er das in einer Situation, in der bereits jede Lebensäußerung unterbunden ist? Er hat doch nur zwei Möglichkeiten, entweder entzieht er sich durch Suizid oder durch ein Geständnis, damit er in Strafhaft kommt.
(S. 22)

Bennefeld-Kersten läßt diesen Schlußsatz unkommentiert stehen, ebenso die Eingangsbemerkung des Gefangenen, in der dieser erklärte, "dass die Untersuchungshaft als illegal zu bezeichnen ist, denn nach hiesiger Rechtsprechung ist ein Beschuldigter solange als unschuldig anzusehen, bis ein Gericht ihn für schuldig befindet und dementsprechend verurteilt" (S. 21). Die Autorin interessiert sich für die Gefangenen ausschließlich aus berufsständisch-psychologischer Sicht, und so wird sie jede Lebensäußerung des in einen Objektstatus gestellten Gefangenen auf der Basis ihrer Einordnungs-, Bewertungs- und Bewältigungsschemata subsumieren. Auf Max S. bezogen bedeutet dies, daß seine nur zu gut begründete Kritik an der Untersuchungshaft aus Sicht der Autorin gegenstands- und belanglos zu sein scheint, während die von ihm geschilderten negativen Auswirkungen der Haftsituation von ihr als eine (weitere) Bestätigung ihrer These, daß Suizide bzw. Suizidalität auch von Gefangenen ein psychologisches Problem darstellen, gewertet werden, wie folgender Textpassage zu entnehmen ist:

Bei Suiziden von Gefangenen drängt sich die Frage nach der freien Entscheidung in Unfreiheit unausweichlich auf. Gefangene sind in ihren Grundrechten zum Teil massiv beschnitten, und ihre Erlebniswelt ist in hohem Maß durch Fremdbestimmung und Passivität geprägt. Vor diesem Hintergrund können Entscheidungsprozesse eine tragische Wendung zum Suizid nehmen, wenn sich die Betroffenen mit dem Suizid dem "Zugriff" Anderer entziehen wollen. Die jeweilige Disposition der Personen, ob im Gefängnis oder nicht, bietet den Boden für Entscheidungsprozesse, wobei Vulnerabilität die Entscheidungsfähigkeit erheblich beeinträchtigen kann. Psychische Störungen zeigen an, dass eine Disposition zur Vulnerabilität vorliegen könnte, und tatsächlich haben verschiedene Studien zu Suiziden einen hohen Anteil psychisch beeinträchtigter Menschen in den Gefängnissen nachgewiesen (...). Auch die von Max S. berichtete Beeinträchtigung des Zeit- und Raumgefühls spricht für eine psychische Irritation und nicht nur für ihn hatte eine Art sozialer Unterstützung großen Einfluss auf die Entscheidungsfähigkeit und effektive Bewältigung problematischer Situationen.
(S. 25)

Die naheliegende Schlußfolgerung, daß Max S. die gegen ihn verhängte Untersuchungshaft, also das Herausgerissenwerden aus seiner vertrauten Umgebung, einhergehend mit einer erzwungenen Trennung von ihm nahestehenden Menschen, sowie die unfreiwillige Unterbringung in einer in Hinsicht auf Handlungsmöglichkeiten, soziale Kontakte und sensorische Reize extrem reduzierten, räumlich beengten Zelle, als Deprivation erlebt haben könnte, zieht die Autorin gar nicht erst in Betracht. Dabei stimmen die von ihm beschriebenen seelischen Nöte, die geschilderten Symptome mangelnder räumlicher wie zeitlicher Orientierung bis hin zur akuten Selbsttötungsgefährung mit den in der Psychologie beschriebenen Folgeschäden sensorischer wie sozialer Deprivation sehr wohl überein.

In Kapitel 5, in dem die Autorin schon im Titel ("Das Gefängnis - der Schauplatz für einen Suizid") ihre professionelle Distanz zu den betroffenen Menschen kenntlich macht, weil sie andernfalls kaum von einem "Schauplatz" sprechen würde, geht Bennefeld-Kersten auf die "Anpassung eines Gefangenen an die Gefängniskultur (Prisionierung)" (S. 71) ein, wie sie einen Vorgang beschreibt, für den es weder in der Untersuchungs- noch in der Strafhaft eine Rechtsgrundlage gibt. Dabei führt sie selbst, nur wenige Seiten später, die damit nicht zu vereinbarenden, im Niedersächsischen Justizvollzugsgesetz festgelegten "Vollzugsziele" an (S. 75):

Im Vollzug der Freiheitsstrafe sollen die Gefangenen fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Zugleich dient der Vollzug der Freiheitsstrafe dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.

Von einer "Gefängniskultur", an die der Gefangene "anzupassen" sei, ist hier ebensowenig die Rede wie in den entsprechenden Gesetzen der übrigen Bundesländer. In dem Strafvollzugsgesetz des Bundes von 1977, dessen Gültigkeit durch die mit der Föderalismusreform von 2006 an die Bundesländer übertragene Gesetzgebungskompetenz allerdings ausläuft, waren drei Grundsätze für den Strafvollzug festgelegt worden, von denen die heute Verantwortlichkeiten augenscheinlich nicht mehr viel wissen wollen, nämlich

den Grundsatz der Angleichung des Lebens im Vollzug an die allgemeinen Lebensverhältnisse
den Grundsatz, schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken
den Grundsatz, den Vollzug darauf auszurichten, dass er dem Gefangenen helfe, sich in das Leben in Freiheit (wieder) einzugliedern.

Bennefeld-Kersten führt im Zusammenhang mit der von ihr so benannten "Prisionierung" zwei "Grundströmungen" an, die einander inhaltlich entgegenstehen. Bei der einen, dem "Deprivationsmodell", wird "die Organisation Gefängnis verantwortlich für den Leidensdruck der Insassen und deren Identifikation mit der Gefangenensubkultur" gemacht, während bei dem "Importationsmodell das mit- und eingebrachte Wertsystem und die damit verbundene Verhaltensorientierung fokussiert" (S. 71) wird. Die Autorin unterläßt es auch an dieser Stelle, sich selbst klar zu positionieren. Aus ihren gesamten Werk geht jedoch unzweideutig hervor, daß sie die Justizvollzugsanstalten sowie die verantwortlichen Ministerien aus der Verantwortung nehmen will, weshalb sie dem "Importationsmodell" sicherlich zugeneigter ist als dem "Deprivationsmodell".

Der Entlastung der Anstalten bzw. der Justiz dient auch ihr Erklärungskonstrukt für Gefängnissuizide, bei dem neben dem bereits erwähnten "Vulnerabilitätsprinzip", das "der Erklärung der Genese psychischer Beeinträchtigungen" diene (S. 53), insgesamt vier Themenkomplexe - Person, Ereignisse, Umwelt und Bewältigung - bemüht werden, um das Problem in den Nimbus einer scheinbar unendlich komplexen Diffizilität zu manövrieren, mit deren Hilfe dann das kleine Kunststück fertiggebracht wird, in einer Arbeit, in der die Frage nach dem Suizidfaktor Gefängnis eindeutig mit Ja beantwortet wird, die Anstalten sowie die zuständigen Behörden und Ministerien zugleich von jeder Verantwortung freizusprechen. Daß bei einem solchen Ansatz keine inhaltlich stringenten Ergebnisse präsentiert werden können und Thesen aufgestellt werden, die beziehungslos nebeneinanderstehen und in ihrer Widersprüchlichkeit noch nicht einmal benannt, geschweige denn ausdiskutiert werden, ist insofern nicht verwunderlich.

So begründet die Autorin die von ihr postulierte "Notwendigkeit, über Suizide von Gefangenen zu schreiben" (S. 17) zu Beginn des Buches mit dem Abschiedsbrief eines Gefangenen, der sich erhängt hat ("Ruft den Pastor. Diese Akte könnt Ihr für immer schließen. Ich werde nie mehr rückfällig.") und bemerkt dazu: "Wir wollen, dass die Straftäter nicht mehr rückfällig werden, aber wir wollen nicht, dass sie sich das Leben nehmen." (S. 17) An weiteren Stellen des Buches tut sie ihre Absicht kund, durch ihre (vermeintlichen) Erkenntnisse und Forschungsansätze zu einer verbesserten Suizidprophylaxe in den Gefängnissen beitragen zu wollen. Dies verträgt sich allerdings nicht unbedingt mit ihrer Bereitschaft, den Gefangenensuizid, den sie "als Handlung zur Erhaltung des Selbst" (S. 53) in einem eigenen Unterkapitel (4.2.4 Bewältigung und Suizid) vorstellt, zu akzeptieren. Nicht Haft und Gefängnis, sondern die Unfähigkeit zu konstruktivem Verhalten wird als suizidauslösend dargestellt, wozu die Autorin Studienergebnisse anderer Wissenschaftler, die sich auf Gefangene beziehen, die einen Selbsttötungsversuch gemacht und überlebt haben, anführt:

Die Suizidversucher fühlten sich u.a. in der Zuweisung von Arbeit benachteiligt, in der Ansprache, im Sport und anderen Methoden der Beschäftigung und Ablenkung in der Haft. Für sich sähen sie wenige Möglichkeiten und schienen nicht in der Lage zu sein, ihre Zeit konstruktiv zu nutzen. Sie könnten sich kaum selbst beschäftigen, wenn sie unter Verschluss in ihrer Zelle seien, würden sie nichts tun, sich langweilen und über ihre Probleme grübeln. Liebling bedauert, dass dieser Vulnerabilitätsfaktor, der in klarer Beziehung zum Bewältigungskonzept stehe, bislang in der Gefangenenforschung nicht genügend exploriert sei. Die Unfähigkeit, den Gefängnisdruck zu mildern, könne dazu beitragen, dass die Schwelle zu suizidalem Verhalten überschritten werde. Es sei ihre Unfähigkeit, sich selbst konstruktiv zu verhalten, kombiniert mit erzwungenem Müßiggang, Isolation und erzwungenem Grübeln, die ihre Verletzbarkeit größer werden läßt und suizidale Gedanken und impulsive Akte von Selbstbeschädigung provoziert.
(S. 108)

Nicht der "Gefängnisdruck" soll aufgehoben oder auch nur gemildert werden - nein, die Gefangenen sollen "ihre Zeit konstruktiv nutzen". Es liegt auf der Hand, daß auf der Basis einer solchen, auf die vollständige Entlastung der Gefängnisse und Belastung der (suizidalen) Gefangenen ausgerichteten Analyse ausschließlich Ergebnisse produziert werden können, die über das bisher erreichte, noch nicht als zufriedenstellend bewertete Maß hinaus auf die Anpassung der Inhaftierten an die Gefängniskultur abzielen. Dem steht gegenüber, die Selbsttötungen gefangener Menschen "um jeden Preis" reduzieren und beenden zu wollen, basierend auf der Bewertung dieser Suizide als stumme Beweise für die Tatsache, daß die Verhältnisse in den Haftanstalten in einem noch nicht zu beziffernden Ausmaß unerträglich sind.

Gegen diese Schlußfolgerung würde Bennefeld-Kersten vermutlich einwenden, daß die Suizidzahlen in den Gefängnissen zwar höher sind als in der Gesamtbevölkerung, daß dies jedoch durch das unglückliche Aufeinandertreffen ungünstiger Faktoren, so etwa eine hohe eingebrachte Vulnerabilität und eingeschränkte Bewältigungsmodule bei gleichzeitig hoher Umweltanforderung und besonders kritischen Ereignissen, zu erklären sei. Zum Schluß ihrer Arbeit stellt die Autorin bezeichnenderweise die These auf, daß "der Suizid eines Gefangenen ein insgesamt eher seltenes Ereignis darstellt" (S. 200) und fügt zur Begründung hinzu, daß "vulnerable Personen mehr Erfahrung in der Bewältigung kritischer Ereignisse" (wie eben auch die Inhaftierung eines ist) hätten.

Ihrer Studie zufolge beenden, von Schwankungen abgesehen, jedes Jahr rund einhundert Menschen im Gefängnis ihr Leben. Eine Totalerhebung über alle Suizide, die in deutschen Gefängnissen in den Jahren 2000 bis 2006 verübt wurden, gibt für diesen Zeitraum eine Gesamtzahl von 646 an, wobei die Zahl der insgesamt Inhaftierten im Jahr 2004 135.002 betrug. Daß Bennefeld-Kersten die durchschnittlich 100 Gefängnissuizide pro Jahr als ein "eher seltenes Ereignis" bewertet sehen will, läßt sich mit ihrer hohen Position in der bundesdeutschen Justiz plausibel machen. In diesem Rahmen ist ihr Bestreben, die Suizidzahlen unter Beibehaltung des gegenwärtigen Gefängnissystems zu verringern, durchaus glaubwürdig, zumal jeder Gefangenensuizid für das Personal der Justizvollzugsanstalt Unannehmlichkeiten nach sich zieht. So muß jeder Vorfall dieser Art den Justizministerien gemeldet werden; routinemäßig wird überprüft, ob ein Fehlverhalten der JVA-Bediensteten vorgelegen haben könnte. Deren rechtliche Lage ist zudem einigermaßen bizarr. So scheinen die JVA-Bediensteten sich in einem Spannungsfeld zwischen ihrer Fürsorgepflicht einerseits und dem "Recht auf Suizid" der Gefangenen andererseits zu bewegen:

Die Verhinderung von Suiziden ist vornehmliche Aufgabe des Vollzuges. Das Grundgesetz hat den Menschen zwar mit der Freiheit ausgestattet, sich seines Lebens zu entledigen, in einem Gefängnis werden jedoch sofort Sicherungsmaßnahmen ergriffen, wenn es gilt, entsprechende Taten zu verhindern. Dieser "Verstoß" gegen das Grundgesetz ist rechtmäßig. Nach Bottke hat der Gesetzgeber den Vollzugsbediensteten eine Spezialbefugnis eingeräumt, weil die Suizide im Strafvollzug doppelt so häufig und in Bezug auf Vergleichsgruppen in Freiheit vier- bis zehnmal häufiger vorkommen (...). Nach der Spezialbefugnis können (...) - unabhängig davon, ob der Gefangene eine "freie Entscheidung" getroffen hat oder nicht - gegen diesen Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden. Der Gefangene hat zwar keine "Pflicht zum Weiterleben" (...), ein außen stehender Dritter kann jedoch oft nicht erkennen, "ob der Selbstmordentschluss aufgrund freier Willensentscheidung gefasst worden ist und deshalb zu respektieren ist, oder ob dies nicht der Fall ist."
(S. 78)

In einer eigenen Studie, durchgeführt an niedersächsischen JVA-Bediensteten, untersuchte die Autorin neben allgemeinen Fragen zu deren Einstellungen zum Gefangenensuizid auch deren Bereitschaft, den Inhaftierten "ein Recht auf den eigenen Tod" (S. 129) einzuräumen. Zusammenfassend stellte Bennefeld-Kersten, wobei ihr eine gewisse Zufriedenheit durchaus anzumerken ist, zu diesem Themenkomplex fest:

Die Akzeptanz von Suizid sowohl bei Ärzten als auch bei Bediensteten ist bemerkenswert. Fast drei Viertel der Befragten haben anderen Menschen immer oder unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Situation ein Recht auf den selbstbestimmten Tod zugestanden. Die Annahme, dass Bedienstete ihre Einstellung der "Suizidverhinderungspflicht" anpassen, indem sie das Recht auf Suizid in Abrede stellen, hat sich mit dieser Befragung nicht bestätigt. Dabei ist jedoch zu beachten, dass 60 Prozent der angeschriebenen Bediensteten den Fragebogen nicht beantwortet haben.
(S. 193)

Und:

Insgesamt kann den befragten Bediensteten eine sehr liberale Einstellung und Verständnis für die Gefangenen bescheinigt werden, deren Situation sie als durchaus schwierig und belastend eingeschätzt haben. Auch diejenigen, die anderen kein Recht auf Suizid einräumten, verurteilten die Selbsttötung nicht, sondern sahen ihre Ursache eher in einer psychischen Erkrankung.
(S. 193/194)

Da mag es einem eiskalt über den Rücken laufen. Liberale Einstellungen gegenüber Gefangenen, die sich im übrigen einem vollständigen Kontroll- und Überwachungssystem seitens des Gefängnisses und der JVA-Bediensteten ausgesetzt sehen, das ihnen nur den "Freiraum" läßt, vollständig mit der Anstalt zu kooperieren oder einem Höchstmaß an "Gefängnisdruck" ausgesetzt zu sein, zu proklamieren, sobald diese suizidale Absichten hegen, die in einer solchen Situation weder "frei" und "selbstbestimmt" sein können, mutet nachgerade makaber an. Bennefeld-Kersten allerdings meldet in ihrer Schlußbetrachtung diesbezüglichen Forschungsbedarf an: "Ein weiteres Forschungsthema sollte Einstellungen im Gefängnis zum Recht auf einen selbstbestimmten Tod behandeln" (S. 204). Da drängt sich unwillkürlich der Verdacht auf, daß "Ausgeschieden durch Suizid", so die dienstliche Bezeichnung, wenn die Akte nach der Selbsttötung eines Gefangenen geschlossen werden kann, den Vollzugsverantwortlichen gar nicht so ungelegen käme, sofern sich das Ganze in einem nach rechtsstaatlichen Kriterien einwandfreien und damit für die Justizvollzugsanstalt, -behörden und -ministerien reibungslosen Rahmen vollzieht.

Das Buch "Ausgeschieden durch Suizid - Selbsttötungen im Gefängnis" von Katharina Bennefeld-Kersten ist nur in einem sehr eingeschränkten Sinne zu empfehlen. Es ist sicherlich eine vergleichslose Studie, die unter anderem empirisches Material über die von Gefangenen in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 2000 und 2006 verübten Selbsttötungen enthält, das die zuständigen Länderjustizministerien vermutlich nicht in dieser Vollständigkeit zur Verfügung gestellt hätten, wenn die Autorin nicht selbst in führender Position in der Justiz tätig gewesen wäre. Gleichwohl läßt sich die in der Presse bereits vor Jahren aufgeworfene Frage, ob es zu einer extremen Häufung von Gefangenensuiziden gekommen ist, anhand dieses Buches weder bestätigen noch verneinen, da es über das Jahr 2006 hinaus keinerlei Angaben mehr enthält.

Die seitdem vergangenen zweieinhalb Jahre sind insofern eine einzige Dunkelzone. Ende 2006 war in Berlin die neue Justizsenatorin Gisela von der Aue in die Kritik geraten, weil sie nach einer deutlichen Häufung von Gefangenenselbsttötungen allein in Berlin, wo sich 2006 zehn Häftlinge das Leben genommen hatten, kurzerhand anordnete, solche Informationen nicht mehr der Öffentlichkeit mitzuteilen. Im Sommer 2007 wurde gleichwohl bekannt, daß sich in der JVA Tegel, dem größten Gefängnis der Bundesrepublik, bereits der dritte Häftling getötet hatte. Ende 2006 hatte eine Sprecherin der Berliner Justizsenatorin die neue Anordnung mit der Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zu begründen gesucht und desweiteren verlautbart, daß Berlin in diesem Punkt einer bundesweit einheitlichen Linie folge. Es werde nichts vertuscht, versicherte von der Aue und erklärte, daß das Parlament weiterhin in nichtöffentlicher Sitzung informiert werde.

In Berlin sollen die Gefangenensuizidzahlen seitdem stark rückläufig sein. Einem Bericht des Berliner Tagesspiegel vom 4. Februar 2009 [5] zufolge sollen sich nach den zehn Gefangenensuiziden von 2006 im darauffolgenden Jahr noch sechs, im Jahr 2008 nur noch zwei in Berlin Inhaftierte das Leben genommen haben. "Die rückläufigen Zahlen zeigen, dass die Vorbeugung funktioniert", so die Deutung des Justizsprechers Daniel Abbou. Ungeachtet der öffentlichen, zum Teil heftigen und von den übrigen Parteien in Berlin erhobenen Kritik an der Desinformationspraxis der Justizsenatorin hält von der Aue an dieser Linie fest. "Wir melden ja Todesfälle - allerdings im Rechtsausschuss und nicht per Pressemitteilung", erklärte Abbou dazu.

Die - angeblich - rückläufigen Zahlen lassen sich von unabhängiger Seite weder bestätigen noch widerlegen, weshalb nicht ausgeschlossen werden kann, daß das tatsächliche Ausmaß der Gefangenensuizide, womöglich sogar bundesweit, vor der Öffentlichkeit geheimgehalten wird. Dazu könnte Bennefeld-Kersten, die als Leiterin der Arbeitsgruppe "Strafvollzug" im "Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland" an vorderster Front mit dieser Problematik befaßt ist, ein Begründungsmuster geliefert haben. So schrieb sie in ihrem Buch in ihrem Fazit zu Kapitel 5 "Das Gefängnis - der Schauplatz für einen Suizid" über das mediale Interesse folgendes:

In der Bundesrepublik sind alle Suizide in Gefängnissen der Aufsichtsbehörde zu melden. Problematische Folgen können sich bei einer Häufung von Suizidfällen ergeben, wenn das mediale Interesse geweckt ist. Eine große Aufmachung in den Medien findet - wie in anderen Bereichen auch - häufig Nachahmer und gefährdet den angemessenen Umgang mit Suizidgefährdeten.
(S. 88)

Diesen Sätzen ist keineswegs zu entnehmen, daß die Autorin die Auffassung verträte, die Öffentlichkeit müßte lückenlos, zeitnah und vollständig über Selbsttötungen in Gefängnissen informiert werden. Diesem Zweck, so seltsam sich das anhören mag, ist auch ihr Buch, obwohl es gerade dieses Thema behandelt, nicht gewidmet. Es ist vielmehr der Erklärungs- und, etwaige Vorwürfe vorwegnehmend, Ent-Schuldungsversuch einer Angehörigen des bundesdeutschen Justiz- und -Gefängnisapparates, der für eine unbekannte Zahl inhaftierter Menschen eine tödliche bzw. lebensgefährdende Qualität angenommen hat. "Suizide sind ein Indikator dafür, wo in Gefängnissen etwas falsch läuft", hatte der Berliner CDU-Rechtsexperte Sven Rissmann Ende 2006 erklärt und damit eine von vielen Bundesbürgern geteilte Sorge zum Ausdruck gebracht, die durch das von Katharina Bennefeld-Kersten in diesem Jahr vorgelegte Buch nicht im mindestens abgeschwächt wird.


Anmerkungen

[1] Schattenblick, NACHRICHTEN\MELDUNGEN - JUSTIZ/5054: Kriminalität und Rechtsprechung - 01.05.2008 (SB)

[2] "Menschen statt Mauern. Ein Praxisbericht", von Klaus Jünschke, aus: Haftbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland. Öffentliche Anhörung zu Gefängnispolitik und Knastalltag, vom Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.), Mai 2009, S. 130

[3] ebenda, S. 129

[4] "Haftbedingungen 2008: Politische, rechtliche und empirische Grundlagen - Entwicklungen in Strafrecht, Kriminalpolitik und Justizvollzug", von Helmut Pollähne, aus: Haftbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland. Öffentliche Anhörung zu Gefängnispolitik und Knastalltag, vom Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.), Mai 2009, S. 30

[5] "Selbstmord. Vorbeugen gegen den Gefängnis-Schock", von Tanja Buntrock, Der Tagesspiegel, vom 04.02.2009

6. August 2009


Katharina Bennefeld-Kersten
Ausgeschieden durch Suizid - Selbsttötungen im Gefängnis
Zahlen, Fakten, Interpretationen
Pabst Science Publishers 2009
Lengerich, Berlin, Bremen, Miami, Riga, Viernheim, Wien, Zagreb
ISBN 978-3-89967-535-1