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FRAGEN/011: Murhabazi Namegabe - "Jeden Tag können wir Kinder retten" (ai journal)


amnesty journal 08/09/2012 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Jeden Tag können wir Kinder retten"

Interview mit Murhabazi Namegabe, Direktor des "Freiwilligenbüros für Kinder und Gesundheit" im Ost-Kongo von Daniel Kreuz



Murhabazi Namegabe setzt sich in der Demokratischen Republik Kongo für ehemalige Kindersoldaten ein. Dank seines "Freiwilligenbüros für Kinder und Gesundheit" erhielten schon Tausende die Chance auf ein neues Leben.


Frage: Wie viele Kinder haben Sie mit Ihrer Organisation bisher aus den Händen der Milizen und der Armee befreien können?

Murhabazi Namegabe: Allein in den vergangenen zwei Jahren haben wir rund 1.000 Kinder befreit und in unseren Zentren betreut. Weitere 2.000 Kinder, die freigelassen wurden, sind direkt in ihre Gemeinden zurückgegangen.

Frage: Wie viele Kindersoldaten gibt es zurzeit im Ost-Kongo?

Murhabazi Namegabe: Wir haben im Februar ein Treffen mit anderen NGOs organisiert, die sich ebenfalls für die Menschenrechte von Kindern einsetzen. Auf diesem Treffen kamen wir zu der Schätzung, dass noch ungefähr 2.600 Kinder im Einsatz sind. Dafür sind vor allem kleinere Rebellengruppen verantwortlich. Die Rekrutierungszahlen sind aber rückläufig.

Frage: Wie versuchen Sie die Milizenführer davon zu überzeugen, die Kinder gehen zu lassen?

Murhabazi Namegabe: Die Verhandlungen mit der kongolesischen Armee wurden dadurch erleichtert, dass alle Offiziere umfassend darüber informiert wurden, dass der Einsatz von Kindersoldaten verboten ist und alle Kinder gemeldet werden müssen. Seit 2009 ist die Zusammenarbeit mit der Armee sehr positiv. Wir kontaktieren die Offiziere, und sobald Kinder identifiziert wurden, werden sie im Einklang mit den nationalen Gesetzen aus der Armee entlassen. Viel schwieriger ist es bei den nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen. Sie müssen verstehen, dass Kinder Rechte haben, und dass Erwachsene entsprechend der afrikanischen Traditionen Kinder zu beschützen haben. Außerdem versuchen wir ihnen zu verdeutlichen, dass sie gegen internationales und kongolesisches Recht verstoßen und dafür verurteilt werden können, auch vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.

Frage: In den vergangenen Jahren wurden mehrere "Warlords" der internationalen Justiz übergeben, einige verurteilt. Welche Auswirkungen hat das für Sie vor Ort?

Murhabazi Namegabe: Diese positiven Entwicklungen sind Siege gegen die Straflosigkeit. Das Justizsystem im Kongo ist desolat, aber die Urteile zeigen, dass es Gerechtigkeit geben kann. Sie zeigen den "Warlords", dass sie damit rechnen müssen, bestraft zu werden. Aber es dauert noch zu lange, bis die Täter verhaftet und verurteilt werden.

Frage: Wie verläuft der Prozess der Demobilisierung?

Murhabazi Namegabe: Die Arbeit ist sehr anstrengend. Die Kinder, die wir befreien, sind zum Teil sehr gewalttätig und aggressiv. Sie haben Furchtbares erlebt - und häufig auch Furchtbares getan. Jedes befreite Kind durchläuft bei uns ein Programm: psychosoziale und medizinische Betreuung, Versorgung, Ausbildung, Suche der Angehörigen, Wiedervereinigung mit der Familie. Das alles kostet viel Geld und braucht viel Personal. Unsere Betreuerinnen und Betreuer müssen gut ausgebildet, sehr engagiert und motiviert sein. Wir haben zwei große Zentren in Bukavu in der Provinz Süd-Kivu. Eines für Mädchen und eines für Jungen. Alle Kinder passieren diese Zentren, bevor sie auf die kleineren, kommunalen Zentren aufgeteilt werden. Seit 2004 arbeiten wir mit anderen NGOs zusammen in der "Koalition für die Beendigung der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindersoldaten". Seit 2004 konnten 40.000 Kindersoldaten demobilisiert und wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden.

Frage: Kam es schon einmal vor, dass Sie Kinder bei Milizen antrafen, die schon einmal an Ihrem Programm teilgenommen hatten?

Murhabazi Namegabe: Einmal haben wir 13 Kinder in Nord-Kivu befreit. Als wir danach zu Verhandlungen mit Rebellen in Süd-Kivu gefahren sind, haben wir dieselben Kinder erneut gesehen. Sie wurden also von Milizen erneut aufgegriffen und nach Süd-Kivu verschleppt. Wir haben dort dann ein zweites Mal über ihre Freilassung verhandelt.

Frage: Werden Sie wegen Ihres Engagements bedroht?

Murhabazi Namegabe: Wir sind sehr vorsichtig bei unseren Aktionen, denn es kann sich um Fragen von Leben und Tod handeln. Die UNO-Schutztruppe Monusco sorgt für unseren Schutz. Deren Soldaten begleiten uns auch zu manchen Missionen. Es ist eine gefährliche Arbeit. In den vergangenen 15 Jahren haben wir viele Mitstreiter verloren, die von Milizen umgebracht wurden. Wir werden ständig telefonisch oder per SMS bedroht, dass man uns töten wird. In den Verhandlungen zeigen uns die Milizen häufig ihre Waffen und sagen, dass sie gleich auf uns schießen werden. Weihnachten 2011 wurde mein Vater getötet. Meine Nichte ist verschwunden. Es gibt immer Feinde der Menschenrechte, die nie unsere Freunde werden.

Frage: Sie machen Ihre Arbeit bereits seit 16 Jahren. Hätten Sie es damals für möglich gehalten, dass sie heute immer noch nötig ist?

Murhabazi Namegabe: Nein, auf keinen Fall. Aber jeden einzelnen Tag gibt es positive Überraschungen. Jeden Tag können wir Kinder retten. Jeden Tag können wir dazu beitragen, die Rechte der Kinder im Kongo durchzusetzen. Die Kinder, die wir gerettet haben, bedanken sich bei uns. Die Eltern der geretteten Kinder sagen uns, wie wichtig unsere Arbeit ist. Und auch Personen aus dem Ausland zollen uns Respekt. Ich gehe komplett in meiner Arbeit auf und bin glücklich, wenn wir Kinder befreien können. Die Kinder, die wir betreuen, sehen mich ständig. Doch ich bin kein freier Mensch mehr. Ich habe keine Familie mehr. Meine Frau und meine Tochter sehen mich kaum. Und ich habe Angst. Ich kann nachts nicht schlafen, weil ich fürchte, dass mich jemand töten will.

Frage: Wie wichtig ist Ihnen die Zusammenarbeit mit Amnesty?

Murhabazi Namegabe: Die Kooperation ist sehr wichtig und erfolgreich. Amnesty inspiriert uns mit ihrer langen Erfahrung im Kampf für die Menschenrechte und beeinflusst uns sehr. Die Organisation hilft uns, auf die Menschenrechtsverletzungen im Kongo aufmerksam zu machen. Diese Öffentlichkeit reduziert die Drohungen und hat unseren Erfolg im Kampf für die Rechte der Kinder mitermöglicht. Alle Kinder in unseren Zentren werden über Menschenrechte unterrichtet, auch dabei hat uns Amnesty geholfen. Die Unterstützung durch die Menschen in anderen Ländern, die Amnesty-Petitionen unterschreiben oder uns Karten geschickt haben, motiviert uns. Das zeigt uns, dass sich andere Menschen für uns und das Schicksal der Kinder interessieren, und dass wir nicht allein sind.

Fragen: Daniel Kreuz

Murhabazi Namegabe ist seit 1997 Direktor des "Freiwilligenbüros für Kinder und Gesundheit" (BVES) im Ost-Kongo. 300 Freiwillige arbeiten in den mehr als 40 Betreuungszentren, in denen ehemaligen Kindersoldaten und Mädchen, die als Sexsklavinnen missbraucht wurden, Therapien, Schulunterricht und Handwerkskurse angeboten werden. Amnesty International hat die Organisation jahrelang finanziell unterstützt und bietet u.a. weiterhin Fortbildungsmaßnahmen für das BVES-Personal an.

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Quelle:
amnesty journal, August/September 2012, S. 34-35
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2012