Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/557: Sabine Hess, Bernd Kasparek (Hg.) - Grenzregime (SB)


Sabine Hess, Bernd Kasparek (Hg.)


Grenzregime

Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa



Die Revolten im Nahen und Mittleren Osten und der Libyenkrieg haben das Grenzregime der Europäischen Union gründlich erschüttert. Zu befürchten steht allerdings, daß die weitere Eskalation dieser Auseinandersetzungen und die dadurch initiierten Flüchtlingsströme zu einer noch strikteren Reorganisation dieser als "Flüchtlingsabwehr" kaum mehr paraphrasierten Praxis führen werden. Sie hat im Rahmen der EU den Charakter eines institutionell komplex strukturierten und territorial weit ausgreifenden Selektionssystems angenommen, dessen Trennschärfe die sozialen Antagonismen in der Union wie in ihrem Verhältnis zu den Ländern des Südens adäquat vollzieht. Weithin verkannt - und daher nur von wenigen Menschen aufmerksam verfolgt - wird der universale Charakter eines "Migrationsmanagements", dessen Kontrollprozeduren und Erfassungsroutinen Herrschaftstechniken antizipieren, deren Anwendung sich keineswegs auf die Teilung der Welt in Metropolengesellschaften hoher ökonomischer Produktivität und Kapitalkonzentration und verelendete Regionen der Rohstoffausbeutung und Subsistenzökonomie beschränken wird. Die Transnationalisierung globaler Wertschöpfung hat eine Qualifizierung staatlicher Exekutivgewalt bewirkt, bei der ordnungspolitische und administrative Kompetenzen auf suprastaatlicher Ebene gebündelt, während staatsbürgerliche Garantien wie etwa der Schutz vor Auslieferung und unrechtmäßiger Verfolgung ausgehöhlt werden.

"Die Klassenschranken im Globalismus verlaufen an der Linie der Mobilität", hat der Migrationsforscher Eberhard Jungfer in einem 2009 veröffentlichten Text [1] unter Verweis auf die weltumspannende Bewegungsfreiheit der Eliten und die sich vor politisch Verfolgten und mittellosen MigrantInnen auftürmenden Grenzbefestigungen festgestellt. Er legt damit den Finger in die Wunde einer Ignoranz gegenüber Flüchtlingsschicksalen, die zwecks Subsumierung der europäischen Bevölkerungen unter das Primat der Kapitalakkumulation zum rassistischen Generalangriff aufgerüstet wird.

In einem solch feindseligen gesellschaftlichen Klima Bewußtsein, geschweige denn Engagement für die Not von Flüchtlingen zu schaffen erscheint so aussichtslos wie jeder Versuch, Solidarität mit Menschen einzufordern, denen alles genommen wurde und die darüber hinaus auch noch verächtlich gemacht werden. Im vorliegenden Sammelband "Grenzregime" wird dazu die Möglichkeit eröffnet, allerdings im Rahmen eines sozialwissenschaftlichen Diskurses, der das Publikum von vornherein auf den Kreis mit Begriff und Konzept postmoderner Theoriebildung vertrauter Leser beschränkt. Das ist bedauerlich, weil das Buch viele interessante Informationen über die institutionellen und politischen Voraussetzungen des EU-Grenzregimes vermittelt. Hin und wieder beeinträchtigt der elaborierte Jargon auch die klare Sicht auf die dieses Feld bestimmenden Gewaltverhältnisse. Wenn diese auf eine Weise virtualisiert und dissoziiert werden, daß der produktive, zum aktiven Eintreten für MigrantInnen ermutigende Zorn in der Indifferenz unvollständiger Positionierung verebbt, dann verbleibt die wissenschaftliche Erkenntnis im Geviert jener Ordnung, gegen die herrschaftskritische MigrantInnen und ihre UnterstützerInnen im Kern antreten.

Allemal lesenswert sind diejenigen Beiträge, die sich dezidiert mit den politischen Entscheidungsprozessen und institutionellen Methoden des EU-europäischen Grenzregimes auseinandersetzen. Paolo Cuttitta verortet diese im globalen Kontext "territorialer Abschottung und räumlicher Prozesse der Delokalisierung, der Erweiterung und Externalisierung der Grenzkontrollen", die wiederum von "kulturalisierte[n] Ausgrenzungsprozessen" (S. 25) begleitet werden. Seine Erkenntnis, daß es sich dabei um ein weltweites, sich gegenseitig bedingendes und beschleunigendes Phänomen praktischer und ideologischer Stigmatisierung des Fremden handelt, findet sein materielles Fundament in der Krise der stofflichen Grundlage gesellschaftlicher Reproduktion und der daraus resultierenden Brutalität der Verteilungskämpfe.

Auf die "Europäisierung des Grenzregimes" geht Cuttitta am exemplarischen Beispiel Libyens ein, das in besonderer Weise zu einem vorgelagerten Bollwerk der Festung Europa ausgebaut wurde. Aus heutiger Sicht tritt dieser Abschnitt des EU-Grenzregimes auf doppelte Weise als ein Ort institutionalisierter Menschenfeindlichkeit hervor. Der angeblich aus humanitären Gründen geführte Krieg der NATO läßt um so mehr Menschen die gefährliche Flucht über das Mittelmeer antreten, ohne daß ihnen mit auch nur annähernd so großem Einsatz geholfen würde, mit dem die Militärallianz ihre Luftangriffe führt [2]. Da es in diesem Krieg nicht zuletzt darum geht, in Tripolis eine die "Flüchtlingsabwehr" der EU zuverlässig gewährleistende Regierung an die Macht zu bringen, wird er zumindest auf indirekte Weise gegen MigrantInnen geführt.

Laut Gerda Heck, die über ihre Erfahrungen mit MigrantInnen in Marokko berichtet, läßt sich "die Externalisierung der europäischen Migrationspolitik weit vor den Grenzen Europas nach Nordafrika (...) als ein neokolonialer Akt interpretieren". Sie gibt allerdings zu bedenken, daß diese Praxis nicht allein der Souveränität der EU unterliegt, sondern auch im Interesse der ausführenden Regierungen Nordafrikas liegt. Der damit geschaffene "heterogene und hierarchische Zirkulationsraum mit abgestuften Souveränitätszonen" (S. 54) befindet sich allerdings fest im Griff EU-europäischer Hegemonialinteressen, die diese in ihrer heutigen Staatlichkeit erst nach dem Ersten Weltkrieg auf Betreiben Britanniens und Frankreichs formierte Weltregion zum Ressourcenlieferanten, zum Absatzgebiet und zur verlängerten Werkbank europäischer Produktivität degradieren. Auch wenn diese Unterordnung niemals ohne Beteiligung der Betroffenen erfolgt, liegt die Hauptlast der Verantwortung für den Entwicklungsrückstand der arabischen Staatenwelt in ihrer paternalistischen Bevormundung und imperialistischen Zurichtung durch die Metropolengesellschaften Westeuropas und Nordamerikas. Dies wurde angesichts des Taktierens europäischer Regierungen, die Legitimität sich erhebender arabischer Bevölkerungen erst anzuerkennen, nachdem sich erwiesen hatte, daß sich das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen läßt, vollends klar [3].

Marc Speer verweist in seinem detaillierten Bericht über "Die Ukraine als migrantisch genutztes Transitland" darauf, daß das nach hoheitlichen Zugriffsbefugnissen, die nicht mehr mit den staatlichen Territorialgrenzen identisch sein müssen, und ungleichen Bewegungsmöglichkeiten der Bevölkerungen differenzierte Grenzregime der EU "mindestens fünf Gruppen von Staatsbürgerschaften" (S. 58) hervorgebracht hat. Während die Bevölkerungen der alten EU-Staaten die größte Freizügigkeit genießen, wird diese desto mehr beschnitten, je peripherer der Status des jeweiligen osteuropäischen Landes ist. Ganz unten in dieser hierarchischen Ordnung sind die außereuropäischen MigrantInnen angesiedelt. Sie sind einer Vielzahl von Repressalien ausgesetzt, wenn sie versuchen, die Rechte derjenigen in Anspruch zu nehmen, die qua Geburt oder Einbürgerung Staatsbürger der westeuropäischen EU-Kernregion sind. Was BürgerInnen der Bundesrepublik selbstverständlich in Anspruch genommenes Privileg ist, erweist sich für eine ungleich größere Zahl von Menschen als staatlich verfügtes Ausschlußkriterium, das zu überwinden überhaupt erst die Möglichkeit eröffnete, einen kaum weniger schwer zu bewältigenden gesellschaftlichen Aufstieg zu beginnen.

Mehrere Autoren widmen sich dem Anti-Trafficking-Diskurs, der die zentrale Legitimation der polizeilichen und militärischen Komponente des Migrationsmanagements bereitstellt. Stefanie Kron schildert in ihrem Vergleich zwischen dem US-amerikanischen und EU-europäischen Grenzregime, daß die offizielle Sicht auf irreguläre Migration "nur zwei Subjektpositionen" zuläßt: "die des kriminellen Schleusers/Menschenhändlers und die des/der irregulären Migranten/-in als Opfer dieser Aktivitäten" (S. 79). In beiden Fällen wird von den konkreten Folgen repressiver Abschottung und selektiver Migration abstrahiert, um "die Verstärkung von grenzüberschreitend koordinierten sicherheitspolitischen Maßnahmen und Deportationsregelungen" (S. 80) zu rechtfertigen. Geht man dem Zerrbild des Menschenhändlers auf den Grund, dann zeigt sich schnell, daß es bei dieser Stigmatisierung vor allem darum geht, das Vorrecht auf Verfügungsgewalt über Menschen in den Händen des Staates und des Kapitals zu belassen. Wie auch immer die Motive von Flüchtlingshelfern gelagert sein mögen, ihr Tun ist Produkt einer Aus- und Einschließungspraxis mit monopolistischem Anspruch. Das zeigt sich um so deutlicher, als das Bild des Opfers auf angeblich kriminelle Aktivitäten fokussiert wird, während die im Nord-Süd-Gefälle maximierte Verelendung keineswegs das Mitgefühl der solchermaßen gegen Zuwanderung agitierten Bevölkerung hervorrufen soll.

Das von Kron am Beispiel der von den USA verfügten Migrationskontrolle Mittelamerikas dargestellte "neue transnationale Mobilitätsregime" wird von ihr zu Recht als "zentrale Achse der ökonomischen und (geo-)politischen Neuordnung der Region" (S. 83) analysiert. Wie sehr MigrantInnen einer menschenfeindlichen Abschottungspolitik zum Opfer fallen, läßt sich an den zahlreichen Toten erkennen, die auf der mexikanischen Seite der Grenze für Schlagzeilen sorgen. Hier haben der Kampf gegen den Drogenschmuggel und das Interesse der US-Wirtschaft an billigen Abeitskräften eine regelrechte Kriegszone geschaffen. Sie legt den sozialökonomischen Kern eines Problems offen, das nicht in irregulärer Migration, sondern der Aufrechterhaltung eines Produktivitätsgefälles wurzelt, mit dem Milliardenprofite auf dem Rücken in krasser Not lebender Menschen gemacht werden. Während die nordmexikanische Grenzregion einem Schlachtfeld gleicht, hebt man auf der anderen Seite des Rio Grande stolz hervor, daß etliche grenznahe Städte der USA zu den sichersten des Landes zählten. Dieser augenfällige Kontrast resultiert nicht aus der Unfähigkeit, das eigene Haus sauber zu halten, er ist unmittelbares Resultat der Metropolenstrategie, Konfliktfolgen der Ausbeutung und Verelendung auszulagern. Das Nachbarland Mexiko wird zum Bollwerk gegen die anbrandende Hungermigration ausgebaut, die sich dort aufstaut und mit der einheimischen Armut zu einer explosiven Gemengelage verschränkt. Die entfesselte Grausamkeit der Drogenkriege ist das Produkt anderweitig verhinderter oder vernichteter Möglichkeiten der Überlebenssicherung, da sie einer durch äußere Rahmenbedingungen erzwungenen Notökonomie entspringt [4].

Die von Pilipp Ratfisch und Stephan Scheel geleistete Darstellung des Sicherheitsdiskurses, der dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) von den Geberländer aufgelastet wird, bietet wertvolle Einblicke in angeblich humanitäre Praktiken, die im Zeichen staatlicher Verfügungsgewalt auf ihr Gegenteil hinauslaufen. Auch wenn die Autoren dem UNHCR nicht unterstellen wollen, sich absichtlich an der "Versicherheitlichung der Migration" zu beteiligen, sondern der Organisation zugestehen, daß es sich dabei um einen "Effekt der dynamischen Machtkämpfe und Kräfteverhältnisse innerhalb des Feldes der (Un-)Sicherheit" (S. 105) handle, besteht das Ergebnis darin, daß Flüchtlinge zum Problem erhoben werden, das einer Lösung zugeführt werden muß. Ratfisch und Scheel machen dafür die Orientierung des UNHCR auf Nationalstaaten verantwortlich. Diese seien "für ihre Reproduktion beständig darauf angewiesen, aus Menschen Staatsbürger zu machen". Unter Verweis auf Giorgio Agamben konstatieren die Autoren, daß es sich beim Humanitarismus "um keine gesonderte Sphäre außerhalb des Politischen, sondern um ein inhärent politisches Konzept handelt", denn "die Repatriierung ins Herkunftsland zielt ebenso wie die Integration in die Aufnahmegesellschaft oder die Umsiedlung in einen Drittstaat darauf ab, aus der 'Anomalie' der Flüchtlinge wieder 'normale' Staatsbürger zu machen". Die Beteiligung des UNHCR an diesem Prozeß bestehe darin, daß sie "genau die nationalstaatliche Ordnung" wiederherstelle, "deren Konstitution und Reproduktion auf der systematischen Anwendung von Gewalt beruht, durch die Flüchtlinge erst als permanentes Phänomen erzeugt werden" (S. 106).

Diese weitgehende Analyse rührt trotz einer sprachtheoretischen Abhandlung des Sicherheitsbegriffs, die die ihm inhärente Gewalt eher vernebelt denn auf den Punkt ihrer Verankerung in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen bringt, an einem konstitutiven Element sozialer Repression. Es tritt dort, wo sich der in seiner Existenzbewältigung in Frage gestellte Bürger seiner nationalen Zugehörigkeit und der damit verbundenen Privilegien vergewissern will, auf apologetische Weise als Rassismus in Erscheinung, während die von ausgrenzender Staatlichkeit Betroffenen keine Stimme haben. Die zu leistende Staatskritik wiederum kommt ohne Kapitalismuskritik nicht aus, wie Fabian Wagner mit dem Versuch belegt, den Komplex der Migration mit den Mitteln der materialistischen Staatstheorie handhabbar zu machen.

Dabei wird zutreffend festgestellt, "dass Arbeitsmigration aus den Funktionserfordernissen des kapitalistischen Weltsystems und seinen Dynamiken entsteht". Zu fragen wäre dennoch, ob "Ethnisierung (...) als konstitutives Element der Klassenbildung bestimmt werden" könnte, "nicht auf der Ebene der Klassen als Produktivkräfte, sondern unter dem Aspekt der staatlichen Desorganisation der Beherrschten entlang ethnischer und rassistischer Spaltungslinien" (S. 236). Zwar trifft zu, daß der Staat über "die Verkopplung von sozialen Rechten mit der Staatsbürgerschaft und ihre Entkopplung von der Arbeitskraft sowie das Eskamotieren der Tradition und Kultur ethnisierter subalterner Gruppen (...) in die Organisation der Klassenzusammensetzung" eingreift, doch tut er dies zugunsten von Kapitalinteressen, denen diese Desorganisation Mittel zum Zweck der Verdichtung der Ausbeutungsintensität ist. Was am Ende als rassistische Menschenfeindlichkeit herauskommt, nimmt seinen Anfang in einer Überlebenskonkurrenz, die sich in kapitalistisch organisierten Gesellschaften nach wie vor am Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit entwickelt. Dem sich verwertenden Kapital ist es gleichgültig, welche Hautfarbe und welches Geschlecht die Arbeitskräfte besitzen, die es prozessieren. Unverzichtbar ist diese Identifikation allerdings für die Regulation des Mangels, die die Bedürftigkeit konstituiert, die Menschen beherrschbar macht.

Wie komplex und abgehoben von Prozessen demokratischer Willensbildung das Grenzregime der EU ist, läßt sich an Bernd Kaspareks umfangreicher Untersuchung der Grenzschutzagentur Frontex nachvollziehen. Indem er vorschlägt, die Grenze als "soziales Verhältnis" aufzufassen, tritt der Ansatz, Bedrohungs- und Risikoanalysen zur Grundlage der operativen Tätigkeit von Frontex zu machen, unmittelbar in seinem antimigrantischen Charakter hervor. Es ist jedoch zu bezweifeln, daß die politischen Voraussetzungen für ein restriktives Grenzregime erst durch Frontex geschaffen werden müssen. Die von dem Autoren dargestellte "Konstruktion von Bedrohung zur Legitimierung politischer Maßnahmen" gründet, wie die deutsche Asylpolitik seit Beginn der 1990er Jahre belegt, weit vor der Ausbildung supranationaler Institutionen in einer nationalistischen Vergewisserung, die desto unverhohlener propagiert wird, als die sozialen Widersprüche der eigenen Gesellschaft mit zweckdienlichen Feindbildern befriedet werden. Wie sich dies wiederum auf EU-Ebene artikuliert, zeigt gerade das Beispiel der deutschen Politik, der es darauf ankommt, den Zustrom mißliebiger Ausländer weit vor der eigenen Staatsgrenze verebben zu lassen.

Zweifellos ist die sogenannte Schengen-Freiheit ein Ergebnis organisierter Unfreiheit, die sich allerdings nicht nur gegen äußere Migration richtet, sondern gegen das Interesse der lohnabhängig Beschäftigten, nicht einer strategisch angelegten Verbilligung ihrer Arbeitskraft ausgesetzt zu werden, wie gegen alle Formen sozialen Widerstands, die durch die damit freigesetzte Repression wirksam in Schach gehalten werden. Da die EU-europäische Entgrenzung nicht mit sozialen Garantien für alle Betroffenen einhergeht, öffnet sie das Feld für die Freiheit des Kapitals, die nicht die Freiheit der Menschen ist.

Die von Kasparek geschilderte Inszenierung von Bedrohungslagen erweist sich in Anbetracht der Kriegsflüchtlinge aus Libyen als besonders verheerende Form einer primär sozialökonomisch bestimmten Selektion, in der der sogenannte Wirtschaftsflüchtling als angebliche Gefährdung eigenen Wohlstands zum sozialrassistischen Stereotyp staatlicher "Flüchtlingsabwehr" gerät. Die anhand diverser Projekte des intergouvernementalen Migrationsmanagements dargestellte "biopolitische Wende, die erst in ihrer Gesamtheit einem gouvernementalen Projekt den Zugriff auf die mobile Bevölkerung erlauben soll" (S. 122), richtet den Blick auf die grundlegende Intention des Staates, die Bevölkerung in jeder Zustandsform als Produktivfaktor zu bewirtschaften.

Die Reproduktion von Staat und Kapital bedient sich einer Bestimmung der Verwertbarkeit von MigrantInnen, die der eigenen Bevölkerung den Spiegel des Rassismusses vorhält, der ihr Vorrecht gegen die größere Tauglichkeit der Zuwanderer sichern soll. Zeigt sie sich weniger leistungsfähig als die im Ausland angeworbenen Fachkräfte, dann wird sie nicht minder zum Ziel staatlicher Disziplinierung wie der Zuwanderer bei der zwangsweisen Durchführung von Integrationskursen. Integration übersetzt sich unterhalb ihrer kulturalistischen Implikationen als genereller Anspruch auf Unterwerfung unter die herrschende Anpassungs- und Leistungsnorm,. So könnte das EU-Grenzregime auch als ein Mittel staatlicher Zurichtung der Bevölkerung auf ihre rentable Verwertung verstanden werden, wobei das gesamtkapitalistische Interesse als Legitimation und Antrieb fungiert.

Der in dem Buch auf hochdifferenzierte, sprachlich anspruchsvolle Weise beschriebene Formwandel des Staates in seiner EU-europäischen Gestalt bezieht seine Dynamik bei aller Entgrenzung der operativen Praxis weiterhin aus klar abgegrenzter Zugehörigkeit und Territorialität. Deterritorialisierung mag als expansiver Anspruch in Erscheinung treten, erweist sich jedoch spätestens dann als fiktives Manöver, wenn die Ebene kriegerischer Konfrontation betreten wird. Das Spannungsfeld von deskriptiver Außensicht und materialistischer Bestimmung kann allerdings den komplementären Gehalt scheinbar widersprüchlicher Sichtweisen hervorbringen. Von daher bieten die dargestellten Transformationen viel interessantes Anschauungsmaterial ebenso wie Stoff zur kritischen Reflexion der Kräfte und Wirkungen, die in ihnen manifest werden.

Weitere Beiträge etwa über "Europäische Migrationskontrolle im Sahel", über die "International Organization for Migration (IOM)" oder über "Politiken der 'freiwilligen' Rückführung" bieten dem interessierten Leser zahlreiche Einstiegsmöglichkeiten in eine Thematik, der sich über die professionelle Arbeit hinaus zu widmen wohl stets besonders engagierten Minderheiten vorbehalten bleiben wird. Die Spaltung in "Wir" und "die anderen" funktioniert ... gerade auch zu Lasten derjenigen, die meinen, daraus einen Überlebensvorteil ziehen zu können.

Fußnoten:

[1] http://www.materialien.org/texte/migration/JungferWeltkrieg.pdf

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub0983.html

[3] http://www.trend.infopartisan.net/trd0211/t170211.html

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/redakt/ltnm2425.html

29. April 2011


Sabine Hess, Bernd Kasparek (Hg.)
Grenzregime
Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa
Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2010
296 Seiten, 18,00 Euro
ISBN 978-3-935936-82-8