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FRAGEN/017: "Wenn Graffiti übermalt werden, ist es ein Erfolg" (ai journal)


amnesty journal 04/05/2013 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Wenn Graffiti übermalt werden, ist es ein Erfolg"

Interview mit Soraya Morayef von Ralf Rebmann



Graffiti-Künstler in Ägypten fordern mit Spraydose und Schablone die Regierung heraus. Die Bloggerin hat viele Künstler begleitet und deren Werke auf der Website "Suzee in the City" dokumentiert.


Frage: Sie leben derzeit in London. Verfolgen Sie die dortige Graffiti-Szene?

Soraya Morayef: Nein, nicht wirklich. Hier in London gibt es zahlreiche Blogs, Magazine und Bücher, die sich diesem Thema widmen. In Ägypten gab es vor zwei Jahren hingegen fast gar keine Berichterstattung über Graffiti-Kunst, vor allem nicht auf Englisch. Es wurden zwar viele Fotos von Graffiti in Blogs veröffentlicht. Aber Informationen über die Bedeutung der Bilder, die Motivation der Künstler und den politischen Kontext gab es selten. Deswegen fühle ich mich auch in gewisser Weise verpflichtet, Graffiti in Ägypten zu dokumentieren und diese Kunstform in einen Kontext einzubetten, der sich einer internationalen Zielgruppe erschließt. Mein Blog richtet sich an Menschen außerhalb Ägyptens, die wissen wollen, was sich innerhalb des Landes abspielt.

Frage: War unter Hosni Mubarak Graffiti-Kunst möglich?

Soraya Morayef: Es gab eine kleine Szene, die aber nur schwer aufzuspüren und zu fotografieren war. Graffiti tauchten nur sporadisch und an sehr entlegenen Orten auf. Manche Künstler arbeiten aber bestimmt schon seit sechs oder sieben Jahren. Unter Mubarak war alles, was mit freier Meinungsäußerung zu tun hatte, gefährlich. Sei es in der Kunst, im Film, in der Fotografie oder eben beim Anbringen von Graffiti. Die Revolution hat diesen Zustand verändert und die Menschen in ihrem Freiheitsgefühl bestärkt. Das hatte auch Konsequenzen für die Graffiti-Szene. Während der Revolution konnte man viel mehr davon in den Straßen sehen und selbst internationale Medien haben sich dafür interessiert. Für die Künstler war das eine glückliche Situation, sie erhielten Anerkennung und wurden in ihrer Arbeit bestärkt.

Frage: Welche Inhalte hatten die Graffiti?

Soraya Morayef: Die Botschaften unter Mubarak waren politisch, aber nie im Sinne von: "Das System muss gestürzt werden". Meistens wurde mit "Stencils", also Schablonen, gearbeitet. Das war der einfachste und schnellste Weg, Graffiti an die Wand zu bringen. Größere Wandbilder gab es damals kaum, höchstens an sehr entlegenen Orten. Während und nach der Revolution kam es zu einer Politisierung der Kunst. Die Botschaften waren direkter und kritischer, auch gegenüber der Militärherrschaft, die oft in den Bildern thematisiert wurde. Viele politische Aktivisten arbeiteten zudem mit den Graffiti-Künstlern zusammen und nutzten das Medium, um ihre Botschaft nach außen zu tragen: sei es die Kritik gegen die Verurteilung von Zivilisten vor Militärgerichten, verhaftete Demonstranten oder die Forderung nach grundlegenden Rechten.

Frage: Wie waren die Reaktionen der Bevölkerung und der Regierung?

Soraya Morayef: Jede Botschaft, die sich gegen das herrschende Militär richtete, war tabu. Die Gesellschaft sah in Graffiti eine Form von Vandalismus und Grenzüberschreitung. Die gewöhnliche Reaktion war deshalb Ablehnung. Interessanterweise gab es aber auch Anhänger des Militärs, die Graffiti genutzt haben, um Regimegegner als Spione und ausländische Agenten zu denunzieren. Mit dieser Aktion legitimierten sie im Prinzip eine Kunstform, die sie eigentlich ablehnten. Kritik gegenüber der Graffiti-Szene gibt es aber auch heute. Viele sind der Überzeugung, dass politische Figuren, die mit der Muslimbruderschaft in Verbindung stehen, nicht kritisiert werden dürfen. Im Allgemeinen ist die ägyptische Gesellschaft noch nicht daran gewöhnt, die eigene Meinung frei zu äußern. Graffiti fordern den Status quo heraus und überschreiten bewusst eine rote Linie, um der Gesellschaft ein anderes Bild der Realität zu zeigen.

Frage: Wie spiegelt sich Mohammed Mursis Präsidentschaft in den Graffiti wider?

Soraya Morayef: Mursi ist die Grundlage für viele humorvolle und sarkastische Bilder. Ein Bild zeigt ihn mit riesigem Kopf auf dem Körper einer Krake, deren Tentakel sich in alle Richtungen erstrecken. Solche Graffiti bleiben allerdings nur für kurze Zeit erhalten und werden dann wieder übermalt. Ein anderes Beispiel sind die großen Wandbilder der Märtyrer in der Mohamed-Mahmoud-Straße. Sie wurden im September 2012 ebenfalls übermalt. Zusätzlich schrieben Unterstützer der Muslimbruderschaft noch darüber: "Die Revolution ist eine Idee und keine Realität". Für alle Unterstützer der Revolution, die Künstler und Aktivisten, war das eine riesige Provokation, sie waren außer sich vor Wut. Diese Mauer wird als heilig betrachtet, man fasst sie nicht an. Und die Tatsache, dass die Muslimbruderschaft dafür verantwortlich war, stieß auf heftige Kritik.

Frage: Welche Rolle spielt diese Straße für die Protestbewegung?

Soraya Morayef: Viele beschreiben die Mohamed-Mahmoud-Straße als "Friedhof der Revolution", weil bei den Protesten 2012 dort so viele Menschen verwundet wurden und gestorben sind. Die Straße führt vom Tahrir-Platz direkt zum Innenministerium, deswegen waren Auseinandersetzungen dort immer sehr gewalttätig. Die Bilder der Getöteten an den Wänden haben für die gesamte Protestbewegung eine wichtige Bedeutung. Die Graffiti blieben insgesamt neun Monate erhalten, von Januar bis September 2012. Als die Wände übermalt wurden, mussten Polizeikräfte die Arbeiter vor wütenden Graffiti-Künstlern und Jugendlichen schützen. Es ist beispiellos, dass eine direkte Kritik an der Regierung so sichtbar und so lange bestehen blieb. Danach musste sich der Premierminister von der Aktion distanzieren. Er verkündete öffentlich, die Regierung habe nie offiziell die Entfernung der Graffiti angeordnet. Es war ein einmaliger Moment und zeigt, wie bedeutend Graffiti-Kunst geworden ist: Der zweithöchste Vertreter des Staats muss sich gegenüber Künstlern entschuldigen, die von offizieller Seite immer als Vandalen oder Drogenabhängige dargestellt wurden.

Frage: Ein Graffito zeigt die Konfrontation zwischen einem Soldaten und einem Graffiti-Künstler, der einen Pinsel zu seiner Verteidigung in der Hand hält. Kann man diese Kunstform als politischen Widerstand betrachten?

Soraya Morayef: Graffiti sind vermutlich die einzige Form der Meinungsfreiheit, die von Polizei und Regierung nicht vollkommen kontrolliert werden kann. Medien werden zensiert, eine Website wird gelöscht, Journalisten können in Haft kommen. Aber es ist sehr schwer, einen Künstler zu fassen, der nachts schnell ein Graffiti zeichnet und dann wieder verschwindet. Wenn es keine wirkliche Medienfreiheit gibt, können Graffiti trotzdem noch zeigen, dass es eine andere Perspektive gibt. Auch wenn manche Künstler sagen, dass sie nicht politisch sind - so gehören sie doch in gewisser Weise zum politischen Widerstand. Ein anderer Vorteil von Graffiti ist, dass kein Smartphone oder Internetzugang nötig ist, um die Botschaft aufnehmen zu können. Graffiti sprechen direkt zu den Menschen auf der Straße.

Frage: Lassen sich die Inhalte der Graffiti immer nachvollziehen?

Soraya Morayef: Die Tatsache, dass Graffiti gesehen werden und die Menschen darauf reagieren, ist der größte Beweis, dass sie eine Auswirkung haben. Die Reaktionen können positiv und negativ sein, je nach Bild und Künstler. Nur wenn jemand daran vorbeiläuft und überhaupt keine Reaktion zeigt, dann hat die visuelle Botschaft nicht funktioniert. Wenn Graffiti übermalt werden, ist es für die Künstler ein Erfolg. Zum einen beweist es, dass sie das Establishment herausgefordert haben und zum anderen erhalten sie dadurch eine neue Wand, die sie für weitere Werke nutzen können. Die Aktionen der Regierung sind für sie deshalb vielmehr ein Ansporn weiterzumachen, als damit aufzuhören.

Frage: Wie kann man die aktuelle ägyptische Graffiti-Szene beschreiben?

Soraya Morayef: Die meisten Graffiti-Künstler sind jung und männlich. Sie kommen aus Kairo, Port Said oder Alexandria. Bisher habe ich keinen getroffen, der sich hinter die Regierung stellt und diese Haltung über Graffiti kommuniziert. Das kann aber auch daran liegen, dass ich mich nur in einer bestimmten Szene bewege. Die Künstler arbeiten aus eigenem Antrieb und bezahlen die Materialien aus eigener Tasche, auch wenn sie manchmal mit politischen Parteien zusammenarbeiten. Ich würde sie als Athleten bezeichnen, die sich für eine gute Sache einsetzen. Ironischerweise wird das vor allem von ausländischen Medien wahrgenommen. Lokale Medien ignorieren die Bedeutung der Künstler immer noch weitestgehend.

Frage: Welche Rolle spielen Graffiti-Künstlerinnen?

Soraya Morayef: Es gibt sie, auch wenn sie nicht die Mehrheit der Graffiti-Künstler darstellen. Sie haben sehr viel Mut, machen ihre Weiblichkeit aber nicht zum Thema, sondern widmen sich ihrer Kunst. Jeder Künstler, egal ob weiblich oder männlich, weiß, auf welches Risiko er sich einlässt, wenn er sich nachts auf den Weg macht. Man geht deshalb immer in einer Gruppe los. Übergriffe auf Frauen während der Proteste haben gezeigt, dass für sie die Situation gefährlicher ist. Dennoch waren Frauen immer ein gleichwertiger Teil der Protestbewegung, auch wenn das in westlichen Medien manchmal anders wahrgenommen wird. Viele Aktivistinnen haben außerordentliche Arbeit geleistet und sich für Inhaftierte und deren Familien eingesetzt. Dafür haben sie bisher nicht die Anerkennung erhalten, die sie verdienen.

Frage: Was muss passieren, damit sich die Situation ändert?

Soraya Morayef: Das Gesetz muss auf unserer Seite sein. Eine Frau soll keine Angst haben müssen, wenn sie tagsüber in der Öffentlichkeit unterwegs ist. Tatsächlich kann sie jedoch belästigt werden, ohne dass ihr die Polizei hilft. In der Vergangenheit wurden Frauen, die Hilfe gesucht haben, systematisch ignoriert. In dieser Situation sind gesellschaftliche Initiativen gegen sexuelle Gewalt wie die "Tahrir Bodyguards" die einzige Möglichkeit, mehr Schutz zu bieten. In dieser Initiative arbeiten Freiwillige, die sich während der Proteste als Helfer kenntlich machen und einschreiten, wenn es zu Übergriffen kommt. Unsere Gesellschaft und unsere Kultur erkennen an, dass Frauen Schutz brauchen. Unsere Regierung und die Sicherheitskräfte haben dies in den vergangenen zwei Jahren jedoch ignoriert und Frauen bei Protesten attackiert. Ihr Ziel haben sie damit erreicht: Frauen haben jetzt mehr Angst, sich an Demonstrationen zu beteiligen, weil sie fürchten müssen, angegriffen zu werden.

Ab April zeigt Amnesty bundesweit an zahlreichen Orten eine Ausstellung über Graffiti-Kunst in Kairo.

Weitere Informationen unter:
www.amnesty.de/aegypten

Mehr Graffiti aus Kairo finden Sie in unserer iPad-App:
www.amnesty.de/app


Soraya Morayef ist Autorin und Bloggerin aus Kairo. In ihrem Blog suzeeinthecity.wordpress.com berichtet sie schon seit Beginn der politischen Umbrüche über die ägyptische Graffiti-Szene. Seit kurzem studiert sie am King's College in London den Masterstudiengang "Creative and Cultural Industries".

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Quelle:
amnesty journal, April/Mai 2013, S. 32-34
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2013