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EUROPA/429: Lettland - Schutzsuchende willkürlich inhaftiert, gefoltert und abgeschoben


Amnesty International - Pressemitteilung vom 13. Oktober 2022

Lettland: Schutzsuchende willkürlich inhaftiert, gefoltert und abgeschoben


In Lettland haben die Behörden Migrant*innen und Flüchtlinge - darunter auch Kinder - willkürlich an unbekannten Orten in Wäldern an der lettisch-belarussischen Grenze festgehalten und rechtswidrig nach Belarus zurückgeschoben. Dies geht aus einem neuen Bericht von Amnesty International hervor. Dabei wurden viele Schutzsuchende schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, darunter auch Folter und geheime Haft, die dem Verschwindenlassen gleichkommen könnte. Einige Flüchtlinge und Migrant*innen wurden unter Verstoß gegen das Völkerrecht dazu gezwungen, "freiwillig" in ihre Herkunftsländer zurückzukehren.

BERLIN, 12.10.2022 - Der neue Amnesty-Bericht "Latvia: Return home or never leave the woods" [1] folgt auf eine Reihe ähnlicher Berichte, in denen Amnesty International Menschenrechtsverstöße gegen Menschen auf der Flucht durch die Behörden in Belarus, Polen und Litauen dokumentiert hat.

Julia Duchrow, Stellvertreterin des Generalsekretärs von Amnesty International in Deutschland, sagt: "Lettland hat Schutzsuchenden ein grausames Ultimatum gestellt: Entweder sie stimmen einer 'freiwilligen' Rückkehr in ihr Herkunftsland zu, oder sie sitzen an der Grenze fest, wo ihnen Inhaftierung, Folter und rechtswidrige Abschiebung drohen. All dies hat nichts mit Grenzschutz zu tun und verstößt auf eklatante Weise gegen das Völkerrecht und EU-Recht."

Im August 2021 verhängte Lettland den Ausnahmezustand in der Grenzregion zu Belarus, nachdem die Zahl der dort ankommenden Menschen stark angestiegen war. Die belarussischen Behörden hatten den Menschen zuvor das falsche Versprechen gemacht, sie könnten von Belarus aus problemlos in die EU gelangen, um so im Zusammenhang mit den EU-Sanktionen gegen Belarus Druck auszuüben. Die Bestimmungen des Ausnahmezustands in Lettland sprachen Menschen in vier Grenzregionen das Recht auf Asyl ab und ermöglichten es den lettischen Behörden, diese Menschen summarisch nach Belarus zwangsabzuschieben. Dies verstößt gegen das EU-Recht, das Völkerrecht und den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung (non-refoulement). Dennoch haben die lettischen Behörden den Ausnahmezustand wiederholt verlängert, derzeit gilt er bis November 2022.

Lettische Grenzbeamt*innen haben in Zusammenarbeit mit inoffiziellen "Einsatzkommandos", der Armee und der Polizei wiederholt rechtswidrige und gewaltsame summarische Abschiebungen vorgenommen. Im Gegenzug schieben die belarussischen Behörden wiederum systematisch Menschen zurück nach Lettland.

Ein Iraker, der etwa drei Monate lang an der Grenze festsaß, sagte Amnesty International, dass er mehr als 150 Mal zurückgeschoben wurde, manchmal bis zu acht Mal pro Tag.

Während der Zeiträume zwischen diesen Pushbacks saßen die Betroffenen an der Grenze fest. Recherchen von Amnesty International haben ergeben, dass die Menschen in streng bewachten Zelten, die in abgelegenen Waldstücken aufgebaut worden sind, willkürlich festgehalten wurden. Die Behörden beschlagnahmten außerdem die Mobiltelefone der Betroffenen, um zu verhindern, dass sie mit der Außenwelt kommunizierten. Wer nicht in Zelten festgehalten wurde, musste in manchen Fällen bei winterlichen Temperaturen von bis zu -20°C im Freien ausharren.

Die Tatsache, dass Schutzsuchende an unbekannten Orten festgehalten wurden bzw. ohne Hilfe und Zugang zu Kommunikationsmöglichkeiten an der Grenze festsaßen, wo sie keine sichere Alternative dazu hatten, ständig zwischen Lettland und Belarus hin- und hergeschoben zu werden, bedeutet, dass sie einer Art der geheimen Haft ausgesetzt waren, die dem Verschwindenlassen gleichkommen könnte.

"Lettland, Litauen und Polen begehen nach wie vor schwere Menschenrechtsverstöße und rechtfertigen dies damit, dass sie einem 'Hybridangriff' durch Belarus ausgesetzt seien. Auch die belarussischen Sicherheitskräfte erpressen, misshandeln und foltern Schutzsuchende auf grausame Weise. Der nächste Winter naht und es überqueren wieder mehr Schutzsuchende die Grenze. Diese Menschen sind möglicherweise erneut Gewalt, willkürlicher Inhaftierung und anderen Menschenrechtsverstößen ausgesetzt. Die europäischen Institutionen müssen deshalb jetzt dringend handeln und dafür sorgen, dass Lettland den Ausnahmezustand beendet und das Recht auf Asyl für alle wiederherstellt, die dort Schutz suchen - ungeachtet ihrer Herkunft oder der Art ihrer Einreise. Außerdem sollten die EU und ihre Mitgliedsstaaten den Verordnungsentwurf zur Bewältigung von Situationen der Instrumentalisierung im Bereich Migration und Flucht ablehnen", fordert Duchrow.

In Lettland, Litauen und Polen nehmen Pushbacks an den Grenzen zu Belarus wieder zu. Gleichzeitig priorisiert der Rat der Europäischen Union die Annahme einer "Instrumentalisierungsverordnung". Unter dieser Verordnung könnten EU-Mitgliedstaaten, die - wie im Fall von Lettland - Situationen der "Instrumentalisierung" im Bereich Migration und Asyl ausgesetzt sind, von ihren EU-rechtlichen Verpflichtungen abweichen. Dieser Verordnungsentwurf wirkt sich unverhältnismäßig stark auf die Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen aus und riskiert die Untergrabung der einheitlichen Anwendung des EU-Asylrechts.


Link zum Amnesty-Bericht "Latvia: Return home or never leave the woods":
https://www.amnesty.de/sites/default/files/2022-10/Amnesty-Bericht-Lettland-Schutzsuchende-Inhaftierung-Folter-Abschiebungen-Oktober-2022.pdf

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Quelle:
Pressemitteilung vom 13. Oktober 2022
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin
Telefon: 030 / 420248-0, Fax: 030 / 420248-488
E-Mail: info@amnesty.de
Internet: www.amnesty.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 13. Oktober 2022

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