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REZENSION/553: Bergstreser, Möllenberg, Pohl (Hrsg.) - Globale Hungerkrise (Recht auf Nahrung) (SB)


Michael Bergstreser, Franz-Josef Möllenberg, Gerd Pohl (Hrsg.)


Globale Hungerkrise

Der Kampf um das Menschenrecht auf Nahrung



Die vorherrschenden Produktionsverhältnisse sollten nicht alternativlos sein, wenn fast jeder sechste Mensch chronisch unterversorgt ist, jährlich rund 30 Millionen Menschen verhungern und die Zahl der Hungerleider entgegen aller vollmundigen Versprechungen der relativ wohlhabenden Staaten, sich um das Problem kümmern zu wollen, wächst und wächst. Weder durch bewaffnete Konflikte noch durch Seuchen kommen so viele Menschen um wie durch den Nahrungsmangel. Bis tief in die Linke hinein herrscht die Ansicht vor, der Hunger in der Welt gehe allein auf eine ungerechte Verteilung von Nahrung zurück und es sei somit lediglich eine Frage der Regulierung, die Knappheit zu beheben. Diese Vorstellung trifft auch auf die in dem vorliegenden Sammelband "Globale Hungerkrise" des VSA-Verlags vertretenen Autorinnen und Autoren zu.

Ob sie wie Harald Wiedenhofer auf den Zusammenhang von Hunger und der Subventionierung von Biokraftstoffen durch die USA und EU verweisen, die WTO-Verarmungspolitik kritisieren wie Alexis Passadakis, Spekulationsgeschäfte mit Nahrungsmitteln ankreiden wie Jörg Goldberg oder Hunger vor dem Hintergrund der Finanzmarktkrise und der Suche des frei vagabundierenden Kapitals nach lukrativen Anlagemöglichkeiten analysieren wie Peter Wahl, um nur eine Auswahl an Autoren und Themen zu nennen, jeder Aufsatz trägt auf seine Weise zur Gesamtanalyse der globalen Hungerkrise bei und soll den "Kampf um das Menschenrecht auf Nahrung" unterstützen, wie es im Untertitel des Buchs heißt.

Wenn aber, wie hier vorausgesetzt und behauptet, Hunger ausschließlich eine Folge der ungerechten Verteilung von Nahrung wäre, so wundert es schon, daß viele Experten, nicht zuletzt FAO-Direktor Jacques Diouf, eine dringende Produktionssteigerung anmahnen, da andernfalls die Zahl der Hungernden zunehme. Wenn genügend Nahrungsmittel für alle Menschen existierten, bedürfte es eigentlich keiner Steigerung der Ernteerträge. Außerdem deuten die stetig sinkenden Weltgetreidevorräte, die sich gegenwärtig auf ihrem historisch tiefsten Stand befinden, auf einen absoluten und nicht nur relativen Nahrungsmangel. Damit soll gesagt werden, daß es wohl nicht allein eine Frage der Verteilung ist, damit alle Menschen ausreichend mit Nahrung versorgt werden, sondern auch eine grundsätzliche Frage der Produktionsbedingungen.

Ungeachtet dieses Widerspruchs ist nicht zu leugnen, daß eine profitgetriebene Wirtschaftsordnung in besonderer Weise Hunger erzeugt. Hungernde Menschen werden von den Ökonomen nicht einmal als Nachfragefaktor gerechnet, weil sie in der Regel nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um eine Ware nachzufragen. Folgerichtig erweist sich der Kapitalismus von vornherein als völlig ungeeignet, um den Hunger in der Welt zu beseitigen. Mehr noch, grundsätzlich müßte die kapitalistische Mangelproduktion als Voraussetzung und Ziel profitorientierten Wirtschaftens bezeichnet werden. Erst wenn eine Ware knapp ist und Menschen unbefriedigte Bedürfnisse haben oder ihnen existentielle Not droht, sind sie bereit, sich in Produktionsverhältnisse zu begeben und einer Verwertungsordnung zu überantworten, in der ihnen von vornherein ein Teil des Lohns als Mehrwert abgenommen wird. Wäre hingegen im Idealfall Nahrung (z. B. sauberes Trinkwasser) vollkommen frei verfügbar, besäße sie keinerlei Tauschwert, und es könnten keine Profite mit ihr erwirtschaftet werden.

Allerdings hat das kapitalistische System den Hunger nicht für sich gepachtet. Zu einer der größten Hungersnöte in der neueren Geschichte kam es 1932/33 in der sowjetischen Republik Ukraine und angrenzenden Regionen, Holodomor - Hungertod - genannt. Folglich müßte auch die Frage, wie der Hunger in der Welt beseitigt werden kann, über die des politischen Systems hinausgetrieben werden. Was jedoch nicht bedeutet, daß die Frage des Systems und seiner wirtschaftlichen Ausprägungen unbeachtet bleiben kann. Im Gegenteil. So beschreibt FIAN-Mitglied Armin Paasch in wenigen Sätzen, wie die eigentlichen Nahrungsproduzenten, die Bauern, im Rahmen der vorherrschenden Wirtschaftsordnung systematisch in die Not getrieben wurden:

"Die Vorstellung, die Ernährung könne am besten über den Import billiger Lebensmittel gesichert werden, erweist sich heute als fataler Irrtum. Die seit drei Jahrzehnten forcierte Globalisierung der Agrarmärkte hat zunächst jene marginalisiert, die das Gros der Grundnahrungsmittel produzieren, allen voran Kleinbauern, Landarbeiter, Indigene, Nomaden und Fischer. Als dann 2007 und 2008 die Billigimporte ausblieben, konnten die heimischen Produzenten die Angebotslücken nicht mehr schließen, und die Hungerkrise schwappte auf die Städte über." (S. 44)

Mit Nachdruck waren die Regierungen der Entwicklungsländer von internationalen Institutionen wie die Weltbank sowie den Industriestaaten, die einer neoliberalen Ideologie anhängen, dazu gedrängt worden, die Subsistenzwirtschaft abzuschaffen und statt dessen "cash crops", also Agrarprodukte für den Export, zu erzeugen, damit Devisen ins Land kommen, die dann vorzugsweise zur Begleichung des Schuldendienstes verwendet werden. Andere Nahrungsmittel, die ein Land nicht mehr selbst herstellt, sollte es vom Weltmarkt beziehen. Dieses System setzte allerdings voraus, daß genügend Nahrung zu erschwinglichen Preisen vorhanden ist. Nicht erst 2007, 2008, also auf dem Höhepunkt der globalen Hungerkrise, als erstmals die Zahl der Hungernden die Milliardengrenze überschritt, hat sich das Konzept als untauglich im Sinne der behaupteten Absicht erwiesen, Ernährungssicherheit für die Entwicklungsländer zu gewährleisten. Auch vor der sogenannten Krise haben mehr als 800 Millionen Menschen gehungert.

Der Generalsekretär der Internationalen Union der Lebensmittelarbeitergewerkschaften (IUL) Ron Oswald knüpft in seinem Aufsatz "Ernährungskrise, Transnationale Konzerne und soziale Regulierung" inhaltlich an Paasch an, wenn er feststellt: "Im Dokument der FAO für die Welternährungskonferenz 2008 findet sich das Wort Unternehmen nicht ein einziges Mal. Es gibt nur Märkte, Marktsignale und Preise. Die Kräfte, die den Hunger fördern, entwickeln sich nicht von selbst - sie werden vielmehr entwickelt. Wenn die weltweiten Getreidevorräte niedrig sind, dann deshalb, weil Regierungen systematisch gedrängt, bearbeitet, erpresst und verführt werden, diese Vorräte vollständig zu verkaufen, womit sie einen wesentlichen Mechanismus zur Kontrolle des Angebots privatisiert haben. Jetzt kontrollieren die Konzerne die Nahrungsmittelvorräte des Planeten." (S. 82)

Da setzt auch der Berliner Politikwissenschaftler Elmar Altvater seine Kritik an, wobei er das Argument, Hunger sei eine Folge ungünstiger klimatischer Verhältnisse, also quasi naturgegeben, entkräftet: "Der Klimawandel ist für die Verschärfung der Hungerkrise verantwortlich, jedoch nicht direkt, sondern weil die gesellschaftlichen Systeme der Anpassung an den Klimawandel unter der Logik der kapitalistischen Inwertsetzung von Ressourcen, von Land und Wasser, der Atmosphäre und der Geldsysteme - wie am Beispiel der Hungersnöte in Indien und China in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts angedeutet wurde - zusammengebrochen sind." (S. 119)

Jene kapitalistische Inwertsetzung, das sei hier ergänzt, läßt sich treffend als Durchsetzung der Eigentumsordnung oder als Raub beschreiben, da Wasser nur dann einen Geldwert besitzt, wenn Menschen gewaltsam (direkt oder strukturell) davon abgehalten werden, sich an dem Wasser zu laben. Daran wird deutlich, daß kapitalistisches Wirtschaften auf Verknappung hinausläuft, auf die Produktion von Mangel, der dann von den Regierungen administriert, nicht aber behoben wird.

Nochmals einige Seiten weiter, gegen Ende des Sammelbands, spitzt der ehemalige UN-Sonderermittler für das Recht auf Nahrung Jean Ziegler die Gesamtaussage des Buchs drastisch zu:

"Es gibt kein unabänderliches Schicksal. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet." (S. 188) Der aus der Schweiz stammende ehemalige Weggefährte des Revolutionärs Che Guevara bemängelt nicht nur, er deutet auch an, wo er einen Ansatz zur Veränderung sieht: "Wo ist Hoffnung? In der Weigerung des Menschen, eine Welt zu akzeptieren, in der das Elend, die Verzweiflung, die Ausbeutung und der Hunger einer Vielzahl den relativen Wohlstand einer gewöhnlich weißen Minderheit gewährleistet." (S. 189)

Wem diese, zugegeben etwas vereinfachende Aussage zu unkonkret erscheint - was sie nicht bleiben müßte, sofern sie ernst genommen würde -, der findet in den dreizehn Kapiteln zahlreiche Anknüpfungspunkte konkreterer Art. So verlangt der Gewerkschaftsfunktionär Franz-Josef Möllenberg in seinem Vorwort, daß Menschen von ihrer Arbeit leben können müssen, "ob als Arbeiter in der Teefabrik von Unilever in Pakistan oder als Kellner in Deutschland" (S. 7).

Bei dieser Forderung bleiben allerdings die Produktionsverhältnisse weitgehend unangetastet, der Arbeitsbegriff wird nicht kritisch reflektiert, sondern positiv adaptiert. Arbeit bleibt in diesem Konzept weiterhin fremdbestimmt und dient der Kapitalakkumulation durch den Eigner der Produktionsmittel. Noch vor gut zwei Jahrzehnten hat es zu diesem Wirtschaftssystem eine Alternative gegeben, den staatlichen Sozialismus. Die Konsequenz aus dessen Niedergang muß nicht zwangsläufig bedeuten, daß damit die Idee des Sozialismus an sich der Geschichte zu überantworten ist.

Sicherlich dürfte Möllenberg mit vielen Leserinnen und Lesern einen Konsens darüber erzielen, daß eine Welt, in der Menschen von ihrer Arbeit leben können, wünschenswerter ist als eine, in der sie nicht einmal das können. Und wenn er sich "eine neue Solidarität gegen Hunger in der Welt" (S. 8) wünscht, dann enthält das theoretisch Ansatzflächen für ein grundlegendes Hinterfragen der Produktionsbedingungen. Wobei auch hierzu kritisch einzuwenden ist, daß noch niemand von Solidarität satt wurde. Es bedürfte wohl etwas mehr als eines bloßen Lippenbekenntnisses aus Politikermund, um den Hunger aus der Welt zu schaffen. Das beweist die Vereinbarung der im Jahr 2000 beschlossenen Millenniumsziele, die unter anderem eine Halbierung der Zahl der Hungernden bis 2015 vorsehen. Das Ziel wird nicht nur verfehlt, der Hunger nimmt seitdem sogar weiter zu.

Auf der gleichen Linie wie Möllenberg fordert auch Paasch "würdige Löhne und Arbeitsverhältnisse entlang der gesamten Lieferkette" (S. 54) der Nahrungsproduktion. Das Menschenrecht auf Nahrung und andere Menschenrechte müßten "Vorrang vor Profitinteressen" haben.

Welch geringe Wirkmächtigkeit die Menschenrechte haben, zeigt jedoch der globale Krieg gegen den Terror, der nach dem 11. September 2001 von den USA ausgerufen wurde und dem sich die internationale Staatengemeinschaft weitgehend anschloß. Seitdem werden die Menschenrechte Schritt für Schritt erodiert, bis dahin, daß Menschen zu "illegalen Kombattanten" umdefiniert und viele Jahre lang in Folterlager gesteckt werden. Deshalb sollte man sich nicht allzuviel von einem Menschenrecht auf Nahrung versprechen. Ein Recht, das im vorherrschenden System verankert ist, hat sicherlich nicht das Potential oder gründet sich auch nur auf die Intention, dieses System und seine vorherrschenden Profiteure grundsätzlich in Frage zu stellen. Der Kampf um das Menschenrecht auf Nahrung bleibt somit zwangsläufig systemimmanent. Im Falle eines Erfolgs könnte die Auseinandersetzung sogar zu einer Qualifizierung der vorherrschenden Verhältnisse führen.

Stellvertretend für eine Reihe anderer Themen sei hier abschließend auf Jörg Goldbergs Kapitel "Spekulation mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln" eingegangen. Der ehemalige wirtschafts- und sozialpolitische Regierungsberater von Benin und Sambia bedient den Mythos vom freien Markt, wenn er schreibt: "Wie verzerrt die Märkte gegenwärtig sind [sic] zeigt die Reaktion auf den Anstieg der Agrarpreise im Jahr 2008 (...) Die Möglichkeiten der Landwirtschaft der armen Länder, auf Preisänderungen flexibel zu reagieren, sind derzeit außerordentlich begrenzt." (S. 104)

Wenn Goldbergs Schlußfolgerungen darauf hinauslaufen, daß Märkte möglichst entzerrt werden und Länder flexibel auf Preisänderungen reagieren können sollten, dann adaptiert er Sprache, Absichten und Interessen jener Kräfte, die maßgeblich vom sogenannten marktwirtschaftlichen System profitieren. Ist nicht der Markt von vornherein verzerrt, nämlich aufgrund dessen, daß die reichen Länder zu ihrem Gunsten die Regeln bestimmen, die dann alle anderen zu befolgen haben?

Die dreizehn Aufsätze und das Vorwort des Buchs "Globale Hungerkrise" wurden unter dem Eindruck der weltweiten Preisexplosion von Lebensmitteln im Zeitraum 2007/2008 und Hungerunruhen in mehreren Dutzend Ländern geschrieben. Die jüngsten Aufstände in der arabischen Welt, zu denen es unter anderem wegen der gestiegenen Lebensmittelpreise kam, ereigneten sich nach Erscheinen dieses Buchs. Das schmälert die Aktualität der Analysen und die Bedeutung des Ringens der Autorinnen und Autoren um die existentielle Frage der Nahrungsversorgung der Menschheit in keiner Weise.

29. März 2011


Michael Bergstreser, Franz-Josef Möllenberg, Gerd Pohl (Hrsg.)
Globale Hungerkrise
Der Kampf um das Menschenrecht auf Nahrung
VSA Verlag, Hamburg 2009
ISBN 978-3-89965-383-0
192 Seiten, 12,80 Euro