Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → SACHBUCH


REZENSION/744: Jacques Pauwels - The Great Class War (1. Weltkrieg) (SB)


Jacques Pauwels


The Great Class War



In Militärakademien ist der Ausspruch des berühmten britischen Generals Sir Ian Standish Monteith Hamilton aus seinem 1907 erschienenen Buch über den russisch-japanischen Krieg zwei Jahre zuvor geläufig: "On the actual day of battle naked truths may be picked for the asking; by the following morning they have already begun to get into their uniforms." ("Am eigentlichen Tag der Schlacht können nackte Wahrheiten mühelos gesammelt werden, während sie bereits am darauffolgenden Morgen ihre Uniformen anziehen." - SB-Übersetzung) Es gibt kaum einen militärischen Konflikt, zu dem diese Aussage besser paßt, als der Erste Weltkrieg, an dem der Burenkriegsveteran Hamilton als Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte bei der gescheiterten Dardanellen-Expedition 1915 auf Gallipoli teilnahm, mit der im Auftrag Winston Churchills, damals First Lord of the Admiralty, Istanbul erobert und somit der Seeweg zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer für die Schiffe der Entente-Mächte Frankreich, Großbritannien und Rußland geöffnet werden sollte.


Hindenburg, Wilhelm II. und Ludendorff studieren gemeinsam eine große Landkarte auf einem Schreibtisch - Foto: Robert Sennecke, Public domain, via Wikimedia Commons

Oberbefehlshaber der deutschen Streitkräfte, Kaiser Wilhelm II., berät sich mit seinen beiden obersten Generälen, Paul von Hindenburg (links) und Erich Ludendorff (rechts)
Foto: Robert Sennecke, Public domain, via Wikimedia Commons

Inzwischen sind rund 30.000 Bücher und Artikel zum Ersten Weltkrieg, der 8,5 Millionen Soldaten und 13 Millionen Zivilisten das Leben kostete - dazu kamen rund 20 Millionen Verwundete - und die politische und gesellschaftliche Ordnung auf diesem Planeten vollkommen umkrempelte, geschrieben und veröffentlicht worden. Zu den wohl bekanntesten Schriften gehören "Griff nach der Weltmacht: die Kriegspolitik des Kaiserlichen Deutschland, 1914-18", mit der 1961 der deutsche Historiker Fritz Fischer Kaiser Wilhelm II. samt Beratern die Hauptverantwortung für das gigantische Gemetzel anlastete, "The Guns of August" über den an ein einstürzendes Kartenhaus erinnernden Konfliktsausbruch, wofür 1963 die Amerikanerin Barbara Tuchman den begehrten Pulitzerpreis in der Kategorie Sachbuch erhielt, das vielverkaufte Standardwerk "The First World War - An Illustrated History" der britischen Geschichtskoryphäe A. J. P. Taylor aus dem Jahr 1974 sowie "Die Schlafwandler - wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog", mit dem 2013 - und damit rechtzeitig zum 100. Jahrestag des Beginns des vermeintlichen "War to End all Wars" - der australische Professor Christopher Clark für die These, die europäische Elite in Militär und Politik sei quasi in die Katastrophe hineingetaumelt, in beachtlicher Menge Lob und Beifall von den Kommentatoren der westlichen Konzernmedien bekam.


Der letzte russische Kaiser im Vordergrund auf seinem Pferd, dahinter berittene Soldaten in Formation - Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Zar Nikolaus II. nimmt zu Friedenszeiten an einem Manöver der russischen Kriegskavallerie teil
Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Weit weniger allgemeine Beachtung wurde Jacques R. Pauwels mit seinem vom in Toronto ansässigen Verlagshaus Lorimer 2016 herausgegebenen Beitrag zum Verständnis des ersten industriellen Massenmords der Geschichte mit dem Titel "The Great Class War 1914-1918" zuteil. Das ist wirklich bedauerlich. Denn der 1946 in Belgien geborene, seit 1969 in Kanada lehrende Historiker und Hochschuldozent hat über 632 Seiten - in der Druckausgabe - ein wahres Meisterwerk über die grundlegenden Widersprüche, die 1914 ein bestialisches Inferno entfachten, 1918 halbwegs wieder eingefangen werden konnten, nur um 1939 der Menschheit das noch größere Desaster des sechsjährigen Zweiten Weltkriegs zu bescheren, verfaßt. Die besondere Stärke von Pauwels' Buch leitet sich aus dem Umstand ab, daß sich der Autor einer marxistischen Klassenanalyse bedient, um Beweggründe und Handlungsweisen aller am Ersten Weltkrieg beteiligten Personen, Gruppen, Institutionen und Staaten zu erläutern.

Ausgangspunkt seiner Ausführungen ist Pauwels eigene Kindheit in der belgischen Grenzregion zu Frankreich, wo einst jahrelang der Grabenkrieg getobt und durch unzählige Granaten- und Bombeneinschläge eine pockenförmige Landschaft hinterlassen hat. Dazu kommen die zahlreichen Geschichten, die ihm Eltern, Großeltern, weitere Verwandte, Nachbarn und Bekannte über ihre Erlebnisse in der damaligen Zeit erzählt haben. Brillant verarbeitet Pauwels die Erkenntnisse und Analysen nicht nur der vier bereits erwähnten Historikerkollegen, sondern auch zahlreiche andere, sowohl aus dem linken als auch dem rechten Spektrum wie Eric Hobsbawm, Dominico Losurdo, Gabriel Kolko, Paul Fussel, Frédéric Rousseau, Max Hastings, Herfried Münkler, Emil Nolte und Niall Ferguson, um nur einige zu nennen. Des weiteren wird reichlich, aber immer genau passend aus den Tagebüchern, Memoiren und Gedichten nicht nur der einfachen Soldaten, sondern auch seitens Literaten wie Kurt Tucholsky, Erich Maria Remarque, Siegried Sassoon, Wilfred Owen und Ernest Hemingway, die das schreckliche "Stahlgewitter" am eigenen Leib erlebt haben, zitiert.


Der 1. Earl Haig stehend in Paradeuniform mit großer Ordensspange, Säbel in der linken Hand, Helm mit Federbusch in der rechten - Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Field Marshal Douglas Haig, von 1915 bis 1918 britischer Oberbefehlshaber an der Westfront
Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Für Pauwels sind die europäischen Großmächte, ihre politischen und militärischen Führungscliquen mitnichten gegen besseres Wissen in den Ersten Weltkrieg hineingetaumelt. Auch wenn er an keiner Stelle die erbitterten imperialistischen Rivalitäten ausblendet, die nach der Ermordung des Habsburger Erzherzogs und Thronfolgers Franz Ferdinand durch serbische Hasardeure am 28. Juni 1914 im bosnischen Sarajewo die diversen Militärallianzen und Beistandsverpflichtungen aktivierten und dadurch die Entente aus British Empire, Frankreich und Rußland auf der einen Seite und Deutsches Kaiserreich, Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich auf der anderen wie zwei Horden tollwütiger Hyänen übereinander herfallen ließen, so sieht er doch darin keine Zwangsläufigkeit, der sich niemand in London, Paris, Berlin, Wien, Istanbul oder Moskau hätte entziehen können. Im Gegenteil sehnten sich die Eliten aller beteiligten Staaten geradezu nach einem großen Krieg, um den ausländischen Gegner zu besiegen und auf dessen Kosten zu mehr Land, Kolonien, Handelsrechten, Ressourcen et cetera zu kommen, aber in allererster Linie, um die eigene Bevölkerung, die immer aufsässiger wurde und immer mehr Demokratie einforderte, in ihre Schranken zu weisen.


Soldaten, Schützengräben, unzählige Sandsäcke und dazwischen primitive Kondensatoren für die Süßwassergewinnung - Foto: Ernest Brooks, Public domain, via Wikimedia Commons

Australische und neuseeländische Soldaten auf der Hauptinsel Gallipoli, wo 1915 monatelang die Schlacht um die Kontrolle des Seewegs der Dardanellen zwischen Mittelmeer und Scharzem Meer tobte
Foto: Ernest Brooks, Public domain, via Wikimedia Commons

Pauwels holt weit aus und skizziert anfangs die Entwicklung in Europa nach den Umwälzungen der französischen Revolution 1789, der darauffolgenden napoleonischen Kriege und dem Wiener Kongreß, mit dem 1815 die alte Ordnung restauriert worden war. Das Versprechen der französischen Revolution für die einfachen Menschen hatte sich nur zum Teil erfüllt, wie die Erhebungen 1848 in mehreren der wichtigsten europäischen Hauptstädte zeigen sollten. Der später einsetzende, notgedrungene Reformprozeß à la Bismarck im Deutschen Kaiserreich hielt mit den zunehmenden Ansprüchen der Arbeiter in den Industriezentren und den Bauern auf dem Land nicht mehr Schritt. Ganz besonders traf dies in Rußland zu, wo trotz Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 der Absolutismus der Romanow-Monarchie Urstände feierte.


Eine Gruppe von rund 20 Tommys lehnt sich stehend oder sitzend an den nackten Lehm eines Schützengrabens und schaut teilnahmslos in Richtung Kamera - Foto: Btb.jo, CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0), via Wikimedia Commons

Ausgelaugte britische Soldaten bei einer Zigarettenpause
Foto: Btb.jo, CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0), via Wikimedia Commons

Kirche und Adel sahen sich durch Proletarier, bürgerliche Freidenker, Sozialisten, Frauenrechtlerinnen und den Separatismus kleinerer Nationen wie der Iren und Serben herausgefordert und zunehmend bedrängt. Die seit 1492 gängige Methode, überflüssiges Gesindel in die Amerikas, nach Afrika, Asien und Ozeanien zu verschiffen, um es dort in kolonialistischer Manier gewinnbringend unter anderem als Frontiersleute, Missionare, Bauern, Goldsucher und Handelsvertreter einzusetzen, stieß allmählich an ihre Grenzen. Erschütternd sind die unsäglichen Belege Pauwels für die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in den tonangebenden Kreisen der westlichen Zivilisation herrschende geistige Strömung, eine Mischung aus elitärem Nietzscheanismus und utilitaristischem Sozialdarwinismus, die gleichermaßen alle nicht-weißen Bewohner der Erde sowie die ärmeren Schichten Europas und Nordamerikas für überflüssiges Menschenmaterial erklärte, das man mit strenger Hand führen und dessen man sich im Zweifelsfall entledigen muß - um den Fortbestand der eigenen Herrschaft willen, versteht sich. Ob nun US-Präsident Teddy Roosevelt, der britische Diamantenminenbetreiber Cecil Rhodes oder der Schriftsteller Jack London, die selbsternannten Vertreter der weißen "Rasse" machten damals aus ihren mörderischen Absichten gegenüber Philippinos, Hottentotten, Chinesen und sonstigen "Untermenschen" keinen Hehl.


Drei Frauen in Arbeitsschürzen mit Kopfbedeckung hantieren mit schweren Metallteilen - Foto: Ernest Brooks, Public domain, via Wikimedia Commons

Arbeiterinnen stellen im Ersten Weltkrieg in einer Schiffswerft am Clyde in der schottischen Schwerindustriehochburg Glasgow Kondensatorplatten her
Foto: Ernest Brooks, Public domain, via Wikimedia Commons

Also wurde von allen Beteiligten eifrig auf einen großen Krieg zugearbeitet, der nicht nur als reinigender "Aderlaß" für die jeweilige Gesellschaft dienen, sondern zudem die arbeitende Bevölkerung disziplinieren sollte. Auf diese Weise sollte die Befehlshierarchie der Kaserne das Miteinander in den modernen Werkshallen und Bürogebäuden bestimmen. Noch dazu sollte der Krieg der männlichen Herrlichkeit zu neuem Glanz verhelfen, die patriarchalen Strukturen festigen und die angebliche Verweichlichung infolge des in Europa weitgehend friedlich verlaufenden "langen" 19. Jahrhunderts ausradieren. Nicht umsonst drängten gerade in den beiden letzten Jahrzehnten vor 1914 die verschiedenen hauptsächlich adlig besetzten Offizierskorps immer wieder auf einen Erstschlag, um dem Gegner zuvorzukommen und eigene vorübergehende Vorteile nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Bei der mächtigen britischen Marineleitung zum Beispiel gab es nicht wenige Stimmen, die noch vor der Fertigstellung des Nordostseekanals eine Strafexpedition gegen die Seestreitkräfte von Wilhelm II. für zwingend erforderlich hielten. Auch in den höchsten militärischen und politischen Kreisen von Paris sehnte man sich spätesten ab der gescheiteren Revolution 1905 in Rußland nach einem Krieg gegen die Deutschen - je früher desto besser - aus Angst, durch einen Umsturz in Moskau könnte Frankreich der wichtigste Verbündete abhanden kommen.


Zwei französische Soldaten stecken scheinbar im Schlamm ihres Schützengrabens fest - ihre verkrustete Mörserkanone ebenso - Foto: National Photo Company Collection, Public domain, via Wikimedia Commons

Mörderischer Alltag im Ersten Weltkrieg
Foto: National Photo Company Collection, Public domain, via Wikimedia Commons

Vor diesem Hintergrund enthält der häufig zitierte Satz A. J. P. Taylors zum Ersten Weltkrieg - "Die großen Armeen, angelegt um die Sicherheit zu gewährleisten und den Frieden aufrechtzuerhalten, trieben allein durch ihr Gewicht die Nationen in den Krieg." - eine wichtige Erkenntnis, aber nicht die ganze Wahrheit. Die Monarchen und ihre Generäle haben zwar enorme Militärmaschinerien angelegt, aber nicht ausschließlich zu Defensivzwecken, sondern auch um bei günstiger Gelegenheit den Feind überfallen und bezwingen zu können. Als die tödlichen Schüsse Gavrilo Princips in Sarajewo fielen, sahen alle dieser Herren den ersehnten Zeitpunkt für gekommen und ordneten die Mobilmachung an. Nur aufgrund der seltsamerweise in allen Streitparteien herrschenden Zuversicht läßt sich erklären, warum im August 1914 alle meinten, bis Weihnachten sei man verrichteter Dinge wieder zuhause.


Ein Dutzend Soldaten mit Gewehren im Anschlag und aufgesetzten Bajonetten hat gerade Stacheldrahthindernisse überwunden und betritt Niemandsland vor der deutschen Frontlinie - Foto: Geoffrey Malins, Public domain, via Wikimedia Commons

Britische Soldaten ziehen 1916 in das Massenschlachten an der Somme
Foto: Geoffrey Malins, Public domain, via Wikimedia Commons

Stattdessen stecken zur Jahreswende 1914/1915 die Armeen an der Westfront zwischen Ärmelkanal und Schweizer Grenze fest. Dafür haben sich Franzosen und Briten weite Teile des deutschen Kolonialgebiets in Afrika und in der Pazifik-Region einverleibt. Ganz opportunistisch hatten kurz nach Kriegsbeginn auch die Japaner das kleine deutsche Überseegebiet in China übernommen, was im Nachhinein als Auftakt eines langen und grausamen Versuchs Nippons, sich das Reich der Mitte untertan zu machen, in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Lediglich an der Ostfront zwischen Ostsee und Schwarzem Meer kommt es zu großen Verschiebungen auf der Landkarte, wenngleich sich dort zunächst keine Kriegspartei endgültig durchsetzenn kann.

An der Heimatfront dagegen können die Kriegsbefürworter zufrieden sein. Der Hurrapatriotismus hat überall dem Proletariat den sozialistischen Internationalismus ausgetrieben. Die Frauen hat man an die Werkbänke geholt, um ihre in den Krieg gezogenen Väter, Söhne und Brüder zu ersetzen. Die klassenübergreifende Einigkeit im Angesicht des Feindes nennt man Burgfrieden im Kaiserreich und Union Sacrée in Frankreich. Auch die Kirchen erfreuen sich wieder regen Zuspruchs, meinen doch tiefgläubige deutsche Lutheraner, französische Katholiken, russische Orthodoxe und englische Anglikaner, derselbe "Gott" stehe ihnen gegen die jeweils andere Seite bei. Rasch folgt jedoch die Ernüchterung. Statt glorreicher Kavallerieritte und existentieller Nahkämpfe Mann gegen Mann sind es Stacheldraht, Gewehrfeuer und Kanonendonner, die den Kriegsalltag bestimmen und den Menschen zum Handlanger und Opfer einer industriellen Vernichtungslogik machen.

Nach dem grandiosen Scheitern des britischen Versuchs, 1915 mit der Dardanellen-Expedition den Seeweg zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer freizukämpfen - was gerade wegen der vielen getöteten Soldaten Australiens und Neuseelands als Geburtsstunde dieser beider Kolonien als eigenständige Nationen gilt - kommt es 1916 an der Westfront zu den Schlachten an der Somme und um Verdun, deren Namen für immer als Inbegriff sinnlosen, wegen der unglaublichen Todeszahlen unvorstellbaren Abschlachtens stehen werden. Field Marshall Douglas Haig, Erbe der gleichnamigen schottischen Whiskey-Dynastie, gilt seitdem als General, der mit 125.000 Mann die meisten britischen Soldaten in den Tod geschickt hat. In Verdun bescheren die Deutschen den Franzosen mit Verlusten von 377.000 Mann wie beabsichtigt die sogenannte "Blutpumpe", kommen jedoch selbst mit 337.000 kaum besser davon.


Schlachtfeld Verdun als infernalische Höllenlandschaft - Bild: Joseph Ferdinand Gueldry (1858-1945), Public domain, via Wikimedia Commons

Gemälde 'Le ravin de la mort à Verdun' ('Die Todesschlucht zu Verdun')
Bild: Joseph Ferdinand Gueldry (1858-1945), Public domain, via Wikimedia Commons

Wie Pauwels eindrücklich beschreibt, ist inzwischen die Moral sowohl bei den Soldaten in den Schützengräben, wo in gesundheitlicher und hygienischer Hinsicht die absolut schlimmsten Bedingungen herrschen, als auch an der Heimatfront auf den Nullpunkt gesunken. Österreich-Ungarn hat große Schwierigkeiten, die Truppen der kleineren zur K.u.K.-Monarchie gehörenden Nationen bei der Stange zu halten. In Dublin rufen die mit deutschen Waffen ausgerüsteten Nationalisten beim Osteraufstand die Republik Irland aus. An vielen Stellen leisten die Soldaten Kriegsdienst nach Vorschrift und treffen mit dem Feind auf der anderen Seite des Niemandslands Abmachungen, um sich gegenseitig verschonen zu können. Zur Sinnlosigkeit des ganzen Unterfangens Krieg und der damit einhergehenden Entbehrungen kommt für Soldaten und einfache Zivilisten der Zorn angesichts des üppigen Lebens, das die höheren Offiziere und die Kriegsgewinnler aus der Industrie weiterhin führen und in den noblen Restaurants, Kasinos und Theatern von London, Paris, Berlin, Wien und Moskau zur Schau tragen.

Folglich bricht 1917 in Petrograd die Februar-Revolution aus, die Zar Nikolaus II. zum Rücktritt zwingt. Laut einer Legende, die Pauwels in seinem Buch erwähnt, sollen es einige Schüsse, die irgendwelche erzreaktionären Offiziere beim Dinieren im Fünf-Sterne-Hotel Astoria in Petrograd auf die Teilnehmer einer Demonstration auf dem Newski-Prospekt gegen Brotmangel anläßlich des Weltfrauentags abgaben, gewesen sein, die den Volkszorn zum Überkochen brachten. Ironie der Geschichte: Das Hotel Astoria war 1912 gebaut worden, um ein Jahr später die adligen Gäste aus ganz Europa bei den Feierlichkeiten anläßlich des 300jährigen Jubiläums der Gründung der Romanow-Dynastie standesgemäß beherbergen und verköstigen zu können.


Hunderte Frauen marschieren den berühmten Newski-Prospekt entlang, unter anderem um gegen die katastrophale Lebensmittelversorgung zu protestieren - Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Massendemonstration anläßlich des internationalen Frauentags 1917 in Petrograd, welche die Februarrevolution auslöste und zum Sturz der Romanow-Dynastie führte
Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Ende 1917 geraten die Verhältnisse vollends in Bewegung. Die Briten unter der Führung von General Edmund Allenby stoßen von Ägypten aus vor. Mit Hilfe der arabischen Stämme vertreiben sie die osmanische Armee aus Jerusalem und nehmen die heilige Stadt ein. In Rußland übernehmen die Kommunisten die Macht und setzen den Willen des hungernden und malträtierten Volkes durch, indem sie Rußlands weitere Teilnahme am Krieg aufkündigen. Zu guter Letzt treten die USA auf seiten der Entente in den Krieg ein, vor allem weil die Wall-Street-Finanziers, angeführt vom gleichnamigen Bankhaus J. P. Morgans, Briten und Franzosen Kredite in astronomischer Höhe gewährt haben, damit sie sich mit Kriegsmaterial made in the USA, nicht zuletzt mit riesigen Mengen Sprengstoff aus der Produktion Du Pont sowie Treibstoff von John D. Rockefellers Standard Oil, eindecken konnten. Allen hehren Bekenntnissen des US-Präsidenten Woodrow Wilson zum Kriegsziel "für die Demokratie" zum Trotz, greifen die Amerikaner schlicht und einfach deswegen militärisch in die Angelegenheiten der Alten Welt ein, um die überdimensionierten Wetteinsätze der Morgans und Konsorten zu retten.


Unzählige einheimische Zuschauer stehen am Straßenrand sowie oben an der Stadtmauer, als Allenby an der Spitze seiner Truppe Jerusalem für das British Empire erobert - Foto: Copyright, U. & U. (expired), Public domain, via Wikimedia Commons

Feldmarschall Edmund Allenby, Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte in Ägypten, zieht im Dezember 1917 in Jerusalem ein - aus Respekt vor der Heiligen Stadt zu Fuß und nicht hoch zu Ross
Foto: Copyright, U. & U. (expired), Public domain, via Wikimedia Commons

1918, der Ostfront entledigt, wollen die Deutschen den Stillstand in Nordfrankreich endlich beenden und den Durchbruch erzielen. Not ist am Mann. Im Kaiserreich zeigt die Handelsblockade der britischen Kriegsmarine, jetzt wo Albions transatlantischer Verbündeter mit von der Partie ist, endlich Wirkung in Form schwerer Lebensmittelknappheit. Die deutsche Großoffensive scheitert letzlich an ihrem eigenen Erfolg. Die deutschen Soldaten kommen aus dem Staunen über den Stand der Verpflegung der gegnerischen Truppen in den eroberten Stellungen nicht heraus und begreifen die materielle Überlegenheit der Entente. Durch die raschen Vorstöße verlieren die deutschen Truppen, die entweder zu Fuß oder mit der Eisenbahn unterwegs sind, immer mehr ihren Zusammenhalt. Dagegen setzen die Franzosen Lastwagen - gebaut von Renault und mit Sprit von Standard Oil - als Mannschaftstranporter ein und sind damit viel mobiler. Als Anfang November 1918 in Kiel die Matrosen der deutschen Kriegsmarine meutern, bricht die Kriegsdisziplin vollends zusammen. Das Kaiserreich kapituliert. Oberbefehlshaber Wilhelm II. setzt sich in die Niederlande ab.


Gemälde von J. P. Morgan an seinem Arbeitstisch sitzend im Dreiteiler-Anzug mit Schnurrbart - Bild: Fedor Encke (1851-1926), Public domain, via Wikimedia Commons

Porträt von John Pierpont Morgan, der wie kein zweiter der New Yorker Wall Street seinen Stempel aufdrückte
Bild: Fedor Encke (1851-1926), Public domain, via Wikimedia Commons

Wie Pauwels zurecht unterstreicht, war die Oktoberrevolution in Rußland für den Ausgang des Ersten Weltkriegs entscheidend. Die Hauptkriegsteilnehmer haben auch nach der Vereinbarung des Waffenstillstands an der Westfront nichts eiligeres zu tun, als das revolutionäre Signal, das von Rußland für die Arbeiter auf der ganzen Welt ausgeht, zu bekämpfen. Sowohl die USA als auch Großbritannien schicken Zehntausende Soldaten nach Rußland, um die konterrevolutionäre weiße Armee gegen die rote Armee Lenins und Trotzkis militärisch zu unterstützen. In London ist man besonders darüber verärgert, daß Rußlands Kommunisten zahlreiche Einzelheiten der perfiden britischen Geheimdiplomatie vor und während des Kriegs - bestes Beispiel das Sykes-Picot-Abkommen über die Aufteilung des Mittleren Ostens zwischen Großbritannien und Frankreich, das im diametralen Widerspruch zu den Versprechen der Briten gegenüber den Arabern steht - publik machen. Doch der Versuch Churchills, den Bolschewismus "in der Kinderkrippe zu erwürgen", mißlingt. In Westeuropa muß man zusehen, daß sich nicht auch dort die linken Revolutionäre durchsetzen. Das schafft man mit Zuckerbrot und Peitsche. Für ersteres stehen weitreichende Reformen im Wahlrecht, im Arbeitsrecht sowie in der Sozialgesetzgebung, für letzteres Exekutivmaßnahmen wie die Ermordung der Sozialisten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg durch die Freikorps.


Ein alternder John D. Rockefeller geht auf dem belebten Bürgersteig in New York und schaut introvertiert zum Boden - Foto: Bain News Service, publisher, Public domain, via Wikimedia Commons

Amerikas größter Ölmagnat John D. Rockefeller
Foto: Bain News Service, publisher, Public domain, via Wikimedia Commons

In Pauwels' Buch kommt der häufig übersehene Einsatz zahlreicher nicht-weißer Soldaten und Arbeitskräfte im Ersten Weltkrieg nicht zu kurz. Ganz im Gegenteil. Er berichtet über die eine Million indischer Soldaten, die für das britische Empire vor allem im Zweistromland, beim Marsch von Kuwait nach Bagdad, kämpften, ebenso über die zahlreichen Vietnamesen, Marokkaner und Algerier, die im Sold der französischen Armee standen und an der Westfront häufig die dreckigsten und unangenehmsten Arbeiten wie Leichentransport verrichten mußten. Es waren nicht nur die schwarzen US-Soldaten, die im Kugelhagel des Ersten Weltkriegs ihre Gleichwertigkeit erlebt und bewiesen haben. Nicht wenige Vertreter verschiedener Kolonialvölker stellten später die neugewonnenen militärischen Erkenntnisse in den Dienst des Unabhängigkeitskampf der eigenen Heimat. Gerade die Hervorhebung und Würdigung der vielen klassenkämpferischen Impulse, die statt durch den Ersten Weltkrieg zertrampelt zu werden, dadurch erst richtig zu neuem Leben erweckt werden, macht das Buch von Jacques Pauwels so wertvoll zu lesen.


Vor dem Tagungsgebäude scherzen Lloyd George und Orlando, während Clemenceau zur Kamera schaut und Wilson die anderen drei zur Arbeit ruft - Foto: Edward N. Jackson (US Army Signal Corps), Public domain, via Wikimedia Commons

Regierungschefs der Siegermächte (von links nach rechts), Großbritanniens David Lloyd George, Italiens Vittorio Orlando, Frankreichs Georges Clemenceau und Woodrow Wilson aus den USA am 27. Mai 1919 auf der Pariser Friedenskonferenz
Foto: Edward N. Jackson (US Army Signal Corps), Public domain, via Wikimedia Commons

16. August 2021


Jacques R. Pauwels
The Great Class War
James Lorimer & Company Ltd., Publishers, Toronto, 2016
826KB
ISBN: 978-1-459411074 (eBook)

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 166 vom 21. August 2021


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang