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REZENSION/541: Shlomo Sand - Die Erfindung des jüdischen Volkes (SB)


Shlomo Sand


Die Erfindung des jüdischen Volkes

Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand



Daß ein Buch mit dem Titel "Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand", zumal von einem jüdisch-israelischen Historiker verfaßt, "kontrovers aufgenommen" und nicht nur im israelischen, sondern im globalen Blätterwald ein gewaltiges Rauschen verursachen würde, dürfte die Leserschaft - egal ob pro oder contra Zion - kaum überrascht haben, wohl aber die Entdeckung, daß sich hier keineswegs nur Israels, sondern weltweit jeder nationale Gründungsmythos auf dem Prüfstand befindet und daß die Provokation viel weiter und in eine andere Richtung führt, als der Buchname auf Anhieb vermuten läßt.

Im Vorwort der hier zur Rezension vorliegenden deutschen Ausgabe und in der Einleitung des Anfang 2008 in Tel Aviv auf Hebräisch erschienenen Werks schildert der Autor die Beweggründe, die ihn zum Schreiben veranlaßt haben, seine persönliche und die politische Situation, aus der heraus und in die hinein er es geschrieben hat und seine eindeutige Stellungnahme - als israelischer Staatsbürger sowie als "professioneller Historiker" - zu nationaler Geschichtsschreibung im allgemeinen und der jüdischen im besonderen, mit einem Schlaglicht auf Israels "Historikerzunft" und deren Aufnahme seines Buchs.

Das vorliegende Werk fußt auf den wegweisenden Erkenntnissen der achtziger und frühen neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ob der Verfasser allein, also ohne die provokativen Schriften von Evron, Ram und anderen Israelis, vor allem aber ohne die Leistungen von "fremden" Nationalismusforschern wie Ernest Gellner und Benedict Anderson auf den Gedanken gekommen wäre, die Wurzeln seiner Identität und die geschichtliche Deutung der Vergangenheit, wie sie ihn von Kindesbeinen an begleiten, in Frage zu stellen, steht dahin.
(S. 48)

Die "wegweisenden Erkenntnisse", von denen der Autor hier spricht, beziehen sich auf die in den beiden letzten Vierteln des 20. Jahrhunderts aufblühende kritische Nationalismusforschung, unter anderem eine 1985 erschienene Abhandlung Benedict Andersons mit dem Titel "Die Erfindung der Nation". Seine mehrmalige ausdrückliche Bezugnahme auf dieses Buch wirft ein neues und ebenfalls wegweisendes Licht auf den scheinbar so provokativen Titel seines eigenen Buchs.

Das Kernproblem von Sands Forschungen ist hier von Anfang an das historische Phänomen des Nationalismus: seine in der Moderne beginnende Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte mit ihren politischen und kulturellen Hintergründen; seine Manifestation in den diversen Nationalstaaten samt deren jeweiligen Gründungsmythen, mit dem Hauptaugenmerk auf Israel; die Interessen, die ihn hervorbrachten und seine zunehmende Aufweichung im Zeitalter der Globalisierung.

Dem Geschichtsforscher ging es zu keiner Zeit darum, dem Staat Israel seine Existenzberechtigung abzusprechen oder sie auch nur in Frage zu stellen, noch darum, die jüdischen Glaubensinhalte und Mythen in ihrer Glaubwürdigkeit anzufechten innerhalb des Bereichs der Religion, in dem sie beheimatet sind. Seine Auseinandersetzung mit Nationalismus und Nationalstaat und "mit den Bergen von Büchern und Schriften, dem über die jüdische Geschichte angehäuften Wissen" führten den Autor nach seinen eigenen Worten auf Pfade, die bis dahin jenseits seiner Vorstellungskraft gelegen hatten.

Dieses Buch stellt die These auf, daß die Juden seit jeher an den verschiedensten Orten Fuß faßten und bedeutende Gemeinden bildeten, aber keine "Ethnie" mit einem gemeinsamen Ursprung sind, die in endloser Verbannung durch die Welt irrte. Das Thema sind nicht die historischen Tatsachen als solche, sondern ein seit langem etablierter historiographischer Diskurs, bei dessen Betrachtung man unweigerlich auf alternative Geschichtserzählungen stößt. Der Verfasser begann seine Arbeit mit der Frage des französischen Historikers Marcel Detienne: 'Wie kann man Nationalgeschichte entnationalisieren?' Wie kann man die ausgetretenen, mit dem Stoff nationalistischer Träumereien gepflasterten Pfade verlassen?
(S. 51)

Shlomo Sands Kritik und der Diskurs, auf den er sich bezieht, betreffen die Staatsform Israels als einer auf der jüdisch-biblischen Auserwähltheitstheorie basierenden Ethnokratie, eines Staates jüdischer statt israelischer Bürger, auf der Grundlage einer Überlieferung, deren dokumentarische Fragwürdigkeit den Historikern seit langem bekannt ist, ohne daß sie ihr Wissen dazu genutzt hätten, der Politik diese Grundlage ihrer Regierungsform durch Offenlegung eindeutiger historischer bzw. historiographischer Irrtümer zu entziehen, statt sie zu unterstützen durch Aufrechterhaltung falscher 'Urkunde' im wahrsten Sinne des Wortes. Daß der Verfasser durch seine für Historiker "untypische" Bereitschaft, sich rücksichtslos mit unpopulären, brisanten Themen zu befassen, ja sogar Jahrhunderte alte Tabus zu brechen und prekäre Sachverhalte zu klären, den geballten Widerstand seiner "Zunft" auf sich gezogen hat, liegt also vielmehr an seiner Kritik ihres Umgangs mit den historischen Fakten als an deren Infragestellung selbst.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass ich während meiner Arbeit nichts wirklich Neues entdeckte. Fast das gesamte Material wurde bereits von der israelischen zionistischen Geschichtsschreibung präsentiert. Einiges davon erhielt jedoch nicht die ihm zustehende Aufmerksamkeit oder wurde sofort unter den historiographischen Teppich gekehrt, während andere Fakten in "Vergessenheit" gerieten, weil sie nicht den ideologischen Bedürfnissen des nationalen Gedächtnisses entsprachen. Es ist kaum zu glauben, wie viele von den hier verwendeten Informationen einem erlauchten Kreis professioneller Historiker zugänglich waren, dann aber auf dem Weg in die Lehrbücher, und damit ins öffentliche Gedächtnis, "verlorengingen". Meine Aufgabe war, die historischen Informationen auf einer alternativen Grundlage neu zu ordnen, historische Zeugnisse der Vergessenheit zu entreißen und neue Fragen an sie zu richten.
(S. 16)

Das eigentliche Thema dieser Abhandlung zur jüdischen Geschichte als fragwürdiger Grundlage und Rechtfertigung der israelischen Staatsform und Politik ist die machtvolle und entsprechend verantwortungsvolle Position der Historiker bzw. Historiographen als Former und Verwalter des kollektiven Gedächtnisses - sowohl der einzelnen Völker wie der gesamten Menschheit -, das gespeist und geprägt wird von den durch die Geschichtsschreibung selektierten, interpretierten und nicht selten erfundenen, als historische Wahrheit präsentierten Überlieferungen.

Wenn also dieses glänzend und mit beeindruckender wissenschaftlicher Gründlichkeit und Sachlichkeit geschriebene Buch unbedingt als "Streitschrift" aufgefaßt werden soll - und von der israelischen "Historikerzunft" aufgefaßt worden ist -, dann jedenfalls sicher nicht als Kampfansage gegen das 'jüdische Volk' oder das Judentum, sondern schlicht gegen jeden Historiker, der seine Macht als "Gedächtnisformer" mißbraucht und durch Vermittlung manipulierter historischer Fakten auf verhängnisvolle Weise den Politikern bei der ihren eigenen Interessen dienlichen Irreführung der Gesellschaft unter die Arme greift. Es handelt sich mit anderen Worten um eine schonungslose Aufklärung über die Instrumentalisierung der Geschichtsschreibung durch die Politik zu deren Zwecken und die Rolle der Historiker als Handlanger der Politik.

Das Buch, "das über seine gesamte Länge die jüdische Vergangenheit in Frage stellt", ist eine grandiose Auseinandersetzung mit der Historiographie durch die Jahrhunderte hin und mit dem Berufsethos des Historiographen - am Beispiel des Staates Israel von einem seiner Staatsbürger und "professionellen Historiker".

Das Ganze ist ein in jeder Hinsicht unglaubliches Unterfangen: Diese durch Eindeutigkeit, Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit überzeugende Hinterfragung der jüdischen Geschichte mit ihrer Jahrtausende alten Überlieferung sowie die Ignorierung des aus welchen Interessen auch immer weltweit respektierten Tabus einer Infragestellung eben dieser Überlieferung samt der sich darüber legitimierenden ethnokratischen Politik Israels ist geradezu ein in die Praxis umgesetztes großartiges Beispiel für eben das vom Autor geforderte Berufsethos des Historikers und Historiographen.

Wenn der Autor sagt, er hätte sein Buch "in erster Linie für ein israelisches Publikum geschrieben", mag das seinem ursprünglichen Vorhaben entsprechen, tatsächlich entstand jedoch ein Werk von in jeder Beziehung globalem Interesse, wobei das persönliche politische Engagement des Autors und seine Sorge um den Staat Israel, aus der heraus er es geschrieben hat und aus der er an keiner Stelle ein Hehl macht, der Glaubwürdigkeit seiner Erkenntnisse nicht den geringsten Abbruch tut. Auf eine trotz der wissenschaftlich minutiösen Darstellung und der unglaublichen Fülle an Theorien, Fakten und Zusammenhängen nicht nur allgemein verständliche, sondern äußerst spannende Weise trägt es einerseits umfassend zur Aufklärung über die eigentlichen Hintergründe des ja keineswegs nur regional bedeutsamen Nahostkonflikts bei und öffnet andrerseits jedem an Politik interessierten Staats- und Weltbürger aufs eindrücklichste die Augen über das Maß an interessengebundener Manipulation und Informationsfälschung bei der nationalen wie bei der globalen historisch/politischen Berichterstattung - ein Jahrtausende altes heißes Eisen, das heutzutage dank der ungeahnten technischen Möglichkeiten aktueller und brisanter ist denn je.

Shlomo Sand beschließt sein Vorwort zur deutschen Ausgabe mit einem sehr persönlichen Wunsch.

Ich glaube nicht daran, dass Bücher die Welt verändern, doch manchmal denke ich, dass die Welt, wenn sie beginnt, sich zu verändern, sich die dazu notwendigen Bücher sucht. Es mag naiv sein, aber ich hoffe, dass dieses Werk zu diesen Büchern zählen wird.
(Seite 20)

Dieser Hoffnung kann sich der Rezensent problemlos anschließen.

22. September 2010


Shlomo Sand
Die Erfindung des jüdischen Volkes
Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand
Aus dem Hebräischen von Alice Meroz
Propyläen Verlag, Berlin 2010
506 Seiten, 24,95 Euro
ISBN 978-3-549-07376-6