Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → AMNESTY INTERNATIONAL

EUROPA/210: Flüchtlinge - Ab in den Hindukusch (amnesty journal)


amnesty journal 1/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte


Ab in den Hindukusch

Die wirtschaftliche Situation in Afghanistan ist verheerend, die Sicherheitslage ebenso. Dennoch plant der Hamburger Innensenator die Abschiebung von Flüchtlingen nach Kabul.

Von Verena Harpe

Afghanistan fünf Jahre nach dem Sturz der Taliban: Im Süden und Osten herrscht offener Krieg, Selbstmordattentate häufen sich, allein im vergangenen Jahr kamen über 2.000 Menschen bei Anschlägen oder Kämpfen ums Leben, die meisten von ihnen Zivilisten. Doch während sich Verteidigungsminister Franz-Josef Jung Sorgen um die Sicherheit deutscher Soldaten am Hindukusch macht, sind sich die Innenminister der Länder einig: Abschiebungen nach Afghanistan sind zumutbar.

Die Unsicherheit unter den etwa 11.000 ausreisepflichtigen Afghanen in Deutschland ist entsprechend groß. Seit im Sommer 2005 der Abschiebestopp aufgehoben wurde, sind nicht nur alleinstehende Männer, sondern auch Ehepaare und Angehörige von Minderheiten zurückgeschickt worden. Wer von den afghanischen Flüchtlingen nicht unter die neue Bleiberechtsregelung fällt - und das betrifft viele -, soll "zeitnah" nach Afghanistan zurück, so der Hamburger Innensenator Udo Nagel. Sicherheitsbedenken hat er keine. Insbesondere Kabul hält er für sicher, von Anschlägen seien dort höchstens Ausländer betroffen.

Beobachter vor Ort zeichnen ein anderes Bild: Die Bevölkerung der afghanischen Hauptstadt ist seit 2001 extrem angewachsen, inzwischen sind mehr als vier Millionen Flüchtlinge aus den Nachbarländern Pakistan und Iran zurückgekehrt. Kabul kann diesen Zustrom nicht bewältigen, die Infrastruktur steht vor dem Kollaps. Caritas international schätzt, dass etwa eine Million Menschen ohne ausreichenden winterfesten Wohnraum ist. Viele seien mangelernährt und ohne Strom- und Trinkwasserversorgung. Es gibt kaum Arbeit. Auch von Sicherheit kann in Kabul keine Rede sein. Die Zahl der Anschläge und Selbstmordattentate steigt. Das Auswärtige Amt erklärt in seinem Lagebericht, dass es in einigen Stadtteilen häufig zu Schießereien und Gewaltverbrechen kommt. Dabei seien Rückkehrer besonders gefährdet, da man bei ihnen Geld vermutet.

Dennoch will Hamburg, wo viele Afghanen leben, jetzt auch Familien mit Kindern ins Flugzeug nach Kabul setzen. Die vierköpfige Familie Sharifzada soll unter den ersten sein. Die beiden Kinder gehen in Hamburg zur Schule, der 17-jährige Sohn steht kurz vor seinem Abschluss. Wovon sie in Kabul leben sollen, ob die Kinder eine Schule besuchen können, die Sharifzadas wissen es nicht. Die Mutter ist krank, und in Kabul existiert praktisch keine Gesundheitsversorgung. Kein Problem, sagt die Hamburger Innenbehörde, dann bekommt sie einen Medikamentenvorrat für ein Jahr. Zumindest solange ein Petitionsantrag in diesem Fall läuft, bleibt die Familie von der Abschiebung noch verschont. Doch im vergangenen November haben bereits 150 weitere Familien in Hamburg Briefe mit genauen Abschiebeterminen erhalten.

Klagen vor Verwaltungsgerichten, die sich auf die desolate Sicherheits- und Versorgungslage im Heimatland berufen, haben selten Erfolg. Eine besondere Rolle spielt dabei ein "Sachverständiger", der - von seiner Tätigkeit im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beurlaubt - einige Jahre in Kabul gearbeitet hat. Unter anderem sagte er aus, dass die Obdachlosigkeit und Kriminalität in Kabul geringer sei als in deutschen Großstädten. Auch will er einen wirtschaftlichen Aufschwung beobachtet haben. Diese Einschätzung steht im Gegensatz zu allem, was über Kabul berichtet wird.

Entgegen der Praxis deutscher Behörden und Verwaltungsgerichte lässt sich Kabul auch nicht losgelöst vom Rest Afghanistans betrachten. Ein Blick auf die Lage im gesamten Land gibt keinen Anlass zum Optimismus. Die Situation ist schlecht wie nie zuvor seit dem Sturz der Taliban vor fast sechs Jahren. Warlords und Taliban haben in weiten Landesteilen das Sagen. Schulen werden zerstört, Hilfsorganisationen haben sich aus einigen Regionen völlig zurückgezogen. Der Staat schützt seine Bevölkerung nicht, auch weil Polizei und Justiz nicht funktionieren. Vor diesem Hintergrund ist es verantwortungslos und in keiner Weise nachvollziehbar, Abschiebungen nach Afghanistan durchzuführen.

Die Autorin ist Asien-Expertin der deutschen ai-Sektion.


*


Quelle:
amnesty journal, Januar 2007, S. 17
Herausgeber: amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/98 37 30
E-Mail: info@amnesty.de
Internet: www.amnesty.de

Das amnesty journal erscheint monatlich.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
Nichtmitglieder können das amnesty journal für
30 Euro pro Jahr abonnieren.

veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Januar 2007