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AKTION/713: Urgent Action - Türkei - Familien droht rechtswidrige Zwangsräumung


ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-216/2011, AI-Index: EUR 44/007/2011, Datum: 15. Juli 2011 - mf

Türkei
Familien droht rechtswidrige Zwangsräumung


FAMILIEN IN TARLABASI, zentraler Stadtteil Istanbuls Zahlreichen Familien in Tarlabasi, einem zentralen Stadtteil Istanbuls, steht eine rechtswidrige Zwangsräumung bevor. Die Stadtgemeinde Beyoglu plant die Zwangsräumung im Rahmen eines städtischen Erneuerungsprojektes. Einige Familien in diesem Stadtteil wurden schon einmal vertrieben.

Aus den Räumungsbefehle der Stadtgemeinde Beyoglu, in die Amnesty International Einsicht hatte, geht hervor, dass die rechtswidrigen Zwangsräumungen mit der Unterstützung von BeamtInnen mit Polizeibefugnissen und AnwältInnen erfolgen sollen. Die Bescheide gaben keine Auskünfte über Zeitpläne und Möglichkeiten zur rechtlichen und administrativen Anfechtung der Zwangsräumungen. Dutzende Familien in dieser Gegend sind betroffen. Einige berichten von Einschüchterungsversuchen und Drohungen seitens der Behörden. Viele BewohnerInnen schildern, dass sie vor etwa sechs Monaten Räumungsdokumente unterzeichnen mussten, ohne sie lesen zu dürfen. Ihnen wurde gedroht, dass sie im Falle einer Unterschriftsverweigerung sofort von der Polizei vertrieben würden. Es gab kein angemessenes Konsultationsverfahren mit den Betroffenen, ihnen wurden weder Alternativen zur Zwangsräumung noch entsprechende alternative Unterkünfte angeboten.

Amnesty International hat mit mehreren BewohnerInnen gesprochen, unter anderem mit Besra, einer alleinerziehenden Mutter mit einem Kind, deren Wohnung am 24. Juni zwangsgeräumt wurde, während sie ihre Mutter im Krankenhaus besuchte. NachbarInnen riefen sie an, um ihr mitzuteilen, dass BeamtInnen der Stadtverwaltung eingetroffen seien, um sie zur Räumung zu zwingen. Amnesty International berichtete sie, dass sie ihre Tür aufgebrochen vorfand, als sie heimkehrte. Sie flehte die BeamtInnen an, sie nicht aus ihrer Wohnung zu vertreiben, aber sie erwiderten, dass sie noch am selben Tag gehen müsse. Ihre Möbel und andere Habseligkeiten wurden auf die Straße geworfen, sodass sie irreparable Schäden davontrugen. Ein weiterer Bewohner, ein 60-jähriger Arbeitsloser mit einem Lungenleiden, teilte Amnesty International mit, dass er gezwungen wurde, einen Räumungsbefehl zu unterschreiben, ohne ihn gelesen zu haben. Die Polizei drohte ihm am 12. Juli mit einer Räumung, aber als NachbarInnen einschritten, gaben sie ihm bis zum 18. Juli Zeit, um die Wohnung zu verlassen. Laut Völkerrecht sollen Zwangsräumungen erst als letzte Möglichkeit angewandt werden, wenn alle Alternativen ausgeschöpft sind und es eine echte Konsultation mit den Betroffenen gegeben hat. Die Behörden sind verpflichtet, ausreichende Fristen, Rechtsmittel, angemessene Alternativunterkünfte sowie Entschädigungen zu gewährleisten. Sie müssen sicherstellen, dass infolge der Räumung niemand obdachlos oder anderweitig in seinen Menschenrechten verletzt wird. Die Behörden von Beyoglu kommen diesen Verpflichtungen nicht nach.


HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Unter einem staatlichen Programm sollen viele historische Gebäude in Beyoglu erneuert und einige abgerissen werden, um Platz für hochwertige Wohnungen zu schaffen. Das Projekt hat zur Folge, dass viele derzeit in dem Gebiet lebende Menschen vor der Zwangsräumung stehen, vor allem Transgender-Frauen, die seit Langem in der Gegend leben, aber auch andere gefährdete Gruppen wie Roma und Kurden, die in den Stadtteil zogen, nachdem sie in den 1990ern aus ihren Dörfern im Südosten der Türkei vertrieben worden waren.

Die große Mehrheit der MieterInnen sind von den niedrigen Wohnkosten in dem Stadtteil abhängig. Einige, mit denen Amnesty International sprach, hatten vor allem wegen ihres geringen Einkommens große Sorgen, dass sie eine ähnliche Unterkunft in der Gegend finden würden. Mit einigen BewohnernInnen, die HauseigentümerInnen sind, wurde ansatzweise gesprochen. Trotzdem fand kein verständlicher und angemessener Konsultationsprozess statt. Den Betroffenen wurden keine Alternativen zur Zwangsräumung angeboten, auch keine entsprechenden Alternativunterbringungen. Eine Transgender-Frau, mit der Amnesty International im Rahmen eines kürzlich veröffentlichten Berichts sprach, erklärte, dass den Menschen ohne Hauseigentum keine Alternativen zur Räumung oder zu Unterkünften angeboten wurden, dass sie weder konsultiert noch ihnen eine Entschädigung angeboten wurde. Der Bericht "Not an illness nor a crime" lesbian, gay, bisexual and transgender people in Turkey demand equality, mit dem Index EUR 44/001/2011 ist zu lesen auf
http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR44/001/2011.

Im Juni 2011 sprachen VertreterInnen von Amnesty International mit Ahmet Misbah Demircan, dem Bürgermeister von Beyoglu, und äußerten ihre Sorge über die Zwangsräumungen in Tarlabasi, vor allem im Hinblick auf die Verpflichtungen der Stadt auf der Grundlage des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

Die Türkei ist aufgrund verschiedener Menschenrechtsverträge wie dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte dazu verpflichtet, Zwangsräumungen zu vermeiden und ihnen vorzubeugen. Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat betont, dass Zwangsräumungen als letzte Möglichkeit angewandt werden sollten, wenn alle Alternativen ausgeschöpft und angemessene verfahrensrechtliche Absicherungsmaßnahmen getroffen sind. Diese schließen ein: echte Konsultationen mit den Betroffenen, eine angemessene Kündigungsfrist, adäquate Alternativunterbringungen, Entschädigung für alle Verluste, Aufklärung über den Ablauf einer Zwangsräumung, Zugang zu Rechtsbeiständen und die Möglichkeit, rechtliche Verfahren einzuleiten. Regierungen müssen sicherstellen, dass infolge einer Räumung niemand obdachlos oder anderweitig in seinen Menschenrechten verletzt wird. Diese Bestimmungen gelten für alle Zwangsräumungen, unabhängig von der Art des Wohnbesitzes, das heißt auch für informelle Siedlungen.


EMPFOHLENE AKTIONEN

SCHREIBEN SIE BITTE FAXE, E-MAILS ODER LUFTPOSTBRIEFE MIT FOLGENDEN FORDERUNGEN

- Ich fordere Sie auf, alle Zwangsräumungen einzustellen und nicht fortzufahren, bis völkerrechtliche Standards eingehalten werden.

- Sorgen Sie dafür, dass ernsthafte Konsultationen der von der Zwangsräumung betroffenen Personen stattfinden.

- Stellen Sie sicher, dass Zwangräumungen nicht ohne ausreichende Frist, Rechtsmittel, angemessene Alternativunterkünfte und Entschädigungen für Verluste stattfinden.


APPELLE AN

BÜRGERMEISTER VON BEYOGLU
Ahmet Misbah Demircan
Beyoglu Belediyesi, Sishane Meydani
Beyoglu
Istanbul, TÜRKEI
(korrekte Anrede: Dear Mr Demircan / Sehr geehrter Herr Demircan)
Fax: (0090) 212 252 1100
E-Mail: baskan@beyoglu.bel.tr

INNENMINISTER
Idris Naim Sahin
Içisleri Bakani
T.C. Içisleri Bakanligi,
Bakanliklar, Ankara, TÜRKEI
(korrekte Anrede: Dear Minister/ Sehr geehrter Herr Minister)
Fax: (0090) 312 418 1795
E-Mail: ozelkalem@icisleri.gov.tr


KOPIEN AN

MENSCHENRECHTSKOMMISSION DES PARLAMENTS
Ayhan Sefer Üstün
Türkiye Büyük Millet Meclisi
Insan Haklarini Inceleme Komisyonu
Bakanliklar
06543 Ankara, TÜRKEI
(korrekte Anrede: Dear Mr Üstün/ Sehr geehrter Herr Üstün)
Fax: (0090) 312 420 53 94

BOTSCHAFT DER REPUBLIK TÜRKEI
S. E. Herrn Ali Ahmet Acet
Rungestraße 9
10179 Berlin
Fax: 030-2759 0915
E-Mail: turkemb.berlin@mfa.gov.tr


Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Englisch, Türkisch oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 26. August 2011 keine Appelle mehr zu verschicken.


PLEASE WRITE IMMEDIATELY

- Suspend all forced evictions immediately and not to proceed until safeguards consistent with international human rights standards are in place.

- Carry out a genuine consultation with the residents facing eviction.

- Ensure that no evictions are carried out without adequate notice and remedies including adequate alternative housing and compensation for all losses.


FORTSETZUNG HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Besra ist eine 38-jährige alleinerziehende Mutter, die in einem Wohngebäude in Istanbul als Putzfrau arbeitet. Sie lebt seit elf Jahren in Tarlabasi, zuvor mit ihrem Mann, der 2007 bei einem Autounfall starb. Am 24. Juni 2011 besuchte Besra gerade ihre Mutter im Krankenhaus, als sie einen Anruf von ihren NachbarInnen in Tarlabasi bekam, die ihr mitteilten, dass BeamtInnen der Gemeindeverwaltung von Beyoglu im Begriff sind, ihr Haus zu räumen. Sie eilte in ihre Wohnung zurück und fand dort Dutzende BeamtInnen, PolizistInnen und Möbelpacker vor, die ihre Tür eingetreten hatten. Sie erklärte gegenüber Amnesty International, dass die BeamtInnen zusammen mit den PolizistInnen und den Möbelpackern ihre Wohnung leerten und alles Hab und Gut achtlos auf die Straße warfen. Sie berichtete, dass ihre Schlafzimmermöbel, für die sie noch vier Raten zahlen musste, hinausgeworfen und beschädigt wurden. Auch ihre Kleidung und die ihres Kindes wurde auf die Straße geworfen. Später fand sie heraus, dass ihre Habseligkeiten zu einer Stadtbezirkshalle gebracht worden waren. Besra erzählte, dass sie auf das Versprechen hin, dass sie ein andere Unterkunft bekommt und nicht schikaniert wird, ein Dokument unterschrieb, dass sie nicht lesen durfte. Ihr wurde eine Wohnung in Kayabasi am Stadtrand Istanbuls angeboten, die sie zunächst annahm. Als Besra ihre Bedenken darüber äußerte, ihren Lebensunterhalt so weit von der Stadt entfernt zu verdienen, sagte ihr ein Beamter, sie solle heiraten. Seit der Zwangsräumung, erzählte Besra, lebt sie mit anderen Familienmitgliedern in einer feuchten Einraumwohnung im Keller.


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Quelle:
ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-216/2011, AI-Index: EUR 44/007/2011, Datum: 15. Juli 2011 - mf
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Fax: 030/42 02 48 - 330
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2011