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REZENSION/647: Naoto Kan - Als Premierminister während der Fukushima-Krise (SB)


Naoto Kan


Als Premierminister während der Fukushima-Krise



Schon bald nach seinem Rücktritt hat der ehemalige japanische Premierminister Naoto Kan begonnen, ein Buch über seine 15 Monate währende Zeit an der Spitze der Regierung Japans zu schreiben. Die war mit der bis dahin schwersten Katastrophe der zivilen Kernenergieproduktion konfrontiert worden. In drei Reaktoren des Akw Fukushima Daiichi setzten Kernschmelzen ein, nachdem am 11. März 2011 vor der Ostküste der japanischen Insel Honshu der Meeresboden mit einer Stärke von 9,0 auf der Richterskala gebebt hatte. Durch die Erschütterungen war in dem Akw die Stromversorgung zusammengebrochen, kurz darauf überflutete eine bis zu vierzehn Meter hohe Welle das Gelände und gab dem, was bis dahin noch funktionierte, den Rest. Die Kühlung der Brennstäbe fiel aus. Es war allein "glücklichen Umständen" zu verdanken, daß sich in den nächsten Tagen "nur" Wasserstoff- und nicht atomare Explosionen ereigneten. Die hätten womöglich eine Evakuierung der Hauptstadt und somit von insgesamt 50 Millionen Menschen bedeutet, berichtet Kan in seinem 2012 in japanisch und seit Oktober dieses Jahres auch in deutsch verfügbaren Buch "Als Premierminister während der Fukushima-Krise", das der Münchener iudicium Verlag herausgibt. [1]

Kan schildert den Ablauf der Krise und die verzweifelten Bemühungen um ihre Bewältigung teils in minutiöser Genauigkeit. Das liest sich wie ein Thriller - nicht weil sich Kan einer reißerischen Sprache bediente, im Gegenteil, der Schreibstil ist ausgesprochen spröde, geradezu beamtisch sachlich und an vielen Stellen diplomatisch zurückhaltend -, sondern weil die Ereignisse reichlich Stoff für einen Thriller abgeben. Hier die Zusammenfassung: "Die erste Woche nach dem Reaktorunglück war wie ein Alptraum. Der Unfall zog zusehends weitere Kreise. Wie wir erst im Nachhinein verstanden haben, setzte im Reaktor 1 bereits am ersten Unfalltag, am 11. März gegen 20.00 Uhr, die Kernschmelze ein. Zu dem Zeitpunkt hieß es, der Brennstoff sei noch mit Wasser bedeckt, aber das lag daran, dass das Messgerät selbst nicht funktionierte. Am nächsten Tag, dem 12., ereignete sich nachmittags die Wasserstoffexplosion im Reaktorblock 1. Die Kernschmelze im Reaktor 3 setzte am 13. ein, und der 14. brachte dort die Wasserstoffexplosion. Am 15. um 6.00 Uhr dann, als ich mich gerade in der Zentrale von TEPCO befand, wurde über einen großen Knall am Reaktor 2 berichtet, und fast gleichzeitig ereignete sich die Wasserstoffexplosion im Reaktorblock 4." (S. 19)

Und so weiter und so fort. Beim ersten "Gegenangriff" (S. 30) am 16. März, wie es Kan mit Blick auf "den unsichtbaren Feind Radioaktivität" formuliert, und im weiteren Krisenverlauf waren zahlreiche technische, administrative und politische Hindernisse zu bewältigen. Mal paßten die Steckverbindungen der zum Akw Fukushima Daiichi herbeigeschafften Notstromaggregate nicht, dann stellte Kan fest, daß die Führungsspitze der Atomaufsichtsbehörde mit Wirtschaftsexperten besetzt war, die von den physikalischen Verhältnissen einer Nuklearkatastrophe keinen blassen Schimmer hatten, dann weigerte sich die oppositionelle LDP, dem Kabinett Kans beizutreten, und zu schlechter Letzt zeichnete sich die Betreibergesellschaft TEPCO durch eine recht zurückhaltende Informationspolitik aus.

Aber Kan teilt nicht nur aus, er bedenkt auch einige Kabinettsmitglieder und politische Berater, insbesondere die Mitglieder der von ihm einberufenen "Zentrale zur Bekämpfung eines dringenden Notfalls", und nicht zuletzt Werksleiter Masao Yoshida des Akw Fukushima Daiichi mit viel Lob: Während der stellvertretende Vorstandsvorsitzende von TEPCO "nur einige Worte vor sich hin stammeln" konnte, war "dieser Werksleiter (...) aus einem anderen Holz geschnitzt" (S. 57). Denn dieser hatte angekündigt, ein "Suizidkommando" aufzustellen, damit es in einem verstrahlten Bereich die Ventile zur Druckentlastung des Reaktors 1 per Hand aufdreht.

Im Dezember 2011 wurde bei Yoshida Speiseröhrenkrebs diagnostiziert. Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Buchs in Japan lebte er noch, er verstarb Anfang Juli 2013. TEPCO beteuert, daß der Krebs nicht durch den Fukushima-GAU ausgelöst worden sei, da sich diese Krankheit normalerweise über mehrere Jahre entwickle. Kan zeigt sich an dieser Stelle sehr zurückhaltend, da er es unterläßt, darauf hinzuweisen, daß Yoshida als Akw-Direktor nicht erst seit der Katastrophe vom 11. März 2011 einer erhöhten Krebsgefahr durch Radioaktivität ausgesetzt war. Es ist bekannt, daß auch geringe Strahlendosen unterhalb der Grenzwerte über einen längeren Zeitraum das Krebsrisiko von Akw-Arbeitern deutlich erhöhen.

Das 165 Seiten umfassende Buch trägt nicht den Charakter einer Beschwerde über die Größe und Komplexität der zu bewältigenden Aufgabe, wohl aber hinterläßt es den Eindruck, es sei Kan ein wichtiges Anliegen, seine Handlungsweise zu erklären und der gegen ihn gerichteten Kritik im nachhinein entgegenzutreten. Sein Rücktritt am 2. September 2011 war nicht unmittelbar durch den gegen ihn gerichteten Mißtrauensantrag erzwungen worden, da Kan zuvor seinen freiwilligen Rücktritt unter Bedingungen angekündigt hatte, zu denen die Verabschiedung eines Erneuerbare-Energien-Gesetzes gehörte, aber er besaß in der eigenen Partei nicht genügend Rückhalt, um den Anwürfen der Opposition standzuhalten.

Der ausgebildete Physiker war früher für die Kernenergie gewesen und hatte die japanischen Atomkraftwerke für sicher gehalten. Die Fukushima-Katastrophe hat ihn eines Besseren belehrt. Wenn in einem konventionellen Wärmekraftwerk ein Unglück passiert und die Tanks Feuer fangen, sei der Brennstoff irgendwann aufgebraucht, schreibt er. Davon unterscheide sich ein Nuklearunfall grundlegend: "Wird ein außer Kontrolle geratener Kernreaktor sich selbst überlassen, verschlimmert sich die Sache mit fortlaufender Zeit immer weiter. Der Brennstoff brennt nicht aus, und es wird immer mehr radioaktives Material freigesetzt." (S. 19)

Eine "sichere Kernenergie" bestehe darin, "nicht auf die Kernenergie zu bauen" (S. 110). Unter hergebrachten Vorstellungen von Sicherheit sei das Risiko von Atomkraftwerken untragbar. Selbst wenn man die fünf Barrieren, die einen Reaktor sichern sollen, auf sieben erweitere und die Deiche zum Schutz vor Tsunamis erhöhe, bleibe die Möglichkeit menschlichen Versagens, eines Unfalls oder eines Terroranschlags, schreibt Kan, der nicht nur mit dem Irrtum der sicheren Atomenergie aufräumt, sondern auch mit dem ihrer Wirtschaftlichkeit. Die gelte letztlich nur für die Energieversorgungsunternehmen, die jedoch lediglich für einen kleinen Teil der mit den verbrauchten Kernbrennstäben zusammenhängenden Kosten aufkommen müßten. Die Folgekosten der Krisenbewältigung müßten ebenfalls in den Preis für Atomstrom eingerechnet werden.

Der ehemalige Premierminister macht das einflußreiche "Atomdorf" für das Festhalten an der Atomenergie und das Ausbremsen des von ihm in die Wege geleiteten Umbaus der Gesellschaft zu erneuerbaren Energien verantwortlich. Der in Japan geläufige Begriff "Atomdorf" steht für ein Zusammengehen interessierter Kreise in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft. Dazu Kan: "Ich sehe große Parallelen zwischen dem Prozess, wie das Militär vor dem Krieg zur wahren Macht in der Politik wurde, und den Aktivitäten des sogenannten Atomdorfs mit dem Verband der Stromversorger in dessen Mittelpunkt. In einem Zeitraum von 40 Jahren hat die Gruppe um TEPCO und den Stromverband Schritt für Schritt die wahre Macht in der Atompolitik übernommen. Experten, Politiker und Ministerialbeamte, die das kritisierten, wurden gemäß den Gesetzen des Dorfes geächtet und aufs Abstellgleis gestellt." (S. 145)

Hier sei ergänzt, daß die Parallele, die Kan zwischen der heutigen Einflußnahme der Atomwirtschaft und der des Militärs vor dem Zweiten Weltkrieg zieht, durchaus weiter reicht, als er es andeutet. So war der "Vater" der japanischen Atomwirtschaft, Shoriki Matsutaro, nicht nur Eigner der Tageszeitung "Yomiuri Shimbun", sondern auch Leiter der politischen Polizei Japans. Der extrem nationalistisch gesonnene Geheimdienstmann, der eine wichtige Position in der vom Militärapparat beherrschten Regierung vor und während des Kriegs einnahm, war von den USA zunächst als Kriegsverbrecher festgesetzt, aber schon nach drei Jahren aus der Haft entlassen worden. Ungeachtet seiner Vergangenheit gründete er im Januar 1956 mit Hilfe der USA die Atomenergiekommission und stand ihr als Präsident vor, zudem wurde er Mitglied des japanischen Oberhauses und Forschungsminister. Zweifelsohne bildet dieser gut vernetzte Medienmogul und Geheimdienstler, dem Bestrebungen nachgesagt wurden, Japan atomar zu bewaffnen, eine der Wurzeln des "Atomdorfs".

Kan spricht es nicht offen aus, aber möglicherweise stand er mit seinem Schwenk weg von der Atomenergie jenen heute noch einflußreichen Interessen im Wege. So hätte man es aus ihrer Sicht "sauber" eingefädelt, daß er "freiwillig" zurücktritt. Sein energiepolitischer Kurswechsel mit dem Atomausstieg im Mittelpunkt wurde jedenfalls weitgehend aufgegeben: Vor wenigen Tagen hat der Akw-Betreiberkonzern Kyushu Electric Power einen zweiten Block des Atomkraftwerks Sendai wieder eingeschaltet. Weitere sollen folgen.

Angesichts der Einflußnahme des "Atomdorfs" seien viele Beteiligte in einen Modus von Selbstschutz und Beschwichtigung verfallen und hätten das Geschehen ohne Kritik und Widerstand verfolgt. Mit dieser Aussage verbände er "auch eine gehörige Portion Selbstkritik", gesteht Kan sich und der Öffentlichkeit ein. Das Atomdorf transparent zu machen sei der erste Schritt für eine Neuordnung der Atompolitik. In diesem Sinne trägt Kans Buch ein bißchen dazu bei, jene Seilschaft quer durch die japanische Gesellschaft und konträr zum mehrheitlichen Atomausstiegswillen der Bevölkerung einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.

Wer erwartet, daß hier ein ehemaliger japanischer Premierminister schmutzige Wäsche wäscht, um seine Kontrahenten im nachhinein schlecht aussehen zu lassen, wird von dem Buch enttäuscht. Wer dagegen einen oberflächlichen Einblick in die Gedankenwelt eines Premierministers sowie in die administrativen Abläufe bei einem schwerwiegenden Notfall erhalten möchte, dürfte in dem vorliegenden Buch einiges finden, das in der allgemeinen Medienberichterstattung über die Fukushima-Katastrophe bislang nicht gesagt wurde.


Fußnoten:

[1] Naoto Kan stellte sein Buch am 13. Oktober 2015 in der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, vor. Näheres dazu unter:
INFOPOOL → UMWELT → REPORT
BERICHT/109: Fukushima - eines Besseren belehrt ... (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umrb0109.html

21. Oktober 2015


Naoto Kan
Als Premierminister während der Fukushima-Krise
Aus dem Japanischen von Frank Rövekamp
Iudicium Verlag, München 2015
165 Seiten, 14,80 Euro
ISBN 978-3-86205-426-8


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