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FRAGEN/022: Tomás González - "Der größte Feind des Menschen ist der Mensch" (ai journal)


amnesty journal 02/03/2014 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Der größte Feind des Menschen ist der Mensch"

Die Fragen stellte Ramin M. Nowzad



Sie suchen ein besseres Leben und finden die Hölle auf Erden: Hunderttausende Lateinamerikaner versuchen jedes Jahr, illegal in die USA zu gelangen. Doch auf ihrem Weg durch Mexiko werden viele Opfer des organisierten Verbrechens. Der Franziskanermönch Tomás González leitet eine Herberge für Flüchtlinge und gerät dabei selbst ins Visier krimineller Banden.


Frage: Der Weg der Flüchtlinge durch Mexiko in die USA gilt als "gefährlichste Route der Welt". Warum?

Tomás González: Unsere Migrantenherberge "La 72" liegt im Süden Mexikos, nahe der Grenze zu Guatemala. Hier ist schon die Natur eine riesige Gefahr: Die Flüchtlinge müssen den Dschungel durchqueren. Das ist ungemein strapaziös. Es herrschen häufig Temperaturen von mehr als vierzig Grad im Schatten. Außerdem gibt es jede Menge giftige Tiere: Spinnen, Schlangen und Skorpione.

Frage: Ist die Natur der größte Feind der Migranten?

Tomás González: Nein. Der größte Feind des Menschen ist der Mensch. Die Migranten werden auf ihrer Reise durch Mexiko beschimpft, bedroht, ausgeraubt und vergewaltigt. Zudem werden Tausende entführt - jedes Jahr verschwinden rund 20.000 Menschen spurlos. Kriminelle Banden verschleppen die Migranten, um Lösegeld von deren Familien in der Heimat zu erpressen. Manche Flüchtlinge werden aber auch verschleppt, um für die Drogenkartelle Sklavenarbeit zu verrichten, andere werden gezwungen, sich zu prostituieren. Die Migranten sind für das organisierte Verbrechen ein lukratives Geschäft. Wer sich nicht fügt, dem drohen Folter und Tod.

Frage: Sie versuchen, den Migranten zu helfen. Bringen Sie sich damit nicht selbst in Gefahr?

Tomás González: Ja, natürlich! Seit wir vor drei Jahren die Flüchtlingsherberge "La 72" ins Leben gerufen haben, werden wir bedroht - und zwar permanent. In unserer Herberge können die Migranten für ein paar Tage zu Ruhe kommen, ihre Verletzungen behandeln lassen und mit ihren Verwandten telefonieren. Die katholische Kirche betreibt sechzig solcher Herbergen im ganzen Land. Sie sind für die Flüchtlinge die einzigen sicheren Orte auf ihrer Reise durch Mexiko. Dem organisierten Verbrechen ist das natürlich ein Dorn im Auge. Deswegen versucht man, uns einzuschüchtern. Wir werden ständig mit dem Tode bedroht. In manchen Fällen wissen wir sogar genau, wer hinter den Morddrohungen steckt.

Frage: Warum schreitet die Polizei nicht ein?

Tomás González: Mexiko ist fest im Würgegriff der Korruption. Polizisten und Richter werden vom organisierten Verbrechen geschmiert, manche Beamte sind sogar selbst in schwerste Verbrechen verstrickt. Obwohl wir seit Jahren bedroht werden, haben die Behörden kein einziges Verfahren eingeleitet. Wir haben mehrmals Anzeige erstattet, doch die Polizei geht den Hinweisen nicht nach.

Frage: Ihre Herberge hat einen ungewöhnlichen Namen: "Die 72". Warum?

Tomás González: Der Name ist in der Tat sehr ungewöhnlich. Eigentlich werden Herbergen in Mexiko nach katholischen Heiligen benannt. Wir haben uns für die Zahl "72" entschieden, weil wir damit an eine der vielen Tragödien unseres Landes erinnern wollen: Im Sommer 2010 wurden in einer Ranch in San Fernando die Leichen von 72 Migranten aufgefunden. Sie waren von ihren Entführern hingerichtet worden, weil sie sich geweigert hatten, als Drogenkuriere zu arbeiten. Dass unsere Herberge nun "La 72" heißt, ist auch ein Signal an das organisierte Verbrechen: Wir lassen uns von eurer Gewalt nicht einschüchtern!

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Quelle:
amnesty journal, Februar/März 2014, S. 13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2014