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GRUNDSÄTZLICHES/249: Rechtsextreme Gewalt in Deutschland (ai journal)


amnesty journal 6/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Verstehen bedeutet nicht Verständnis"

Ein Gespräch mit dem Autor und Regisseur Andres Veiel über Jugendliche und rechtsextreme Gewalt


Potzlow in der Uckermark, sechzig Kilometer nordöstlich von Berlin. In der Nacht zum 13. Juli 2002 wird der 16-jährige Marinus Schöberl von Sebastian Fink (17) und den Brüdern Marco (23) und Marcel Schönfeld (17) grausam misshandelt. Sie zwingen ihn, große Mengen Alkohol zu trinken und beschimpfen ihn als Juden. Marcel Schönfeld bringt den Jungen schließlich nach dem Vorbild des "Bordsteinkicks" aus dem Film "American History X" um. Nach der Tat vergraben sie die Leiche in einer Jauchegrube. Obwohl es Zeugen und Mitwisser gab, blieb die Tat monatelang unentdeckt. Andres Veiel ist Dokumentarfilmer, Theaterregisseur und Autor. Er drehte u.a. den Dokumentarfilm "Black Box BRD" (2001). Mit Gesine Schmidt schrieb er das Dokumentarstück "Der Kick" über den Mord in Potzlow. Das Stück wurde 2005 in Basel und Berlin uraufgeführt und später verfilmt. Im Februar erschien sein Buch "Der Kick - ein Lehrstück der Gewalt".

FRAGE: Ihr Buch über den Mord in Potzlow trägt den Untertitel "Ein Lehrstück über Gewalt". Welche Lehren haben Sie gezogen?

ANDRES VEIEL: Diese Gewalttat erzeugt zunächst eine überwältigende Fassungslosigkeit. Einfache Erklärungen wie Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Nachwendeerfahrungen sind dann schnell bei der Hand. Aber die Tat lässt sich nicht mit ein paar Stereotypen erklären. Die Antworten sind komplizierter und widersprüchlicher: In der Gruppe entwickelte sich eine eigene Dynamik, in der sich die Beteiligten gegenseitig übertreffen wollten: Wer verträgt am meisten? Wer hat in der Gruppe das Sagen? Wer geht besonders brutal vor? Hinzu kommt der Einfluss medialer Vorbilder - in diesem Fall ist der tödliche Sprung, der so genannte "Bordsteinkick", dem Film "American History X" entlehnt, der die Lebensgeschichte eines US-amerikanischen Neonazis beschreibt. Die Botschaft des Films ist dabei irrelevant. Entscheidend ist, wie eine Szene ästhetisiert wird. Die dritte Ebene ist die Allgegenwärtigkeit von Gewalt, die in Potzlow eine lange Vorgeschichte aufweist.

FRAGE: Warum traf es Marinus?

ANDRES VEIEL: Der Bürgermeister von Potzlow meinte, Marinus sei am falschen Tag am falschen Ort gewesen, es hätte also jeden treffen können. Das glaube ich nicht. Marinus wurde zum Opfer, gerade weil er so viele Gemeinsamkeiten mit seinen Peinigern hatte. Die Täter haben in gewisser Weise auf ihr Spiegelbild eingeschlagen. Marinus war ein Außenseiter wie sie. Die Familien der Täter wie des Opfers sind nicht im Dorf aufgewachsen, sondern zugezogen. Ihre Kinder waren von Anfang an isoliert und wurden von den anderen Dorfjugendlichen misshandelt.

FRAGE: Woher kommt das Bedürfnis nach exzessiver Gewalt?

ANDRES VEIEL: Ausschlaggebend sind Erfahrungen der Demütigung: Alle drei Täter hatten einen Sprachfehler, besuchten die Sonderschule, erhielten keine Anerkennung. Einer der Haupttäter, Marco S., hat sich bereits mit zwölf Jahren der rechtsextremen Szene angeschlossen. Sicherlich nicht aus politischer Überzeugung, sondern weil er Beistand gesucht hat - bei den Konflikten in der Schule und seinen Eltern. Sein Einstieg in diese Szene war zunächst ein Versuch, Macht und Bestätigung zu erhalten. Daraus entwickelte sich in der Gruppenaktion ein Machtrausch über Leben und Tod.

FRAGE: Erklärt das auch die Stigmatisierung von Marinus als Jude?

ANDRES VEIEL: Zunächst wurde Marinus gedemütigt, weil er keinen Alkohol vertrug. Anschließend haben die Täter eine Verhörsituation konstruiert: Marinus hätte seine Haare blond gefärbt, um seine jüdische Herkunft zu verbergen. Sie mussten ihr chauvinistisches Überlegenheitsgefühl legitimieren und dafür benutzten sie Versatzstücke rechtsextremer Ideologie, die sie in ihrem Umfeld aufgeschnappt haben.

FRAGE: Der Haupttäter hat auch im Prozess keine Reue gezeigt.

ANDRES VEIEL: Marco wurde zunächst von seinen Mithäftlingen, von denen etwa 70 bis 80 Prozent ein rechtsextremes Weltbild pflegen, wegen seiner Tat gefeiert. Erst nach und nach entwickelte er Distanz zu seinen Handlungen. Die Tat anzuerkennen und sich ihr zu stellen, ist ein langer therapeutischer Prozess.

FRAGE: Ist das nicht etwas sehr viel Verständnis?

ANDRES VEIEL: Sicherlich gibt es Momente, wo ich sehr emphatisch bin. Verstehen bedeutet aber nicht Verständnis, ich will die Täter keinesfalls zu Opfern der Verhältnisse machen. Die erschreckende Frage ist: Wieso hatten die Täter keine Sekunde Mitleid mit dem Menschen, den sie stundenlang gequält haben? Als wir mit ihnen sprachen, entdeckten wir bei ihnen aber auch Charme und Menschlichkeit - da fragt man sich, wie passt das zusammen?

FRAGE: War es Zufall, dass sich der Mord in Potzlow ereignete?

ANDRES VEIEL: Nach der Wende tauchte in Potzlow ein Investor auf, der alte Ländereien seiner Familie aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wieder zurückkaufen wollte. Er hatte Kontakt mit einigen Personen im Dorf, die früher angeblich für die Stasi gearbeitet hatten. Einige Bewohner wollten verkaufen, andere nicht. Viele wurden unter Druck gesetzt. Sprüche wie "Wir zünden euch die Scheune an" sollen gefallen sein. Ein Riss ging durch das Dorf, ohne dass darüber gesprochen wurde. In dieser Situation geschah der Mord. Der Druck wurde an Zugezogenen wie Marinus ausgelassen. Sie kamen wie der Investor von außen, aber man konnte sich an ihnen einfacher rächen, weil sie hilflos waren. Das erklärt den Mord nicht, aber die Rahmenbedingungen.

FRAGE: Im Prozess erklärten die Eltern, sie hätten ihre Kinder gut erzogen.

ANDRES VEIEL: Sie haben ihnen aber keine Grenzen gesetzt. Als Marco mit Glatze, Springerstiefeln und Bomberjacke auftauchte, hat niemand etwas gesagt. Auch in der Schule nicht. Die Lehrer wussten ebenso wenig wie die Eltern, wie sie auf den Rechtsextremismus reagieren sollten. Zwischen Schule und Eltern gab es keine Kommunikation.

FRAGE: Welchen Einfluss haben die rechtsextremen Organisationen vor Ort?

ANDRES VEIEL: Nachdem die rechtsextreme Kameradschaft "Märkischer Heimatschutz" verboten wurde, verlagerte sich die Szene in die straff organisierten NPD-Strukturen. Die Partei bietet Sozialberatung an und betreibt Jugendarbeit, die bis in die Vereine hinein reicht. Dadurch entsteht bei den Jugendlichen der Eindruck, dass sich jemand um sie kümmert. Zumal die staatlich geförderte Jugendarbeit immer mehr eingeschränkt wird.

FRAGE: Haben Sie noch Kontakt zu den Tätern?

ANDRES VEIEL: Ich fahre nach wie vor nach Potzlow. Ich besuche auch die Täter. Sie haben mir Dinge erzählt, die sie nicht einmal ihren Freunden anvertraut haben. Da kann ich nicht einfach sagen, vielen Dank für die Informationen, aber das war es jetzt.

FRAGE: Was für Reaktionen hat Ihre Arbeit in Potzlow ausgelöst?

ANDRES VEIEL: Im Dorf sagen einige, das Gerede muss jetzt aufhören. Aber andere wollen weitermachen. Es gibt den Vorschlag, eine Geschichtswerkstatt aufzubauen, um sich mit den Ereignissen in Potzlow auseinandersetzen. Ich finde, das ist ein sehr guter Vorschlag.

Interview: Anton Landgraf


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Berlin-Friedrichshain, S-Bahnhof Ostkreuz, 25. Mai 2006: Ein Jugendlicher wird von einer Gruppe von zwölf Neonazis angegriffen und mit einer Eisenkette im Gesicht verletzt. Drei der Täter werden festgenommen.

18. Februar 2006: Ein Paar wird aus nicht erkennbaren Gründen von sieben Neonazis attackiert. Einer der Angreifer schießt mit einer Gaspistole. Als die Angreifer am Ostkreuz ein weiteres Mal angreifen wollen, können sie durch Passanten daran gehindert werden. Das Sicherheitspersonal greift nicht ein. Die Angreifer entkommen. Die Polizei kommt zu spät.

3. Februar 2006: Eine Gruppe Frauen wird von acht Neonazis am Ostkreuz beschimpft und bespuckt.


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Quelle:
amnesty journal, Juni 2007, S. 16-17
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2007