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REZENSION/657: Nir Baram - Im Land der Verzweiflung (Nahost) (SB)


Nir Baram


Im Land der Verzweiflung

Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete



In der politischen Debattenkultur des Westens gilt der Vergleich zwischen Deutschland während der Herrschaft der Nationalsozialisten und dem heutigen Israel als Ausdruck eines unverbesserlichen, unbelehrbaren Antisemitismus. Extrem heftig war daher die Reaktion, als der israelische Vizegeneralstabschef, Generalmajor Yair Golan, bei einer Ansprache am Massuah Institute for Holocaust Studies am 4. Mai, dem Vorabend des Holocaust-Gedenktags, seine Mitbürger dazu ermahnte, sich die Lehren aus dem industriellen Massenmord der Nazis an den europäischen Juden zu vergegenwärtigen. Neben dem Appell zur Einhaltung humanistischer Werte - "Es ist ja allzu leicht, den Fremden zu hassen. Nichts ist einfacher, als Ängste zu schüren und einzuschüchtern. Nichts einfacher als Verrohung, Abstumpfung und Selbstgerechtigkeit." - wurde Golans Kritik mit folgendem Satz pointiert: "Wenn es etwas gibt, das mich über die Erinnerungen an den Holocaust erschreckt, dann ist es das Wissen um die widerlichen Prozesse, die sich in Europa, insbesondere in Deutschland, vor 70, 80 und 90 Jahren abspielten, und Spuren ihrer Anwesenheit hier unter uns im Jahr 2016 zu finden."

Anlaß für Golan, den Israelis eine gewisse Selbstkritik nahezulegen, war die Kontroverse um den 19jährigen Soldaten Elor Azaria, der am 18. April in Hebron einen angeschossenen, reglos am Boden liegenden und blutenden Palästinenser, der zuvor eine Gruppe israelischer Militärs mit einem Messer attackiert hatte, per Kopfschuß aus nächster Nähe umbrachte. Zu der Tat soll ein radikaler jüdischer Siedler Azaria angeregt haben. Die Veröffentlichung eines von einem Passanten aufgenommenen Videos des Vorfalls hatte in den sozialen Medien weltweit Empörung ausgelöst. In Israel dagegen kam es zu einer Welle der Solidarität, als vor einem Militärgericht Anklage gegen Azaria wegen des Verdachts der vorsätzlichen Tötung erhoben wurde. Während die Militärführung aus Sorge um das internationale Ansehen Israels auf die Einhaltung völkerrechtlicher Standards pochte, kam es zu spontanen Demonstrationen der israelischen Rechten, während verschiedene Politiker, darunter sogar Premierminister Benjamin Netanjahu, Verständnis für das Handeln des jungen Feldwebels äußerten und ihn sozusagen vorab vom Vorwurf des Fehlverhaltens freisprachen.

Als sich Verteidigungsminister Moshe Ya'alon in einer Rede zum Unabhängigkeitstag am 15. Mai hinter Vizegeneralstabschef Golan stellte und sich dessen vorsichtige Warnung vor der Entwicklung der israelischen Gesellschaft von einem demokratischen Rechtsstaat hin zur ethnozentrischen Trutzburg zu eigen machte, kam es zum Bruch zwischen ihm und Netanjahu. Der Likud-Vorsitzende enthob seinen langjährigen Parteikollegen des Ministerpostens und ernannte Avidgor Lieberman, Chef der rechtsnationalistischen Fraktion Jisra'el Beitenu, zum neuen Verteidigungsminister und damit auch zum Leiter der israelischen Besatzung im Westjordanland, was selbst die US-Regierung Barack Obamas dazu veranlaßte, Bedenken zu äußern. Schließlich hatte Lieberman in der Vergangenheit als Außenminister gedroht, die ägyptische Assuan-Staumauer am Nil per Raketenangriff zu zerstören und israelische Araber, die aktiv für einen palästinensischen Staat eintreten, köpfen zu lassen.

Um seine Unzufriedenheit und seinen Frust deutlich zum Ausdruck zu bringen, hat Ya'alon der Politik komplett den Rücken gekehrt und deshalb auch seinen Abgeordnetensitz in der Knesset aufgegeben. Wie der Zufall es will, rückte an die Stelle Ya'alons der religiöse Fundamentalist Yehuda Glick, der freien Zugang für Juden zum Tempelberg in Jerusalem fordert, für Likud ins Parlament. Die Aktivitäten von Glick und seiner Gruppe HALIBA haben in den letzten Jahren bei Muslimen in Israel und den besetzen palästinensischen Gebieten Ängste ausgelöst, daß Israel die Neuerrichtung des sogenannten Dritten Tempels anstrebt, was vermutlich mit der Beseitigung der dortigen Al-Aqsa-Moschee einherginge. Zusammen mit dem Scheitern des Nahost-Friedensprozesses 2014 und dem Gaza-Krieg im August desselben Jahres haben derlei Befürchtungen zu der anhaltenden Serie von Messerattacken beigetragen, für die einige Beobachter bereits den Begriff Dritte Intifada benutzen.

Wer die brandgefährliche Situation im Nahen Osten in all ihren Facetten verstehen will, dem kann man Mir Barams vor kurzem erschienenes Buch "Im Land der Verzweiflung - Ein Israeli bereist die besetzten Gebiete" wärmstens empfehlen. Baram gehört zu den angesehensten Jungliteraten Israels. Der Sohn des früheren israelischen Innen- und Tourismusministers Uzi Baram hat mehrere vielgelobte Romane geschrieben, veröffentlicht gelegentlich Gastkommentare bei der liberalen Tageszeitung Ha'aretz und hat sich in den letzten Jahren als Friedensaktivist mit sozialem Gewissen hervorgetan. Ähnlich wie Generalstabschef Golan sieht Baram Israel zu einer "Gesellschaft von Gefängniswärtern" verkommen, sollte es dem jüdischen Staat nicht gelingen, endlich ein friedliches Miteinander mit den Palästinensern zu organisieren.

Um die Möglichkeiten eines Arrangements auszuloten, hat Baram die besetzten Gebiete bereist. Seine Reportage findet vor dem Hintergrund des Gazakrieges und des Ausbruchs besagter Messerattacken statt. Baram spricht mit allen: mit radikalen Siedlern, darunter Angehörigen der sogenannten "Hugeljugend" um Meir Ettinger, alteingesessenen Kibbutz- Bewohnern, ehemaligen palästinensischen Häftlingen, Angehörigen der Palästinensischen Autonomie-Behörde - eben mit Menschen aller Altersgruppen und Gesellschaftsschichten auf beiden Seiten der Konfrontation. Er schildert die unhaltbare rechtliche Lage der Palästinenser, deren Leben im Alltag durch die Willkür der israelischen Militärs und die Gewalt extremistischer Siedler unerträglich gemacht wird. Er bringt dem Leser auf eindringliche Weise die ständigen Erniedrigungen näher, welche die Palästinenser durch Trennungsmauer, Kontrollpunkte, Abriegelung ihrer Viertel in Ostjerusalem und Landraub im Westjordanland zu erleiden haben.

Durch seine offene, ruhige Art gelingt es Baram, nicht selten bei einer Zigarette, die verschiedensten Meinungen einzuholen. So lockt er bei seinen Gesprächspartnern in den illegalen jüdischen Siedlungen aufschlußreiche Aussagen hervor, die zwar zumeist vom messianischen Geist durchdrungen sind, jedoch häufiger, als man es vielleicht erwartet hätte, die Bereitschaft zu einer Partnerschaft auf Augenhöhe mit den Palästinenser signalisieren. Tatsächlich gibt es Initiativen auf der Westbank, in deren Rahmen Siedler und Palästinenser zusammenkommen, sich austauschen und um Formen der Zusammenarbeit ringen. Im Buch lernt man einige der Beteiligten kennen. Für die meisten Menschen, mit denen Baram spricht, ist die Frage einer Zwei- oder Einstaatenlösung weniger wichtig als baldige Maßnahmen, welche die rechtliche Gleichstellung für die Palästinenser herbeiführen und ihnen die ungehinderte Mobilität auf der Westbank sowie zwischen den besetzten Gebieten und Israel ermöglichen. Für Baram müssen "Trennung" und "Okkupation" bald ein Ende finden. Ihm zufolge führt das bisherige Rezept Netanjahus, einfach die "Festigung und Weiterführung" der Besetzung zu verfolgen, unweigerlich in eine verheerende Katastrophe, die man weder Israelis noch Palästinensern wünschen kann.

31. Mai 2016


Nir Baram
Im Land der Verzweiflung
Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete
(Übersetzt aus dem Hebräischen von Markus Lemke)
Hanser Verlag, München, 2016
317 Seiten
ISBN: 978-3-446-25046-8


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