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REZENSION/636: Christoph Butterwegge - Hartz IV und die Folgen (SB)


Christoph Butterwegge


Hartz IV und die Folgen

Auf dem Weg in eine andere Republik?




Wenngleich das fadenscheinige Glaubensbekenntnis der deutschen Wohlstandsgesellschaft längst auf dem letzten Loch pfeift, klammern sich ihre Propheten um so hartnäckiger an das Gerücht, daß Macht und Reichtum einiger weniger aus einer anderen Quelle als der Unterjochung und Armut vieler stamme. Was immer den Profiteuren des gesellschaftlichen Normalbetriebs, die selbst und gerade in Zeiten der Krise ihre Taschen füllen, an unternehmerischen Tugenden angedichtet wird, dient allein dem Zweck, den ideologischen Schleier des Vergessens über das Wesen des Profits und die Brutstätten seiner Erwirtschaftung zu breiten. Führte man sich vor Augen, daß die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und natürlicher Ressourcen, kurz der forcierte Verschleiß und Verbrauch von Lebensmöglichkeiten aller Art, die Ultima ratio dieser Vergesellschaftung ist, stellten sich zwangsläufig andere Fragen als die umfassender Bezichtigung der zu Verlierern abgestempelten Hungerleider, sie seien ihres Unglücks Schmied.

Es liegt auf der Hand, daß wohlgefüllte Speicher geradezu zur Plünderung einladen, weshalb Reichtum allein auf tönernen Füßen stünde, verbündete er sich nicht mit administrativer und exekutiver Gewalt. Auch wenn die Gesellschaftsordnung längst kein goldener Käfig aus Wirtschaftswunderträumen mehr ist, sind seine Gitterstäbe stabiler denn je. Dafür sorgt ein vielgestaltiges Gesetzeswerk, welches das Arsenal der Überwachung und Befriedung über die Jahre perfektioniert und die Zugriffsmöglichkeiten der Behörden, Polizeien, Gerichte, Geheimdienste und Streitkräfte ausgebaut hat.

Jegliche Macht- und Zwangsmittel in Stellung zu bringen, reichte jedoch nicht aus, Verzweiflung und Zorn zu bändigen, ehe das Aufbegehren mit der Fragmentierung und Entsolidarisierung bricht. Der Mensch muß sich schon selber beherrschen können, um für die Arbeitsgesellschaft zu taugen und sich am Lohn oder Almosen zu erfreuen, wie karg diese auch ausfallen mögen. Wenngleich es sich unten weit schlechter lebt und definitiv früher stirbt als oben, klebt der Leim des bereitwillig geglaubten Versprechens, daß man so irgendwie davon-, andernfalls hingegen sofort in Teufels Küche komme.

Herrschaft in ihrem Bestand zu sichern und vorausschauend fortzuschreiben, ist folglich ein ebenso brachiales wie diffiziles Geschäft. Die hochindustrialisierte Gesellschaft hat massenhaften Hungertod, Seuchen und Krieg, Sklaverei und ähnliche Arbeitsverhältnisse mehr oder minder erfolgreich in andere Weltregionen ausgelagert, die für ihre Versorgung mit Rohstoffen, Vorprodukten und Billigwaren zu sorgen haben. Um den technologischen Vorsprung zu sichern, bedarf es eines heimischen Arbeitsregimes, das in höherwertige Qualifikation auf der einen und niedrigentlohnte Zuträgerdienste auf der anderen Seite differenziert wie auch die massenhaft Überflüssigen ins Abseits drängt.

Wie der Blick in die Geschichte lehrt, stand die soziale Larve staatlicher Verfügung seit Bismarcks Zeiten stets in einem Abhängigkeitsverhältnis zur tatsächlichen oder befürchteten Erhebung gegen die Gesellschaftsordnung. So wurde der Sozialstaat nicht so sehr deswegen aus- oder abgebaut, weil die Kassen voll oder leer waren. Vielmehr zeichnet sich ein deutlicher Zusammenhang zur jeweiligen Kampfbereitschaft der werktätigen Bevölkerung ab, die zu zersetzen Tagesgeschäft im Dienst gesteigerter Unternehmensgewinne wie auch strategische Prävention im Sinne einer dauerhaften Ruhigstellung blieb. Nachdem die DDR niederkonkurriert und angeschlossen war, entfiel zudem die Notwendigkeit, im Streit der Systeme westlicherseits ein gewisses Wohlstandsniveau vorzuhalten, das die eigene Überlegenheit konsumistisch demonstrieren sollte.

Aus alldem folgt, daß dem Menschen viel abverlangt und wenig wiedergegeben wird, wobei letzteres keineswegs in seinen dauerhaften Besitzstand übergeht, sondern als bloßes Lehen jederzeit geschmälert oder entzogen werden kann. Wohlstand für alle, das Ende der Arbeitslosigkeit und sichere Renten - wie viele eherne Versprechen des Sozialstaats sind heute ein Treppenwitz, zumal für eine Generation, die erstmals wieder ärmer als die ihrer Eltern ist. Zugleich wird die Sozialleistung von der Solidargemeinschaft entkoppelt und vollends auf ein Instrument individueller Zuteilung und Züchtigung reduziert, dessen Name nicht von ungefähr mit Not und Strafe assoziiert ist.

War das Wirtschaftswunder nicht zuletzt auch ein ideologisches Meisterwerk, so zog sich der Abbau des Sozialstaats über Jahrzehnte und unter wechselnden Regierungen hin. Als Vorreiter innovativer Schübe dienten sich insbesondere die Sozialdemokraten und später auch die Grünen an, weil sie viel geschmeidiger als die Konservativen die massenhaften Opfer der Zurichtung einbinden und in die Irre führen konnten. Die Gewerkschaften hatten sich im Zuge einer weitgehenden Verrechtlichung ihrer Mitbestimmung und Aktionsformen als Arbeitskämpfe führende Bewegung die Zähne ziehen lassen und nahezu selbst demontiert. Als Sachwalter einer geschrumpften Arbeiteraristokratie und nicht zuletzt eigener Pfründe setzten sie dem gesellschaftlichen Umbau keinen ernsthaften Widerstand entgegen.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge, der Politikwissenschaft an der Universität zu Köln lehrt und über die Jahre mit fundierter Recherche und positionierter Parteinahme die Führerschaft in der deutschen Armutsforschung innehat, unterzieht die Demontage des deutschen Sozialstaats einer Fundamentalkritik. Was er im Untertitel seines neuen Buches "Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?" mit einem Fragezeichen versehen hat, ist aus seiner Sicht längst Realität: Zehn Jahre nachdem das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zum 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, steht die nach dem früheren VW-Manager Peter Hartz benannte Reform für die tiefste Zäsur in der Wohlfahrtsstaatsentwicklung nach 1945. Durch Hartz IV sind die sozialen Verhältnisse und die politische Kultur in Deutschland regelrecht umgepflügt worden, woraus ein Elendsregime resultiert, das von einer Friedhofsstille begleitet wird.

Die Furcht vor einem ungebremsten materiellen Absturz greift selbst in der Mittelschicht um sich, die angesichts dieser permanenten Bedrohung mehr denn je all jene ausstößt, deren abschreckendes Beispiel illustriert, was ihr schon morgen selber zustoßen könnte: Die von dem Gesetzespaket unmittelbar Betroffenen wie auch ihre Angehörigen und die mit ihnen in einer "Bedarfsgemeinschaft" zusammenlebenden Personen werden verelendet, stigmatisiert und isoliert. An die Stelle von Mitgefühl und Solidarität ist eine tiefgreifende Spaltung, Vereinzelung und Bezichtigung getreten, die in einem Klima sozialer Kälte gedeihen. Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze drücken die materiellen Möglichkeiten der ärmeren Bevölkerungsteile millionenfach auf ein Minimum, während diese zugleich unter der Leitnorm "Fördern und Fordern" verschärften Kontrollmechanismen und Sanktionsdrohungen ausgesetzt sind.

Die Gesellschaft ist sowohl beim Einkommen als auch nach dem Vermögen krasser denn je in Arm und Reich gespalten. Während die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung über 53 Prozent des Nettogesamtvermögens verfügen, muß die ärmere Hälfte mit 1 Prozent auskommen. Über 22 Millionen Menschen, die in der Bundesrepublik leben, haben nichts auf der hohen Kante, sind also nur eine Kündigung oder eine schwere Krankheit von der Armut entfernt. Zugleich werden die Erwerbslosen und Geringverdienenden auf eine Weise drangsaliert, die ihre Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen massiv einschränkt. Viele Hartz-IV-Betroffene fühlen sich wie Fremde im eigenen Land, da sie von der Gesellschaft offenbar nicht gebraucht, sondern verachtet werden. So haben die rot-grünen Arbeitsmarktreformen das Leben von Millionen Menschen schwerwiegend beeinträchtigt und zugleich dem Widerstand gegen diese sozialen Grausamkeiten den Boden entzogen.

Der Autor unterzieht die Kernthese der Protagonisten, wonach die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze die Wiege deutscher Weltmarkterfolge seien, einer kritischen Überprüfung und widerlegt diese Auffassung. Deutschland habe seine Exportstärke in Wirklichkeit aufgrund zweier Konjunkturpakete, eines noch halbwegs intakten Kündigungsschutzes, einer schrittweisen Verlängerung der Höchstbezugsdauer des Kurzarbeitergeldes und der Arbeitszeitkonten in zahlreichen Betrieben aufrechterhalten. Im Grunde handelte es sich sogar um ein zeitweiliges Außerkraftsetzen der "Agenda"-Reformen. Zwar ist die Anzahl der Erwerbstätigen gestiegen und die der Arbeitslosen gesunken, jedoch gleicht der induzierte Beschäftigungsboom im Prekariatsbereich einer Scheinblüte. In keinem anderen vergleichbaren Land wucherte der Niedriglohnsektor so wie hierzulande, viele Berufstätige haben kein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis mehr.

Vor allem im unteren Einkommensbereich sind die Reallöhne drastisch gesunken, und die Lohnquote ist auf einen historischen Tiefstand gefallen. Das hat zur Folge, daß sich immer mehr Familien immer weniger von dem leisten können, was in einem vergleichsweise reichen Land wie der Bundesrepublik als normal gilt. Dies trifft Kinder und Jugendliche insofern am schwersten, als sie nichts anderes als die Minderwertigkeit kennen, derer sie von ihrem sozialen Umfeld bezichtigt werden. Doch selbst wenn die größere Krisenresistenz der deutschen Volkswirtschaft mit den Hartz-Gesetzen zu tun hätte, wäre der Preis nach Auffassung Butterwegges zu hoch. Das Gesamtarbeitsvolumen wurde ja seit der Jahrtausendwende nicht etwa vermehrt, da man einen Teil der bestehenden Arbeitsplätze in befristete Jobs, Teilzeitstellen und prekäre Beschäftigungsverhältnisse aufgespalten, die Lohnarbeit also lediglich zu Lasten der Erwerbstätigem anders verteilt und schlechter bezahlt hat. Inzwischen arbeitet fast jeder Vierte im Niedriglohnbereich, Hartz IV ist zu einer Chiffre für sozialen Abstieg geworden.

Um den Abbau des Sozialstaats im größeren historischen Kontext auszuleuchten, wirft der Autor einen Blick auf die Verhältnisse in der Weimarer Republik. Dort fand er frappierend ähnliche Ansätze sozialer Reformen, die bis in die Terminologie hinein ausgesprochen modern wirken. Es mutet wie eine bittere Ironie der Geschichte an, daß ausgerechnet ein deutschnationaler Reichstagsabgeordneter und Buchautor namens Gustav Hartz ein führender Protagonist jener Umgestaltung war. Dieser warnte vor "Faulenzern und Drückebergern", wollte "den Mißbrauch der ungerechten und unnötigen Inanspruchnahme" von Sozialleistungen unterbinden und "asoziale Elemente" fernhalten. Auch bezeichnete er die Arbeitslosen bereits als "Kunden" und regte eine Privatisierung der "staatlichen Zwangsversicherung" an, die durch ein System der privaten Vorsorge ersetzt werden könne. Es kam dann zu einer Demontage des Weimarer Sozialstaats, die dazu beitrug, der nationalsozialistischen Machtübernahme den Boden zu bereiten. Wie diese Rückblende dokumentiert, sind die Hartz-Gesetze kein einzigartiger Sonderfall oder neuartiges Reformkonzept, sondern gewissermaßen die logische Konsequenz seit jeher entworfener Frontalangriffe auf Beschäftigte und Erwerbslose, deren Umsetzung freilich diverser Anläufe und Etappen bedurfte.

So wurde Jahrzehnte später die unter der Kohl-Regierung von CDU/CSU und FDP über lange Fristen betriebene Abschaffung der Arbeitslosenhilfe als eine den Lebensstandard sichernde Lohnersatzleistung von den Oppositionsparteien mit Nachdruck zurückgewiesen. Unter Schröder und Fischer trieb Rot-Grün jedoch anschließend selbst die Arbeitsmarktreform massiv voran und holte auch die Gewerkschaften ins Boot, obgleich sie in diesem Prozeß deutlich unterrepräsentiert waren. Der damals noch als charismatisch bezeichnete Peter Hartz wußte als Bezirksleiter der IG Metall die einflußreichste Industriegewerkschaft hinter sich, und mittels Isolde Kunkel-Weber aus dem Bundesvorstand von Verdi wurde auch die zweitgrößte Einzelgewerkschaft des DGB in die Kommissionsarbeit eingebunden. Wie der Autor ausführt, war die Hartz-Kommission mit ihren 13 "Innovationsmodulen" lediglich ein Vehikel für die rot-grünen Reformer, um die tiefgreifendste Veränderung des deutschen Arbeitsmarkt- und Sozialsystems seit dem Ende des NS-Staats durchzusetzen. Fast alle Reformvorschläge des Kommissionsberichts haben inzwischen ausgedient.

Einen gesellschaftlichen Wendepunkt stellte die Abkehr von einer aktiven Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik dar, die ein auf den Verkauf seiner Arbeitskraft um fast jeden Preis zurückgeworfenes Individuum erzwang. Waren die Arbeitslosen bis zum 1. Januar 2005 noch tendenziell Bürgerinnen und Bürger eines Sozialstaats, die als frühere Beitragszahler der Sozialversicherung über einen längeren Zeitraum alimentiert wurden, so mußten sie nun praktisch jede Stelle annehmen, selbst wenn diese weder ihrer beruflichen Qualifikation entsprach noch tariflich oder ortsüblich bezahlt wurde. Irreführenderweise als "Kunden" der Jobcenter bezeichnet, sahen sie sich dort zu Bittstellern degradiert.

Nutznießer der Reform sind all jene, deren steigende Profite und hohe Renditen auf Senkung der Lohnstückkosten, Leistungskürzungen und Strukturveränderungen des Sozialsystems gründen. Profitiert haben zugleich staatlich-administrative Interessenkomplexe, die jeglichen Widerstand erfolgreich befriedet, die Führerschaft Deutschlands in Europa durchgesetzt und den florierenden Export hiesiger Erzeugnisse wie auch der zum Erfolgsmodell hochstilisierten Hartz-Gesetze betrieben haben. Der Autor beläßt es nicht bei einer dezidierten Bestandsaufnahme, sondern schließt die Frage an, ob wir auf dem Weg zu Hartz V und folglich einem noch rigideren Armutsregime seien. Wie seine diesbezügliche Untersuchung belegt, gleicht der forcierte soziale Umbruch einer Dauerbaustelle, auf der immer neue und noch gefährlichere Instrumente in Stellung gebracht und umgesetzt werden. Die Konsequenz müsse daher keine bloße Entschärfung von Hartz IV, sondern dessen vollständige Rückabwicklung sein.

Christoph Butterwegge kommt aufgrund seiner umfassenden Analyse dieser komplizierten Materie zu dem Schluß, daß es sich bei Hartz IV um ein zutiefst inhumanes System voll innerer Widersprüche handelt, das Menschen entrechtet, erniedrigt und entmündigt. Es habe zu Verschlechterungen in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens geführt und die Bundesrepublik Deutschland in einer bis dahin ungekannten Weise sozial polarisiert, fragment und formatiert. Als europaweit bekanntestes Symbol für Sozialabbau sei Hartz IV Kernbestandteil eines Projekts zur Restrukturierung der Gesellschaft, welches die Architektur und Konstruktionslogik des Sozialstaats fundamental in Frage stellt. Wenngleich der Autor einräumt, daß die Hartz-Reform das Gesicht der Bundesrepublik auch künftig zu bestimmen droht, will er gerade deswegen mit dem vorliegenden Buch seine Leserschaft nicht nur weitreichend informieren, sondern sie im Schulterschluß mit betroffenen und sozial engagierten Menschen zur Opposition ermutigen.

7. Dezember 2014


Christoph Butterwegge
Hartz IV und die Folgen
Auf dem Weg in eine andere Republik?
Beltz Juventa Verlag, Weinheim und Basel 2015
290 Seiten, 16,95 Euro
ISBN 978-3-7799-3234-5


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