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REZENSION/550: Wolfgang Wagner - Die demokratische Kontrolle internationalisierter Sicherheitspolitik (SB)


Wolfgang Wagner


Die demokratische Kontrolle internationalisierter Sicherheitspolitik

Demokratiedefizite bei Militäreinsätzen und in der europäischen Politik innerer Sicherheit



Demokratiedefizit - dieser Begriff läßt eine kritische Würdigung bzw. Stellungnahme vermuten, zumal, wie in dem vorliegenden Band, die behandelten Themenbereiche Militäreinsätze und Innere Sicherheit von besonderer rechtsstaatlicher wie auch völker- bzw. menschenrechtlicher Brisanz sind in einer von anwachsenden Kriegseinsätzen und einer Qualifizierung repressiver Maßnahmen im Verhältnis zwischen den Trägern staatlicher Gewalt und den ihnen gegenüberstehenden Bürgern dominierten Zeit. Prof. Dr. Wolfgang Wagner, Politikwissenschaftler mit dem Spezialgebiet Internationale Sicherheit an der Vrije Universiteit Amsterdam, hat mit seinem 2011 im Nomos-Verlag erschienenen Werk "Die demokratische Kontrolle internationalisierter Sicherheitspolitik - Demokratiedefizite bei Militäreinsätzen und in der europäischen Politik innerer Sicherheit" eine Arbeit vorgelegt, die allein aufgrund ihres Titel Interesse zu wecken imstande ist bei all jenen der EU bzw. dem sogenannten europäischen Integrationsprozeß kritisch bis ablehnend gegenüberstehenden Menschen.

Wer nun allerdings annimmt, die durchaus kenntnisreiche Arbeit würde geeignet sein, mit sachdienlichen Informationen und schlüssigen wie stringenten Argumentationen, aber auch bohrenden Fragestellungen eine öffentlich-kontroverse Diskussion der angeschnittenen Themen zu befördern und intensivieren, wird im Zuge der Lektüre nicht umhinkommen festzustellen, daß der Autor wohl gänzlich andere Interessen verfolgt. In seinem Buch befinden sich, nahezu bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander vermischt, Anhaltspunkte für eine EU-kritische Positionierung, da immer wieder von "Demokratiedefiziten" die Rede ist, wie auch Argumentationsversuche, die die Absicht des Autors erkennen lassen, "echten" Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen und sie glauben zu machen, daß es beispielsweise demokratische "Selbstheilungskräfte" gäbe, die die keineswegs in Abrede gestellten Demokratiedefizite zu kurieren oder doch zumindest abzuschwächen imstande wären.

So führt er am Ende seiner "Schlußbetrachtung" aus, daß der Prozeß der Internationalisierung nicht nur zu einem "Demokratiedefizit [führt], das mit einem erhöhten Gewaltrisiko einhergeht", sondern auch "in Form von Redemokratisierungsschritten Selbstheilungskräfte" entfaltet (S. 187). Wagner gibt vor, den militarisierten EU-Apparat zu kritisieren, nur um diesem im zweiten Schritt zu unterstellen, er könnte und würde sein Demokratiedefizit, so als sei dies lediglich ein Negativbestandteil einer vorübergehenden Entwicklungsphase, aus eigener Wirkmächtigkeit auch wieder auskurieren. In seiner Einleitung äußert sich der Autor zum "Thema dieser Arbeit" in einer Weise, die vermuten läßt, daß die mit diesem Werk eigentlich verfolgte Absicht in der Behebung der in folgendem Zitat zur "Friedens- und Konfliktforschung als theoretischem Rahmen" angesprochenen Akzeptanzprobleme liegen könnte:

Das Thema dieser Arbeit befindet sich an einer Schnittstelle verschiedener Forschungsgebiete. Die demokratische Kontrolle internationalisierter Sicherheitspolitik lässt sich mit ganz unterschiedlichen Fragestellungen und aus ganz unterschiedlichen theoretischen Perspektiven betrachten. Sehr verbreitet ist eine steuerungstheoretische Perspektive, die die Internationalisierung von Sicherheitspolitik als Teil einer umfassenderen Entwicklung betrachtet, die als "Globalisierung" oder "Denationalisierung" bezeichnet wird. Aus diesem Blickwinkel ist vor allem interessant, inwieweit durch internationale Kooperation Steuerungsgewinne möglich sind, die angesichts wachsender Interdependenz und sinkender nationaler Handlungsspielräume besonders dringlich erscheinen. Das vorrangige Erkenntnisinteresse richtet sich somit auf die Effektivität internationaler Steuerung. Im Sinne einer "output-Legitimität" gilt diese häufig zugleich als Schlüssel zur Erzielung von Legitimität. Allerdings mussten Vertreter einer effektivitätsorientierten Legitimationsstrategie wiederholt die Erfahrung machen, dass Maßnahmen zur Effektivitätssteigerung auf Akzeptanzprobleme stoßen, wenn sie mit der demokratischen Selbstbestimmung in betroffenen Ländern nicht vereinbar scheinen. Eine Lösung des Problems demokratischer Legitimität erscheint aus dieser Perspektive also vor allem als Voraussetzung, um das dringliche Problem effektiver Steuerung bewältigen zu können. Insofern ist die Bedeutung demokratischer Legitimität internationaler Steuerung ihrer Effektivität nachgeordnet.
(S. 6/7)

Dieses Zitat gibt einen zutreffenden Einblick in die sprachliche wie auch inhaltliche Ungenauigkeit oder vielmehr zielgerichtete Indifferenz des gesamten Werkes. Da der Autor es tunlichst vermeidet, politisch eindeutig Stellung zu beziehen und sich als Kritiker oder Befürworter der gegenwärtigen Entwicklung in den EU-Staaten zu erkennen zu geben, sind seine Anleihen an medizinischem ("Selbstheilungskräfte") oder auch funktional-technischem Vokabular ("effektive Steuerung") nur folgerichtig. Aus eben solchen Gründen kann sein Buch jedoch nur in eingeschränkter Weise, wenn überhaupt, empfohlen werden. Es liefert keine Anregungen oder Beiträge zu einer offenen und, wenn man so will, demokratische Ansprüche erfüllenden Auseinandersetzung mit den angesprochenen Fragestellungen, sondern erzeugt bei der Lektüre den schalen Beigeschmack eines propagandistisch ambitionierten Werkes, dessen tatsächliche Zielsetzung nicht offen auf den Tisch gelegt wird.

So liegt der Arbeit, die der "demokratiezentrierten Friedens- und Konfliktforschung" (S. 25) zugeschlagen werden kann, das politikwissenschaftliche Postulat des sogenannten "Demokratischen Friedens" zugrunde, worunter dem Autor zufolge der "empirische Befund" zu verstehen sei, daß "Demokratien (fast) keine Kriege gegeneinander führen" (S. 28). Wagner ist zugutezuhalten, daß er aus dieser Annahme nicht eine größere Friedfertigkeit demokratischer Staaten ableitet, thematisiert er doch andernorts die gerade auch von ihnen ausgehende und zu verantwortende militärische Gewalt. Thematisieren heißt allerdings nicht kritisieren, wenngleich Wagner die Ansätze bzw. Schriften anderer Politikwissenschaftler zum Thema "Kritik an demokratiespezifischen Gewaltpotenzialen" (S. 36) heranzieht.

Die eigentlich banal zu nennende historische Feststellung, daß demokratische Staaten (fast) keine Kriege gegeneinander führen, ließe sich ungleich plausibler auf den Punkt bringen, wenn die bis in die 1990er Jahre hinein die Weltpolitik bestimmende Systemauseinandersetzung zwischen kapitalistischer und realsozialistischer Staatenwelt nicht wie bei Wagner ausgeklammert würde. Wer den Begriff "demokratisch" im Zusammenhang mit dem Westen durch "kapitalistisch" ersetzt, kann sich den sogenannten "demokratischen Frieden" als eine auf einem gemeinsamen Interesse beruhende Staatenallianz erklären, die neben sich keine Konkurrenz zu dulden bereit ist und deshalb außerhalb ihres eigenen Territoriums und unmittelbaren Einflußbereichs sehr wohl militärische Interventionen und Kriege zu führen bereit ist.

Doch auch nach dem Ende dieser Systemkonfrontation erlosch das Interesse der westlichen Staatenwelt, in ideologischer wie militärischer Hinsicht um eine Vormachtstellung in der Welt zu ringen bzw. eine solche zu beanspruchen, keineswegs. Das Theorem des "demokratischen Friedens" stand weiterhin Pate, wie Wagner unter Bezugnahme auf die Arbeiten Frank Schimmelpfennigs ausführte, der die NATO "als militärischen Arm der westlichen Gemeinschaft", der er einen "liberalen Charakter" (S. 64) bescheinigte, bezeichnete. Für das gesamte Werk Wagners ist die Anhäufung zahlreicher Zitate durchaus kennzeichnend, und so bemüht der Autor für sein Ansinnen, nicht nur die NATO als wenn auch militärisches Demokratisierungswerkzeug darzustellen, sondern namentlich die Europäische Union als "Zivilmacht" (nach François Duchêne, S. 67) zu präsentieren, andere Autoren bzw. Arbeiten.

Bei aller Zurückhaltung und der konsequenten Vermeidung einer greifbaren politischen Standortklärung kann er seinen Pro-EU- und Pro-NATO-Standpunkt ebensowenig verhehlen wie sein das ganze Buch durchatmendes Ansinnen, den "Akzeptanzproblemen" dieser Institutionen der westlichen Interessengemeinschaft entgegenzuarbeiten. Dabei kann es nicht ausbleiben, daß sich manche Sätze und Passagen so lesen, als seien sie den Selbstdarstellungs- bzw. Werbebroschüren der angesprochenen Institutionen entnommen, wie folgendes Beispiel zeigt:

Vertreter der These von der EU als Zivilmacht können zahlreiche Belege dafür anführen, dass die EU der Förderung von Demokratie verpflichtet ist. So ist seit dem Vertrag von Maastricht "die Entwicklung und Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten" als außenpolitisches Ziel vertraglich festgeschrieben, seit den neunziger Jahren wird die Förderung von Projekten in der Entwicklungszusammenarbeit an die Einhaltung von demokratischen Standards geknüpft, und die Demokratieförderung ist - trotz aller Schwierigkeiten und Rückschläge - ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil der Politik gegenüber den Mittelmeeranrainern, östlichen Nachbarstaaten und anderen Regionen.
(S. 67)

Prof. Wolfgang Wagner war zwischen 2002 und 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), ohne die, wie er in seinem Vorwort erwähnt, sein Buch nicht entstanden wäre. Die enge Verbundenheit des Autors mit diesem Institut läßt auf eine große inhaltliche Übereinstimmung schließen, weshalb ein Blick auf die politische Positionierung dieser Stiftung zur Einschätzung des vorliegenden Werkes durchaus nützlich sein kann. Die HSFK wurde 1970 von der Hessischen Landesregierung als selbständige Stiftung ins Leben gerufen. Ihre Forschungsergebnisse, so hießt es auf ihrer Website, werden "im Rahmen ihrer Politikberatung praxisorientiert in Handlungsoptionen umgesetzt" [1]. Es liegt auf der Hand, daß die von Wagner bzw. der HSFK betriebene Friedens- und Konfliktforschung die größtmögliche Nähe zu staatstragenden Positionen aufweist und in einem engen Kontext zu einem Politikverständnis steht, in dem die NATO als die größte Friedensbewegung der Welt und die Bundeswehr als eine Armee dargestellt wird, die "unsere" Interessen am Hindukusch "verteidigt".

Erschienen ist der vorliegende Band in der Reihe "Weltpolitik im 21. Jahrhundert", die im Auftrag der 1969 gegründeten "Sektion Internationale Politik" der bereits 1951 ins Leben gerufenen "Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft", einer als gemeinnützig anerkannten Vereinigung, die "ihre Aufgabe darin [sieht], die Entwicklung der Forschung und Lehre der Politikwissenschaft sowie deren Anwendung in der Praxis zu fördern" [2], herausgegeben wird. Politikwissenschaft ließe sich in diesem Zusammenhang recht frei übersetzen als wissenschaftlicher Hilfsdienst staatlicher, aber auch suprastaatlicher bzw. internationaler Regierungsstellen und Institutionen, was inhaltlich bei gesellschaftlich relevanten und kontroversen Fragen eine grundlegende Akzeptanz bzw. Übernahme staatlicher Positionen impliziert und vermuten läßt, daß die gesamte Forschungstätigkeit auf eine solche Politikberatung ausgerichtet ist.

Kritische Töne zu so hochsensiblen Fragen wie die nach der Effizienz des Grundrechtsschutzes sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der gesamten EU oder der kaum als solche zu bezeichnenden demokratischen Legitimation der Kriegseinsätze von Bundeswehr und NATO sind von einem solchem Forschungsverständnis nicht zu erwarten, ist es doch augenscheinlich darauf ausgerichtet, bei der Bewältigung von "Akzeptanzproblemen" der nicht eben selten gegen die Interessen der eigenen Bevölkerung durchgesetzten Maßnahmen zu assistieren und von Seiten der Wissenschaft den Regierungsverantwortlichen Hilfestellungen zu offerieren bei der Frage, wie diese Ablehnung bzw. die daraus womöglich resultierenden Proteste abgeschwächt, eingebunden und auf leisen Sohlen neutralisiert werden können.

In seinem Vorwort (S. 13) erwähnt Prof. Wagner die Europäische Kommission, die "wichtige Teile der Arbeit für dieses Buch" im Rahmen des Projekts "Reconstituting Democracy in Europe" (RECON) gefördert hat. Dieses Projekt wurde im Januar 2007 ins Leben gerufen zu einem Zeitpunkt, an dem der EU-Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden längst durchgefallen war und große Anstrengungen unternommen wurden, ihn inhaltlich weitestgehend unverändert, aber mit neuer Namensgebung - als EU-Reformvertrag - wieder aufs Tapet zu bringen. Dies geschah nicht zuletzt deshalb, um die 2004 mit der Gründung der EU-Rüstungsagentur eingeleitete Militarisierung der EU ungeachtet des Scheiterns der EU-Verfassung weitertreiben zu können.

Auf dem Lissaboner Gipfel im März 2000 hatten die Regierungen der EU-Staaten beschlossen, durch die Schaffung eines Binnenmarkts für Wissenschaft und Technologie ("European Research Area" - ERA) für eine bessere Nutzung der europäischen Forschungstätigkeiten zu sorgen. Um dieses ehrgeizige Projekt zu realisieren, sprich zu finanzieren, wurde von der EU-Kommission das "Sixth Framework Programme for Research and Technological Development" aufgelegt, in dessen politikwissenschaftlichem Bereich ("Citizens and governance in a knowledged-based society") das RECON-Projekt angesiedelt wurde. Dieser Bereich nimmt im Rahmen der gesamten Forschungsförderung durch das "Sixth Framework Programme" von über 17 Milliarden Euro einen eher geringfügigen Anteil von 247 Millionen Euro [3] ein. Aus diesem Topf mag dann auch die Förderung geflossen sein, für die der Autor sich in seinem Vorwort bei der Europäischen Kommission bedankt.

Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum Wagner ausgerechnet die Lissabon-Verträge, von denen sachkompetente Kritiker behaupten, sie würden die Militarisierung Europas entscheidend vorantreiben und manifestieren, als mögliches Heilmittel zur Behebung der von ihm konstatierten Demokratiedefizite anpreist. Im 4. Kapitel zeigt er, "dass die Internationalisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ihre demokratische Kontrolle erschwert hat" und daß "somit in diesem Politikfeld ein Demokratiedefizit entstanden ist" (S. 108). Anstatt auf der Basis dieser Feststellung die Internationalisierung zu hinterfragen und zu kritisieren, geht Wagner den umgekehrten Weg, indem er auch noch die Internationalisierung der (kaum vorhandenden nationalen) demokratischen Kontrolle propagiert.

In Deutschland gibt es schon heute, das wird niemand bezweifeln wollen, "Akzeptanzprobleme" im Zusammenhang mit dem Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan, der mit der Festlegung des deutschen Grundgesetzes gegen Angriffskriege nicht zu vereinbaren war und ist, weshalb erhebliche juristische Winkel- und politische Schachzüge erforderlich waren, um deutsche Soldaten an den Hindukusch in den dortigen Krieg bringen zu können. Nun in Aussicht zu stellen, daß im Rahmen der EU, die ihrerseits ein administrativer Moloch ist, um dessen parlamentarische Kontrolle seitens der Bevölkerungen der Mitgliedstaaten es noch ungleich schlechter bestellt ist, eine verbesserte demokratische Kontrolle der Sicherheits- und Verteidigungspolitik möglich werde, entbehrt jeder Logik. Wagner jedoch versucht sich an dieser Quadratur des Kreises mit nicht eben plausiblen Argumentationssträngen und Ergebnissen, wie folgendes Beispiel veranschaulicht:

Wie die vorangegangenen Abschnitte gezeigt haben, ist das entstandene Demokratiedefizit in der europäischen Sicherheitspolitik weder unbemerkt noch unbeantwortet geblieben. Vielmehr hat sich eine Koalition nationaler Parlamente, supranationaler Institutionen und einiger Regierungen der Mitgliedstaaten erfolgreich für eine Reihe von Reformen eingesetzt. Für diese Reformbemühungen bot der Verfassungskonvent eine einmalige Chance, jenseits intergouvernementaler Verhandlungen auf Verbesserungen der parlamentarischen Kontrolle und des Grundrechteschutzes zu dringen. Die Abgeordneten aus den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament haben diese Chance genutzt und weitreichendere Verbesserungen der demokratischen Kontrolle in den Verfassungsvertrag aufgenommen.

Der Reformvertrag von Lissabon hat diese Reformen ohne nennenswerte Abstriche übernommen. Mit dem Inkrafttreten am 1. Dezember 2009 ist das Demokratiedefizit in der europäischen Sicherheitspolitik spürbar vermindert worden.
(S. 182)

Das kann man auch anders sehen. Kritiker des sogenannten EU-Reformprozesses weisen seit langem darauf hin, daß die (gescheiterte) EU-Verfassung bzw. der (angenommene und 2009 in Kraft getretene) EU-Reformvertrag die Militarisierung durch die Ausschaltung bzw. Reduzierung demokratischer Hemmnisse befördert. Unbestritten gehört das Prinzip der Gewaltenteilung, worunter das separate und einander wechselseitig kontrollierende Agieren von Exekutive, Legislative und Judikative zu verstehen ist, zu den Grundfesten parlamentarischer Demokratien. In den Gründungsverträgen der Europäischen Union, genauer gesagt dem "Vertrag über die Europäische Union" (EUV) und dem "Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union" (AEUV) werden jedoch grundlegende Regelungen getroffen, die dieses Prinzip verletzen, so auch - gerade auch - im Bereich der Sicherheitspolitik.

Daß die Europäische Union eine potentiell kriegführende Staatengemeinschaft ist, steht spätestens seit Inkrafttreten der Lissabon-Verträge außer Frage und ist dem Regelungsbereich der nationalen Parlamente entzogen. So heißt es in Art. 42 Abs. 1 EUV, daß die "Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik integraler Bestandteil der Außen- und Sicherheitspolitik" sei und der "Union eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Operationsfähigkeit" sichere, auf die die Union bei "Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen" zurückgreife. Wie demokratisch wäre denn eine solche "Operationsfähigkeit" außerhalb des EU-Territoriums, wie Kriegführung und militärische Interventionen euphemistisch umschrieben werden?

Eine parlamentarische Kontrolle findet bestenfalls noch (vereinzelt) auf nationalstaatlicher Ebene statt. Das europäische Parlament hat keine Entscheidungsbefugnis, wurde doch in Art. 42 Abs. 4 EUV festgelegt: "Beschlüsse zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, einschließlich der Beschlüsse über die Einleitung einer Mission nach diesem Artikel, werden vom Rat einstimmig auf Vorschlag des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik oder auf Initiative eines Mitgliedsstaats erlassen." Das europäische Parlament wird vom Hohen Vertreter "unterrichtet", dieser hat darauf zu "achten", daß dessen "Auffassungen gebührend berücksichtigt werden" (Art. 36 EUV). Klingt das nach echter parlamentarischer Kontrolle? Mitnichten.

Eklatante Demokratiedefizite, um diesen Kernbegriff des vorliegenden Buches noch einmal aufzugreifen, werden durch den Lissabon-Vertrag festgeschrieben und keineswegs, wie der Autor glauben machen möchte, kuriert oder zumindest abgeschwächt. Die von Wagner in seinem Buch vorgenommene Verknüpfung von Sicherheitspolitik und Grundrechten, keineswegs unbegründet durch die unschwer in beiden Bereichen feststellbaren Demokratiedefizite, ist jedoch nicht der Bewertung geschuldet, daß beide Defizite zwei Seiten ein- und derselben Medaille wären. Eine solche Kritik würde auf der Feststellung beruhen, daß die durch die europäische Vertragsreform vorangetriebene Militarisierung der EU-Staaten zwecks militärischer Herrschaftssicherung und Interessendurchsetzung selbstverständlich auch ein Anziehen innenpolitischer Daumenschrauben erfordert und voraussetzt, weil mit einem Anwachsen der Proteste zu rechnen ist, je aggressiver diese Kriegführungspolitik durchgesetzt wird.

Wagner hingegen verknüpft die beiden Bereiche, um die schwerlich in Abrede zu stellende Tatsache, daß die Entscheidung über militärische Einsätze ("Missionen") demokratischen Ansprüchen nicht genügt, durch die Behauptung zu relativieren, daß die EU-Reformverträge zumindest in Hinsicht auf den Schutz der Grundrechte deutliche Verbesserungen gebracht hätten. So zieht Wagner am Ende des Buches in seiner "Gesamtwürdigung der Reformen durch Verfassungskonvent und Reformvertrag" folgendes Fazit:

Die vorangegangene Diskussion hat deutlich gemacht, dass der Reformvertrag eine ganze Reihe von Bestimmungen enthält, die die demokratische Kontrolle der europäischen Sicherheitspolitik verbessern würden. Für die strafjustizielle und polizeiliche Zusammenarbeit gilt dies in weit höherem Maß als für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Zum einen verbessert der Lissaboner Vertrag den Grundrechtsschutz ganz erheblich. (...)

Zum anderen revolutioniert der Lissaboner Vertrag die Entscheidungsverfahren: Durch die Ablösung der Einstimmigkeitserfordernis durch Mehrheitsentscheidungen im Rat und gleichberechtigte Mitentscheidung durch das Europäische Parlament wird es wahrscheinlicher, dass getroffene Maßnahmen weniger als bisher auf Kosten von Grundrechten gehen. Alle diese Reformen konnten nur durch eine Änderung der Verträge erreicht werden und waren daher auf den erfolgreichen Abschluß des Ratifizierungsverfahrens angewiesen. Ohne Zweifel gehört der Grundrechtsschutz zu den Gewinnern der Verfassungsdiskussion und des daraus resultierenden Vertrags von Lissabon.
(S. 173/174)

Hier werden Äpfel mit Birnen verknüpft. Die von möglichen Auslandseinsätzen europäischer Eingreiftruppen betroffenen Menschen können nicht Träger hiesiger, sei es im deutschen Grundgesetz für Deutschland, in der Grundrechtecharta der EU für die EU-Staaten oder in der Europäischen Konvention für Menschenrechte für die Mitgliedstaaten des Europarats niedergeschriebenen Grundrechte sein. Die Frage einer Kriegsermächtigungsautomatik, die, schöngeredet als operative Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte (Jugoslawienkrieg) oder dergleichen mehr dargelegt wird, unterliegt keiner nennenswerten demokratischen Kontrolle. Hier von einem "Defizit" zu sprechen, so als wäre dies lediglich ein im übrigen leicht zu behebender Schönheitsfehler, trägt ebenso zur Verharmlosung und Verschleierung der bloßen Tatsache bei, daß von europäischem und damit auch deutschem Boden Krieg geführt wird und weiterhin werden soll, obwohl das nach 1945 niemand wollte, wie die Behauptung, es habe durch die Lissabonverträge wenn nicht in diesem Punkt, so doch in Hinsicht auf den Schutz der Grundrechte deutliche Verbesserungen gegeben.

Das Buch "Die demokratische Kontrolle internationalisierter Sicherheitspolitik" liefert keine Argumentationshilfen oder fachlich fundierten Ausführungen für an diesen Fragen interessierte Leser, die sich tatsächlich kritisch-analytisch mit der Problematik befassen wollen. Die eigentliche Stoßrichtung liegt vielmehr darin, durch die Feststellung, im Zuge der Internationalisierung sei es in verschiedenen Bereichen zu Demokratiedefiziten gekommen, die durch nationale Institutionen sowie die bestehenden europäischen nicht zu beheben seien, einer weiteren Internationalisierung bzw. Europäisierung der als Schutzmaßnahmen ausgewiesenen administrativen Funktionen das Wort zu reden. Die darin enthaltene Zirkelschlüssigkeit, nämlich ein bestehendes Problem mit einer Rezeptur zu behandeln, die zu einer Intensivierung der Faktoren führt, die zu dem Problem geführt bzw. dessen Entwicklung begünstigt haben, ist in diesem Fall Programm. Wolfgang Wagner kehrt in diesem Buch das Unterste nach oben und täuscht einen kritischen Ansatz gegenüber der gegenwärtigen Entwicklung in der EU vor, der nicht nur nicht erfüllt, was er verspricht, sondern offensichtlich darauf abzielt, beunruhigte und kritische Bürger in den EU-Staaten in Sicherheit zu wiegen und über die tatsächliche, nach wie vor alles andere als demokratische Entwicklung hinwegzutäuschen.

[1] http://www.hsfk.de/Die-HSFK.13.0.html?&no_cache=1
[2] https://www.dvpw.de/wir/profil/ziele.html
[3] http://cordis.europa.eu/fp6/whatfp6-print.htm


21. Januar 2011


Wolfgang Wagner
Die demokratische Kontrolle internationalisierter Sicherheitspolitik
Demokratiedefizite bei Militäreinsätzen und in der europäischen
Politik innerer Sicherheit
15. Band der Schriftenreihe Weltpolitik im 21. Jahrhundert,
hrsg. im Auftrag der Sektion Internationale Politik der
Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft
Nomos Verlagsgesellschaft
Baden-Baden, 1. Auflage 2011
208 Seiten
ISBN 978-3-8329-6023-0