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AKTION/1553: Urgent Action - Gazastreifen, Hamas droht mit Hinrichtungen nach Ende des Ramadan


ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-214/2013, AI-Index: MDE 21/003/2013, Datum: 7. August 2013 - mr

Palästinensische Autonomiegebiete
Hamas droht mit Hinrichtungen nach Ende des Ramadan



Herr H.M.A.
Herr F.A., 23 Jahre
Herr JAMIL ZAKARIYA JUHA

Die Hamas-Behörden im Gazastreifen drohen mit der Vollstreckung mehrerer Todesurteile nach Ende des muslimischen Zuckerfestes zum Abschluss des Fastenmonats Ramadan. Das könnte auch einen unter den Initialen H.M.A. bekannten Mann betreffen, der zur Zeit eines seiner mutmaßlichen Verbrechen unter 18 Jahre alt war und bei den Verhören gefoltert und in anderer Weise misshandelt worden sein soll.

Im Mai 2010 wurde H.M.A. vom Khan-Younis-Gericht erster Instanz in zwei verschiedenen Fällen eines Tötungsdelikts schuldig gesprochen. Im ersten Fall wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er 2009 "ohne Vorsatz" einen Freund getötet haben soll. Im zweiten Fall verhängte man wegen der Vergewaltigung und Tötung eines sechsjährigen Mädchens im Jahr 2000, als H.M.A. noch keine 18 Jahre alt war, gegen ihn eine lebenslange Freiheitsstrafe und zusätzliche 14 Jahre Haft. Der Rechtsbeistand von H.M.A. argumentierte im Verfahren, dass das "Geständnis" von H.M.A. im letztgenannten Fall vor Gericht nicht zulässig sei, da er während der Verhöre geschlagen wurde. Dieser Einwand wurde jedoch nicht berücksichtigt. Die Staatsanwaltschaft legte gegen diese Urteile Rechtsmittel ein und im September 2012 befand das Berufungsgericht H.M.A. wegen Mordes in beiden Fällen für schuldig und änderte das Strafmaß von der jeweils lebenslangen Haftstrafe in ein Todesurteil. Dieses Urteil wurde am 14. Juli vom Kassationsgericht bestätigt, obwohl das palästinensische Recht bei Tötungsdelikten Minderjähriger die Verhängung eines Todesurteils nicht vorsieht.

Am 1. August erklärte der Generalstaatsanwalt der De-facto-Regierung der Hamas im Gazastreifen, Isma'il Jaber, nach Ende des muslimischen Zuckerfestes (Eid al-Fitr) würden mehrere "Verbrecher" zur Abschreckung potentieller Straftäter öffentlich hingerichtet werden. Diese Woche erklärte ein Regierungssprecher gegenüber dem Satellitenfernsehsender al-Quds, dass der Innenminister bereit sei, "öffentliche" Hinrichtungen anzuordnen, um "Straftäter, die die Sicherheit in der Gesellschaft stören wollen", abzuschrecken. Frühere Hinrichtungen wurden von den Behörden als "öffentlich" bezeichnet, wenn ihnen Berichten zufolge Angehörige der Regierung und der Sicherheitskräfte, religiöse Vertreter und JournalistInnen beiwohnten, die Öffentlichkeit jedoch nicht zugelassen war.

Jamil Zakariya Juha droht nach einer Verurteilung wegen Mordes ebenfalls die Hinrichtung. Ein unter den Initialen F.A. bekannter Mann könnte hingerichtet werden, sollte am 14. August 2013 im Rechtsmittelverfahren das Urteil wegen "Kollaboration" mit dem Feind aufrechterhalten werden.


HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Amnesty International ist nach wie vor sehr besorgt über die weitverbreitete Anwendung von Folter und anderen Misshandlungen im Gazastreifen unter der De-facto-Regierung der Hamas, namentlich gegen zum Tode verurteilte Personen. Die Unabhängige Kommission für Menschenrechte (Independent Commission for Human Rights - ICHR) erhielt eigenen Angaben zufolge im Jahr 2012 insgesamt 134 Beschwerden wegen Folter durch die Behörde für Innere Sicherheit und die Polizei in Gaza und zahlreiche weitere Beschwerden wegen grausamer und unmenschlicher Behandlung sowie physischer oder verbaler Misshandlung.

Am 22. Juni wurden zwei Männer, die als "A.M.Gh." und "H.J.Kh." bekannt sind, auf dem Gelände der Polizei in Jawazat durch den Strang hingerichtet. Sie waren wegen "Kollaboration mit dem Feind" zum Tode verurteilt worden. Laut Amnesty International vorliegender Informationen war zumindest H.J.Kh. unter Folter dazu gezwungen worden, zu "gestehen" und ein Schuldeingeständnis zu unterschreiben, das er als Analphabet nicht lesen konnte. Einem Angehörigen, der H.J.Kh. in Haft besuchte, sagte dieser, dass man ihn an den Handgelenken aufgehängt und ihm Elektroschocks und Schläge versetzt habe.


SCHREIBEN SIE BITTE

E-MAILS UND FAXE MIT FOLGENDEN FORDERUNGEN

  • Es besorgt mich sehr, dass H.M.A. nach einem Gerichtsverfahren die Hinrichtung droht, in dem er wegen eines Verbrechens zum Tode verurteilt wurde, das er als Minderjähriger begangen haben soll und das sich auf ein "Geständnis" stützt, das er mutmaßlich unter Folter und anderer Misshandlung abgelegt hat.
  • Stellen Sie bitte sicher, dass die Todesurteile gegen H.M.A, Jamil Zakariya Juha und F.A. sowie alle weiteren bereits verhängten Todesurteile in Gaza nicht vollstreckt werden. Sorgen Sie zudem dafür, dass alle im Gazastreifen verhängten Todesurteile aufgehoben oder umgewandelt werden, da es keinerlei Nachweis darüber gibt, dass die Todesstrafe eine abschreckendere Wirkung besitzt als andere Strafen.
  • Die kürzlich abgegebenen Erklärungen der Hamas-Behörden beunruhigen mich, da öffentliche Hinrichtungen 2006 vom UN-Sonderberichterstatter über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen als eine "höchst unmenschliche Form der Bestrafung" bezeichnet wurden, die keinerlei "legitimen Interesse" dienen.

APPELLE AN

MINISTER FÜR INNERES UND NATIONALE SICHERHEIT
[Hamas administration in Gaza]
Fathi Hamad
(Anrede: Your Excellency / Exzellenz)
Fax: (00 972) 8-288 1994 / (00 970) 8 288 1994
(nur bis 14.00 Uhr Ortszeit bzw. 15 Uhr MSZ)
E-Mail: info@moi.gov.ps

GENERALSTAATSANWALT
[Hamas administration in Gaza]
Isma'il Jaber
(Anrede: Dear Attorney General / Sehr geehrter Herr
Generalstaatsanwalt)
Fax: (00 972) 8 288 6885 (nur bis 14.00 Uhr Ortszeit bzw. 15 Uhr MSZ)
E-Mail: neiaba.gaza@gmail.com oder
media@gp.gov.ps


KOPIEN AN

MINISTERPRÄSIDENT
[Hamas administration in Gaza]
Isma'il Abd al-Salam Ahmad Haniyeh
(Anrede: Your Excellency / Exzellenz)
Fax: (00 972) 8 264 1150 (nur bis 14.00 Uhr Ortszeit bzw. 15 Uhr MSZ)

PALÄSTINENSISCHE DIPLOMATISCHE MISSION
Herrn Salah Abdel Shafi
Ostpreußendamm 170
12207 Berlin
Fax: 030-20 61 77 10
E-Mail: info@palaestina.org


Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 18. September 2013 keine Appelle mehr zu verschicken.


PLEASE WRITE IMMEDIATELY
  • Expressing grave concern that H.M.A. is facing execution after a trial in which he was sentenced to death for a crime committed when he was a minor and which relied upon a "confession" made when he was allegedly subjected to torture or other ill-treatment.
  • Urging them not to execute H.M.A., Jamil Zakariya Juha, F.A or anyone else sentenced to death in Gaza, and to immediately overturn or commute all death sentences, noting that the death penalty has never been shown to deter crime any more effectively than other punishments.
  • Expressing grave concern at recent announcements from the Hamas authorities, pointing out that public execution is, according to the then UN Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions in 2006, "a most inhuman form of punishment" which serves no "legitimate interest".

HINTERGRUNDINFORMATIONEN - FORTSETZUNG

F.A., der aus Jabalya in der Nähe von Gaza-Stadt stammt, wurde am 24. März 2013 vom Zentralen Militärgericht von Gaza-Stadt wegen "Kollaboration mit einer feindlichen Institution" zum Tode verurteilt. Laut seines Rechtsbeistandes erschien der 23-Jährige mit blutunterlaufenem Gesicht und tränenüberströmt vor Gericht. Sein Mandant sagte ihm, dass er während seiner Verhöre an Hand- und Fußgelenken aufgehängt und geschlagen worden war. F.A. hat beim Obersten Militärgericht Rechtsmittel gegen seine Verurteilung eingelegt. Die Anhörung soll am 14. August stattfinden.

Nach Angaben örtlicher Menschenrechtsorganisationen befinden sich zurzeit mindestens 40 Gefangene in Gaza im Todestrakt.

Die palästinensische Autonomiebehörde (PA) besitzt die Gerichtsbarkeit in Gaza und den Teilen des Westjordanlandes, welche die besetzten palästinensischen Gebiete umfassen und unter israelischer Besatzung stehen. Doch Gewalt und Spannungen zwischen den beiden größten palästinensischen politischen Parteien Fatah und Hamas - die Hamas gewann 2006 die Parlamentswahlen, wird aber von einigen Regierungen, wie der EU, nicht anerkannt - haben zu einer Situation geführt, in der das Westjordanland seit Juni 2007 von der von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas eingesetzten Verwaltungsregierung der palästinensischen Autonomiebehörde regiert wird und Gaza von der De-facto-Regierung der Hamas unter der Führung von Isma'il Haniyeh. Seitdem hat PA-Präsident Abbas Operationen der PA-Sicherheitskräfte und die Tätigkeit der Justizorgane in Gaza ausgesetzt und damit einen institutions- und rechtsfreien Raum geschaffen. Die Hamas reagierte darauf, indem sie einen eigenen Polizei- und Justizapparat einsetzte. Diesem fehlt es jedoch an angemessen ausgebildetem Personal, Rechenschaftsmechanismen und Schutzklauseln.

Nach palästinensischem Recht muss Palästinenserpräsident Abbas alle Todesurteile ratifizieren, bevor sie vollstreckt werden können. Doch die De-facto-Regierung der Hamas vollstreckt bereits seit 2010 Hinrichtungen auch ohne die Bewilligung des Präsidenten. Die Todesstrafe wird durch das Innenministerium der Hamas-Regierung mit der Pflicht zum Schutz der Gesellschaft und der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung gerechtfertigt. Darüber hinaus werden Personen - auf der Grundlage des revolutionären Strafgesetzbuchs der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) von 1979 - häufig durch Militärgerichte zum Tode verurteilt, deren Verfahren den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren nicht gerecht werden.

Von 2006 bis 2009 sind in Gaza keine Todesurteile vollstreckt worden. Laut NGOs vor Ort hat die De-facto-Regierung der Hamas seit 2010 jedoch bereits mindestens 16 Todesurteile vollstreckt. Acht von ihnen waren auf der Grundlage von Anklagepunkten verurteilt worden, die mit einer mutmaßlichen "Kollaboration" mit den israelischen Behörden zusammenhängen. Die jüngsten Äußerungen der Hamas-Behörden über bevorstehende Hinrichtungen scheinen sich auf Fälle von Straftaten zu beziehen. Es wird zum jetzigen Zeitpunkt nicht davon ausgegangen, dass die angekündigten Hinrichtungen auch Fälle von Kollaboration mit dem Feind einschließen. Amnesty International erkennt das Recht und die Pflicht von Regierungen an, Personen, die einer Straftat verdächtigt werden, vor Gericht zu stellen. Allerdings sind bis zum heutigen Tag keine überzeugenden Beweise dafür vorgelegt worden, dass die Todesstrafe eine abschreckendere Wirkung hätte als andere Strafen. Amnesty International wendet sich ungeachtet der Schwere eines Verbrechens vorbehaltlos gegen die Todesstrafe, da sie zwei grundlegende Menschenrechte verletzt: das Recht auf Leben und das Recht, nicht der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden. Amnesty International betrachtet die Todesstrafe als die grausamste, unmenschlichste und erniedrigendste aller Strafen.

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Quelle:
ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-214/2013, AI-Index: MDE 21/003/2013, Datum: 7. August 2013 - mr
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2013