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REZENSION/651: James Risen - Krieg um jeden Preis (US-Politik) (SB)


James Risen


Krieg um jeden Preis

Gier, Machtmissbrauch und das Milliardengeschäft mit dem Kampf gegen den Terror



Als über Weihnachten 2003 mehrere Air-France-Flüge zwischen Paris und Los Angeles wegen potentieller Anschlagsgefahr gestrichen wurden, rechtfertigte Dennis Murphy, seinerzeit Sprecher des US-Heimatschutzministeriums, in einem Interview am 29. Dezember mit dem Radiosender BBC 5 Live die damalige Forderung der Administration von George W. Bush an die Adresse der EU-Staaten nach Anwesenheit von bewaffneten Flugsicherheitsbegleitern in allen Passagiermaschinen, die in die USA reisten, mit einer skurrilen Behauptung. Auf den Einwand des BBC-Moderators, die Kontrollen an den europäischen Flughäfen seien so effektiv, daß dort ein Hineinschmuggeln von Schußwaffen oder Sprengkörpern in ein Linienflugzeug nicht zu befürchten sei, reagierte Murphy unwirsch; damit wäre die Gefahr nicht gebannt, denn islamistische Terroristen wären so gerissen, sie könnten notfalls den Getränke-Wagen zu einer Bombe umfunktionieren, trumpfte der Vertreter Washingtons auf.

Das dummdreiste Gedankenspiel Murphys stellt nur ein besonders krasses Beispiel dar, wie seit den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 die Sicherheitsfetischisten in den USA keine Gelegenheit auslassen, die terroristische Bedrohung über alle Maßen aufzubauschen. Die erschreckende Bereitschaft der Verantwortlichen in Washington, Wirklichkeit und Fantasie wild zu vermischen, läßt sich anhand der Erkenntnis feststellen, daß die damalige Terrorhysterie zu Weihnachten 2003 einschließlich der Streichung der Air-France-Flüge sowie des Chaos an den nordamerikanischen und französischen Flughäfen das Ergebnis einer Betrugsmasche gewesen ist. Im Pentagon und im Weißen Haus war man einem windigen Geschäftsmann namens Dennis Montgomery auf den Leim gegangen, der behauptete, eine Software entwickelt zu haben, mit der sich angeblich in den Fernsehbildern des arabischen Nachrichtensenders Al Jazeera versteckte Botschaften Osama Bin Ladens an irgendwelche in den USA schlummernden Al-Kaida-"Schläfer" entschlüsseln ließen.

Die wundersame Geschichte vom vorübergehenden Aufstieg Montgomerys zur ersten Technologie-Adresse im globalen Kampf gegen den Terror läßt sich in allen peinlichen Einzelheiten im neuen Buch des New-York-Times-Journalisten James Risen, "Krieg um jeden Preis", nachlesen. Die Leichtigkeit, mit der hier führende Offiziere und Regierungsbeamte der USA gewillt waren, Skepsis, Vorsicht und gesunden Menschenverstand auszuschalten, weist auf ein grundlegendes Dilemma westlicher Sicherheitspolitik der Post-9/11-Ära hin. Hundertprozentige Sicherheit kann es nicht geben, wird aber als Ziel formuliert - und zwar deshalb, weil Politiker, Militärs, Geheimdienstler, Rüstungskonzerne, Sicherheitsdienstleistungsunternehmen et cetera vom Geschäft mit der Angst profitieren.

Risen formuliert es so: "Der Irrwitz ist zur neuen Normalität geworden." (S. 50) Anhand einer ganzen Reihe haarsträubender Geschichten führt der mehrfache Pulitzerpreisträger dem Leser vor, wie absolut verrückt die "neue Normalität" tatsächlich ist. Da sind zum Beispiel die 400 Milliarden Dollar an Staatsaufträgen, die zwischen 2001 und 2011 an private US-Sicherheitsfirmen gingen, die "zuvor in Betrugsfälle mit einer Million oder mehr Dollar verwickelt gewesen und daher mit Sanktionen belegt worden waren". (S. 51) Risen geht unter anderem der Frage nach dem Verbleib gigantischer Mengen an Wiederaufbaugeldern für den Irak und Afghanistan nach, die palettenweise in irgendwelchen dunklen Kanälen verschwanden. Der Autor spricht hier zu Recht von "Diebstahl im industriellen Maßstab". (S. 20) Er schildert den vergeblichen Versuch von Charles Smith, einem gewissenhaften Buchhalter der US-Armee, von KBR, dem "mit Abstand größten Auftragsnehmer des Pentagons während des Krieges" (S. 185), der "laut einer Berechnung der Financial Times von 2013 Aufträge in einem Gesamtwert von 39,5 Milliarden Dollar" (S. 185) erhielt, Belege für dessen Ausgaben im Irak zu erhalten. Von den eigenen Vorgesetzten im Pentagon, denen das geschäftliche Wohlergehen von KBR offenbar wichtiger war, als Schaden vom Steuerzahler abzuwenden, wurde Smith einfach kaltgestellt.

Entsetzlicher als die schnöden Finanzbetrügereien ist die jahrelange Kumpanei zwischen der American Psychological Association (ASA) und der Bush-Regierung im Bereich der Folter von "Terrorverdächtigen" durch US-Militärs und CIA-Agenten in Guantánamo Bay auf Kuba, im irakischen Abu Ghraib, im afghanischen Bagram sowie in irgendwelchen geheimen "black sites" in befreundeten Staaten. Risen widmet dem Folter-Komplex ein ganzes Kapitel unter der Überschrift "Krieg gegen den Anstand". Die Bereitschaft der Psychologen-Zunft Amerikas nach dem 11. September, ethische Normen einfach über Bord zu werfen, führt der Autor auf deren Streben nach Geld und Einfluß im neuen "nationalen Sicherheitsstaat" der USA zurück.

Als "Krieg gegen die Normalität" bezeichnet Risen die Art und Weise, wie in den USA das Sicherheitsdenken Planung und Praxis der staatlichen Behörden bestimmt und in der Folge das gesellschaftliche Alltagsleben des Bürgers verändert. Das sogenannte "Sicherheitstheater" an den Flughäfen ist nur eine Variante dieses Phänomens. In diesem Zusammenhang kritisiert Risen die amerikanischen Massenmedien, die mit ihren Heerscharen an "Terrorexperten" die Volksmobilisierung betreiben. Risen weiß, wovon er spricht, wurde doch die von ihm und seinem Kollegen Eric Lichtblau im Herbst 2004 recherchierte Enthüllung über die verfassungswidrige Massenüberwachungspraxis durch die NSA auf Anweisung von NYT-Chefredakteur Bill Keller und -Eigentümer Arthur Sulzberger jun. über ein Jahr zurückgehalten. Damit hat die einflußreichste Zeitung der Welt die Wiederwahl des umstrittenen republikanischen "Kriegspräsidenten" George W. Bush im November 2004 gesichert.

Wegen seines letzten Buchs, das 2006 unter dem Titel "State of War" [1] erschien, bekam es Risen mit den Justizbehörden zu tun. Darin ging es nicht um die NSA-Massenspionage im eigenen Land, sondern um die Bekanntgabe einer stümperhaften CIA-Aktion namens "Operation Merlin", bei der dem Iran fehlerhafte Blaupausen zum Bau eines Atomsprengkopfes untergeschoben werden sollten. Unter Androhung einer Inhaftierung wegen der Behinderung der Justiz wollte die Regierung des Demokraten Barack Obama Risen dazu zwingen, die Quelle seiner Erkenntnisse über "Operation Merlin" preiszugeben. Erst 2014, als der Fall den Obersten Gerichtshof erreichte, verzichtete Obamas Justizminister Eric Holder wegen mangelnder Erfolgsaussicht auf eine weitere Verfolgung Risens, der lieber ins Gefängnis gehen wollte, als seine Informanten zu benennen. Dafür wurde im Mai 2015 der ehemalige CIA-Mitarbeiter Jeffrey Sterling, der bis zuletzt seine Unschuld beteuerte, aufgrund einer recht dürftigen Beweislage wegen der Weitergabe von vertraulichen Information über "Operation Merlin" zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Vermutlich weil der Fall Sterling zum Zeitpunkt des Erscheinens von "Krieg um jeden Preis" in den USA noch anhängig war, wird er in der vorliegenden Lektüre nicht behandelt. Dafür wird die jahrelange Drangsalierung der NSA-Whistleblower-Gruppe um Thomas Drake und William Binney ausführlich beleuchtet. Risen nennt das im Vergleich zu Bush jun. unter Obama recht energische Vorgehen der US-Strafbehörden gegen Kritiker aus den eigenen Reihen den "Krieg gegen die Wahrheit". Auch hier verbergen sich geschäftliche und institutionelle Motive. Binney zum Beispiel wurde bei der NSA geschaßt, weil er sich für ein von ihm mitentwickeltes, preiswertiges Softwareprogramm namens Thin Thread stark machte, mittels dessen man im großen Stil den Telefon- und E-Mail-Verkehr nach Bedrohungen durchforsten konnte, ohne die Privatsphäre der einfachen Bürger zu verletzen. Statt dessen hat sich die NSA-Führung für ein milliardenteures, weniger funktionstüchtiges Produkt namens Trailblazer von SAIC entschieden, das wie Booz Allen Hamilton, der ehemalige Arbeitgeber von Edward Snowden, zu den führenden privaten Dienstleistungsunternehmen im Sicherheitssektor der USA gehört und über entsprechenden Einfluß verfügt.

Im Nachwort erklärt Risen, durch die Veröffentlichung seiner unbequemen Geschichten über Korruption und Machtmißbrauch dazu beitragen zu wollen, die Demokratie am Leben zu erhalten. Leider muß man befürchten, daß die Tätigkeit solcher aufrichtigen Enthüllungsjournalisten wie Risen als Feigenblatt für eine Gesellschaft herhalten muß, die längst dabei ist, ihre letzten humanistischen und demokratischen Werte abzustreifen.


Fußnote:

1. REZENSION/304: James Risen - State of War (US-Sicherheitspolitik)
http:\\www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar304.html

James Risen Krieg um jeden Preis Gier, Machtmissbrauch und das Milliardengeschäft mit dem Krieg gegen den Terror Aus dem Englischen (Originaltitel "Pay Any Price - Greed, Power and Endless War") von Andreas Simon dos Santos Westend Verlag, Frankfurt am Main, 2015 312 Seiten ISBN: 978-3-86489-107-6


19. Dezember 2015


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