Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/545: Jörg Alt - Globalisierung, Illegale Migration, Armutsbekämpfung (SB)


Jörg Alt


Globalisierung, Illegale Migration, Armutsbekämpfung

Analyse eines komplexen Phänomens



Weltweit befinden sich fast 45 Millionen Menschen auf der Flucht, sie mußten ihre Heimat aus kriegerischen, ökonomischen oder anderen Gründen des Überlebenskampfs verlassen. UN-Flüchtlingskommissar António Guterres spricht von einer "quasi-dauerhaften, weltweiten Flüchtlingsbevölkerung", die sich inzwischen etabliert habe. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl an Menschen, die nicht als Flüchtlinge gezählt werden, aber aus ähnlichen, kaum weniger dringlichen Gründen migrieren.

Wie aktuell, brisant und gewiß aufs engste mit der bundesrepublikanischen Lebenswirklichkeit verbunden dieses Thema ist, zeigt der Appell der griechischen Regierung im Oktober 2010 an die EU-Kommission, ihr bei der Bewältigung des Zustroms an Flüchtlingen vor allem über die Grenzregion nahe der Stadt Orestiada zu helfen. Die EU hat prompt reagiert und sogenannte Joint Operation Rapid Border Intervention Teams entsandt, zu denen auch deutsche Grenzschützer zählen. Sie wehren die Flüchtlinge ab und verteidigen den privilegierten Raum hinter der Grenze vor den Horden an Habenichtsen.

Zu dieser Problematik hat der Sozialwissenschaftler Jörg Alt das detaillierte, durch zahlreiche Quellen gestützte Buch "Globalisierung, Illegale Migration, Armutsbekämpfung - Analyse eines komplexen Phänomens" geschrieben. Darin steht zwar nicht die Europäische Union im Zentrum der Betrachtung, doch der Jesuitenpfarrer schildert vergleichbare Situationen: Menschen, die in ärmlichen Verhältnissen leben, verlassen ihre Heimat, um sich in einem Wohlstandsland eine eigene Existenz aufzubauen und darüber hinaus den Angehörigen daheim Geld schicken zu können.

Der Autor verbrachte mehrere Jahre in dem zentralamerikanischen Land Belize und besuchte die USA, hat mit Migranten über ihre Gründe des Abwanderns und ihre Erfahrungen gesprochen und sich auf diese Weise einen sehr persönlichen Zugang zu dem Thema verschafft. Was jedoch nicht zu der Erwartung verleiten soll, es handle sich hier um eine Betroffenheitslektüre. Jörg Alt nähert sich dem "komplexen Phänomen", wie er es treffend bezeichnet, auf streng sozialwissenschaftliche Weise und verknüpft persönliches Erleben mit empirischen Daten und theoretischen Erwägungen. Eine dezidierte Gliederung verschafft ihm den notwendigen Rahmen, so daß er ungeachtet der vielen am Rande auftauchenden und ebenfalls verfolgenswerten Fragen einigermaßen Kurs hält. Mehrmals schaltet der Autor Kapitel ein, die er "Zwischenergebnis" titelt und in denen das zuvor geschilderte resümiert und in den Kontext der übergreifenden Fragestellung eingebunden wird. Der fast 90seitige Anmerkungsteil unterfüttert das wissenschaftliche Werk.

Bezeichnenderweise wird es von dem von Loeper Literaturverlag unter der Rubrik "Migrations-Fachbuch" geführt. Darum seien die Leserinnen und Leser gewarnt: Das Buch liest sich nicht so leichtgängig und ist nicht so abenteuerlich wie Fabrizio Gattis "Bilal: Als Illegaler auf dem Weg nach Europa". Allerdings darf Alt für sich reklamieren, auf der Basis früherer Arbeiten eine systematische Analyse zum Phänomen der illegalen Migration vor dem Hintergrund der Globalisierung vorgelegt und unter dem Stichwort "Armutsbekämpfung" Vorschläge ausgearbeitet zu haben, wie seiner Meinung nach das Problem in Angriff genommen werden könnte.

Aus seiner Tätigkeit als Pfarrer im Toledo District von Belize, der unter den Einwohnern wegen seiner Abgeschiedenheit als "Ende der Welt" bezeichnet wird, hat Alt die Frage in seine Analyse eingebracht, wie sich der Einfluß von Globalisierungsprozessen auf eine Kultur auswirkt, "die sich seit Jahrhunderten kaum verändert hat, konkreter: Wie lassen diese Einflüsse Gedanken an illegale Migration aufkommen und wie beeinflusst es das Denken und Handeln der Menschen?" (S. 16) Faktoren wie Straßenbau, Besuch von außerhalb, Elektrifizierung, Zugang zu Medien, Schule, Bildung und Arbeitsmarkt sowie medizinische Versorgung werden einzeln abgehandelt und ihre jeweilige Bedeutung für das Migrationsverhalten bewertet.

Der Autor hat Gespräche mit Dorfbewohnern geführt und mit Menschen aus dem Toledo District, die illegal in Los Angeles lebten, befragt. Seine Analyse führt ihn letztlich rund um die Welt. Er untersucht die Krise des Weltwirtschaftssystems, bewertet die Bedeutung Chinas als Wachstumsmotor, schreibt über den US-Imperialismus und die Folgen militärischer Interventionen; er streift ökologische Fragen, taucht gründlich in die Untersuchung von Armutsfragen in Verbindung mit illegaler Migration ein und benennt verschiedene Ausbeutungsformen illegaler Migranten. Auf mehr als 50 Seiten macht er Vorschläge, wie die Lage der "Illegalen" verbessert werden könnte. Diese hier nur unzulässig wiedergegebene Themenvielfalt läßt ahnen, daß sich der Autor ziemlich viel vorgenommen hat.

Hinsichtlich der Chancen auf eine erfolgreiche globale Armutsbekämpfung sieht er eher schwarz: "Die Finanzkrise hat sehr deutlich gemacht, wo das Herz der reichen Länder schlägt. Auf dem von der FAO im Juni 2008 einberufenen Welternährungsgipfel wurde besonders von der Lebensmittelkrise betroffenen Ländern 12,3 Milliarden US-Dollar versprochen; davon waren bis Oktober 2008 nur knapp über eine Milliarde US-Dollar ausgezahlt worden. Andererseits wurden innerhalb weniger Monate nach Ausbruch der Finanzkrise weltweit Trillionen [sic] von US-Dollar bereit gestellt, um den globalen Banken- und Finanzsektor vor dem Kollaps zu bewahren: Wohlstandswahrung hat eindeutig Priorität vor Armutsbekämpfung." (S. 268)

Obgleich Alt Armut als Folge von Globalisierungsprozessen beschreibt und im obigen Zitat andeutet, daß den politischen Entscheidungsträgern die Wohlstandswahrung wichtiger ist als die Armutsbekämpfung, scheut er die naheliegende Schlußfolgerung, daß der Wohlstand der wenigen auf der Armut von vielen beruht und daß benennbare Personen und Institutionen dafür Sorge tragen, daß sich an den vorherrschenden, Not und Elend erzeugenden Verhältnissen nichts ändert.

Insbesondere im Zusammenhang mit der Klimadebatte lautet ein beliebtes Argument, daß es ökonomisch sinnvoller sei, heute zu investieren, um den Wandel des Klimas abzumildern, als morgen für die viel teureren Folgen aufkommen zu müssen. Ähnlich argumentiert Alt, wenn er schreibt, daß die "Globalisierungsprozesse irgendwann auch einmal in unseren Vorgärten ankommen werden" (S. 275), weshalb man das Problem nicht ignorieren sollte. Er folgert: "Entsprechend sind jene Argumente in der gesellschaftspolitischen Diskussion von Politikmaßnahmen am wirkungsvollsten, die glaubhaft, nachvollziehbar und realistisch bei der Mehrung bzw. Wahrung des eigenen Wohlstands ansetzen." (S. 274) Mit Bezug auf den Ökonomen Jeffrey Sachs schlägt Alt deshalb die Förderung des "aufgeklärten Eigeninteresses" vor.

Jeffrey Sachs, Nicholas Stern und andere Ökonomen unterstellen mit ihren Konzepten, das Eigeninteresse könne gegen sich selbst gekehrt und dadurch unwirksam gemacht werden. Ob ihnen hierbei die Geschichte von Baron von Münchhausen als Anregung diente, der sich beim Schopf gepackt und samt Pferd aus dem Sumpf gezogen hat? Eigentum bedeutet nämlich im Kern, daß anderen der Gebrauch verwehrt wird. Das ist seine Funktion, ob auf persönlicher, lokaler, nationaler oder internationaler Ebene.

Die mehrere Milliarden Dollar teure Grenzsicherungsanlage, die von den USA gegenüber Mexiko gebaut wird, ist als Botschaft zu verstehen: 'Ihr müßt draußen bleiben. Was hinter dieser Grenze liegt, ist unser Eigentum.' Gleiches läßt sich zur Europäischen Union und ihrer Grenzschutzorganisation Frontex sagen. Hier wird Eigentum gegenüber Menschen in Not militärisch verteidigt. Wer dennoch glaubt, er könne den Teufel mit dem Beelzebub austreiben und das Eigentumsstreben gegen sich selbst kehren, ohne die gesellschaftlichen Voraussetzungen in Frage stellen zu müssen, unterschätzt seine enorme Selbsterhaltsdynamik und trägt zur Stabilisierung des Systems, dessen Auswüchse lediglich gestutzt werden, bei.

Sich für Migranten und Flüchtlinge einzusetzen, ist gesellschaftlich gesehen ziemlich unattraktiv. Das gilt vielleicht weniger für jemanden, der irgendwann in seinem Leben die Entscheidung getroffen hat, Jesuitenpater zu werden, aber sicherlich im Kontext weltlicher Verhältnisse. Insofern sollte es gewürdigt werden, daß der Autor das wenig gewinnbringende Thema illegale Migration zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht hat. Damit rührt er an viel zu selten gestellte Fragen hinsichtlich der Voraussetzungen einer Ordnung, durch die die Welt in privilegierte und marginalisierte Lebensbereiche unterteilt und befestigt wird. Heute lebt Jörg Alt wieder in Deutschland. Er hat die Kampagne "Steuer gegen die Armut" losgetreten und fordert wie das globalisierungskritische Netzwerk attac die Einführung einer Finanztransaktionssteuer zur Bekämpfung der Armut. In diesem Sinne ist er seiner Linie treu geblieben.

16. November 2010


Jörg Alt
Globalisierung, Illegale Migration, Armutsbekämpfung
Analyse eines komplexen Phänomens
von Loeper Literaturverlag
Karlsruhe 2009
ISBN 976-3-86059-524-4