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REZENSION/555: F. Boyle - Das Verbrechen der atomaren Abschreckung (SB)


Francis A. Boyle


Das Verbrechen der atomaren Abschreckung

Wird der Krieg der USA gegen Terror zum Atomkrieg?



In seinem am 26. April erschienenen Buch "The Age of Deception" ("Das Zeitalter der Täuschung") belastet der ehemalige Leiter der in Wien ansässigen Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) die letzte Regierung der USA unter Präsident George W. Bush schwer. Wie die Nachrichtenagentur Associated Press am 22. April vorab berichtete, bezeichnet der Friedensnobelpreisträger und demokratische Hoffnungsträger Ägyptens die Eroberung des Iraks und den gewaltsamen Sturz Saddam Husseins durch angloamerikanische Streitkräfte im Frühjahr 2003 als "Aggression, bei der keine unmittelbare Drohung bestanden" habe. Er bezichtigt die damalige US-Regierung, sich wider besseren Wissens über die unter anderem von der IAEA gelieferten Beweise für die Nicht-Existenz irakischer "Massenvernichtungswaffen" hinwegesetzt und einen "unnötigen Krieg" angezettelt zu haben, der inzwischen Hunderttausenden von Irakern das Leben gekostet habe, und wirft in der Folge die Frage auf: "Soll nicht der Internationale Strafgerichtshof untersuchen, ob hier ein 'Kriegsverbrechen' vorliegt und wer dafür verantwortlich ist?" Angesichts der Brisanz der Frage Elbaradeis wie auch der Machtverhältnisse in den internationalen Gremien hieß es in der AP-Meldung, eine derartige Untersuchung sei "unwahrscheinlich".

Wer mit Sicherheit an der lapidaren Feststellung der AP etwas auszusetzen hätte, ist Francis A. Boyle, Professor für internationales Recht an der Universität von Illinois, der bereits am 19. Januar 2010 bei der Anklagevertretung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag Haftbefehl gegen George W. Bush, Ex-Vizepräsident Dick Cheney, Ex-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Ex-CIA-Chef George Tenet, Ex-Außenministerin Condoleezza Rice und Ex-Justizminister Alberto Gonzales beantragt hat, und zwar wegen der "kriminellen Handlung" der "außergewöhnlichen Verschleppung" von mehr als 100 "Terrorverdächtigen" meist muslimischen Glaubens, die seines Erachtens den Tatbestand der Greueltat und des schweren Verstoßes gegen die Menschenrechte erfüllte. Seit Jahrzehnten bemüht sich Boyle nicht gänzlich ohne Erfolg, die Mittel des nationalen und internationalen Rechts zum Schutze der einfachen Menschen vor den Missetaten ranghoher Politiker und Militärs einzusetzen.

Boyle ist Autor zahlreicher Bücher zum Thema Völkerrecht, darunter "Defending Civil Rights Under International Law", "The Future of International Law and American Foreign Policy" und "Foundations of World Order: The Legalistic Approach to International Relations 1898-1921", und hat aufgrund seiner Expertentums das Gesetz verfaßt, mit dem 1989 der US-Kongreß das multinationale Biowaffenabkommen in nationales Recht übertrug. Anfang der neunziger Jahre hat er die palästinensische Delegation um Jassir Arafat bei den Verhandlungen völkerrechtlich beraten, die 1993 zum Abschluß des Oslo-Abkommens mit Israel führten. In den neunziger Jahren hat er in ähnlicher Funktion die bosnischen Muslime im Konflikt mit den Serben und Kroaten unterstützt und Muammar Gaddhafis Libyen im Streit um dessen angebliche Verwicklung in den Lockerbie-Anschlag rechtlichen Beistand geleistet. Er hat sich zudem als Verteidiger der eingeborenen Stämme Nordamerikas, Verfechter des Rechts Hawaiis auf Austritt aus den Vereinigten Staaten und Kritiker von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International - in dessen Vorstand er selbst einst saß -, weil diese seiner Meinung nach in ihrer Kritik häufig die Verbrechen kleinerer Staaten anprangern und die der westlichen Großmächte ignorieren, hervorgetan. In letzter Zeit hat Boyle vor allem durch Kritik am Umgang Israels mit den Palästinensern und an der Regierung Barack Obamas, weil diese in der Außen- und Sicherheitspolitik den Kurs der Vorgänger-Administration Bush mit leichten kosmetischen Veränderungen einfach fortsetzt, für Schlagzeilen gesorgt.

In dem empfehlsenswerten Buch "Das Verbrechen der atomaren Abschreckung - Wird der Krieg der USA gegen Terror zum Atomkrieg?" setzt sich Boyle mit der Problematik der nuklearen Bewaffnung dezidiert auseinander. Er weist nach, daß bereits der erste und bisher einzige Einsatz der Atombombe im August 1945 gegen die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki durch die US-Streitkräfte gegen die damaligen internationalen Verträge verstieß und ganz klar ein ungeheuerliches Kriegsverbrechen war. Von diesem Punkt ausgehend untersucht er die Politik der offiziellen Atommächte, allen voran die der USA in ihren verschiedenen Variationen wie "maximale Vergeltung", "gegenseitige zugesicherte Zerstörung" und "flexible Antwort", vergleicht sie en detail mit den Vorgaben des Kriegs- und des Völkerrechts und kommt zur folgenden kategorischen Aussage in Bezug auf Nuklearwaffen: daß nicht allein ihr Einsatz gegen geltendes Recht sowohl national als auch international verstößt, sondern daß auch der Besitz und die Androhung dies auch tun, z. B. weil zwischen Zivilisten und Kombattanten nicht unterschieden wird und weil Umweltzerstörung und Krankheiten im großen Ausmaß die Folge wären.

Wegen der Weigerung der fünf offiziellen Atommächte China, Frankreich, Großbritannien, Rußland und der USA, ihrer Selbstverpflichtung nach dem 1968 vereinbarten Nichtverbreitungsvertrag zur Beseitung ihrer Nuklearwaffenarsenale nachzukommen, verurteilt Boyle diese als "Clique von Schurkenstaaten", deren Anführer mit ihren vollkommen "irrationalen" Atomwaffeneinsatzplänen das Überleben der ganzen Menschheit aufs Spiel setzen. Wohlwissend, daß mit einer schnellen Änderung dieses Umstands nicht zu rechnen ist, versteht Boyle sein Buch als Erläuterung der Kriminalität der offiziellen Atompolitik, damit die Gegner das Material benutzen können, um sich bei Prozessen wegen Sitzblockaden, unbefugten Betretens von Militärstützpunkten und ähnlichem erfolgreich verteidigen zu können. Auf diese Weise soll der Friedensbewegung geholfen werden, auf rechtlichem Wege den internationalen Atomwaffenkomplex zu beseitigen. Auch wenn die Idee etwas illusorisch klingt, haben 1999 Friedensaktivisten, die in Schottland wegen des Enterns und der Beschädigung britischer Atom-U-Boote in deren Heimathafen Faslane unter Anklage standen, mit Boyles Argumenten vor Gericht nicht nur einen Freispruch erzielt, sondern auch noch das Urteil bewirkt, daß Großbritanniens Nuklearwaffensystem Trident nach internationalem Recht illegal ist.

27. April 2011


Francis A. Boyle
Das Verbrechen der atomaren Abschreckung
Wird der Krieg der USA gegen Terror zum Atomkrieg?
(Aus dem Englischen "The Criminality of Nuclear Deterrance" übersetzt
in Gemeinschaftsarbeit von der Genossenschaft)
Verlag Zeit-Fragen, Zürich, 2010
271 Seiten
ISBN: 978-909234-07-3