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GRUNDSÄTZLICHES/325: Alles, was geht (ai journal)


amnesty journal 10/11/2015 - Das Magazin für die Menschenrechte

Alles, was geht
Überall in Deutschland setzen sich Menschen für Flüchtlinge ein und leisten Außerordentliches. Auch dort, wo sie mit Widrigkeiten und Anfeindungen zu kämpfen haben.

von Andreas Koob


Sie duzen sich untereinander und loten aus, was sie gemeinsam mit Flüchtlingen verändern können. Überall in Deutschland engagieren sich Menschen vor der eigenen Haustür und bestimmen damit, was im ganzen Land passiert. Den Meinungsmachern, die von einem drohenden Stimmungsumschwung in Anbetracht steigender Flüchtlingszahlen sprechen, beweisen die Engagierten täglich das Gegenteil. Der Rassismus ist damit nicht aus der Welt, aber ihm bleibt weit weniger Raum. Solange die Freiwilligen aktiv bleiben, geschieht selbst an Orten, wo Hass und staatliches Versagen nicht zu übersehen sind, verblüffend viel Gutes.


Berlin-Moabit: Was Ehrenamtliche leisten, wenn die Behörden versagen

Moro schreibt seinen Namen auf ein Stück Paketband, das er auf sein buntes Hemd klebt. Es ist sein erster Tag als Helfer, hier auf dem weitflächigen Gelände des Landesamts für Gesundheit und Soziales in Berlin-Moabit. Ohne Umschweife geht es los: Er betreut mit fünf anderen Helferinnen und Helfern die Ausgabe der gespendeten Kindersachen, die »Moabit Hilft« gesammelt hat.

Nur ein dünner Faden sperrt den Zugang zum Areal der Kleiderausgabe ab, das einem winzigen Flohmarkt gleicht: Kinderkleidung liegt nach Größe sortiert auf hohen Stapeln, daneben stehen Kinderwagen und Buggys. Nur drei bis vier Flüchtlinge dürfen auf einmal rein, um dann selbst aussuchen zu können.

So wie Moro kommen unzählige Menschen hierhin, um mitzumachen - manche täglich, manche an ihren arbeitsfreien Tagen, einige schon seit mehreren Wochen, andere zum ersten Mal. »Moabit hilft« leistet Beachtliches: Ehrenamtliche organisieren und verteilen Essen und Getränke, übersetzen und betreuen Kinder. Auch eine medizinische Versorgung gibt es für die zum Teil verletzten und traumatisierten Flüchtlinge.

Völlig erschöpft warten sie vor der zentralen Erstaufnahmestelle, stunden-, manchmal auch tagelang, erst auf ihre Wartenummer, dann auf ihre Registrierung, bevor sie einer Berliner Flüchtlingsunterkunft zugeteilt werden. Für die vielen hundert Menschen, die das weitläufige Areal jeden Tag und bei jedem Wetter füllen, ist dieser Zustand eine wahnsinnige Geduldsprobe. Die meisten von ihnen tragen kaum etwas bei sich.

»Für jedes Kind gibt es ein Paar Schuhe, ein Oberteil, eine Hose. Mehr nicht, damit es für alle reicht«, erklärt Moro immer wieder, abwechselnd auf Arabisch, Französisch, Englisch und Deutsch, wenn er die Leute in den Bereich mit den Spenden lässt. Er ermahnt jene, die mehr wollen, genauso wie jene, die sich zu wenig nehmen. Das macht er unaufdringlich und zugleich so bestimmt, dass er sich nicht wiederholen muss.

Für ihn sei es logisch, hier zu helfen, sagt Moro, der Anfang der neunziger Jahre selbst als Flüchtling nach Deutschland kam. »Das war, als Amadeu Antonio Kiowa in Eberswalde totgeprügelt wurde«, sagt Moro, der auch selbst rassistische Gewalt erlebte. »Damals gab es Essens- und Kleidermarken, aber nicht die Hilfe, die es heute gibt: Das macht einen deutlichen Unterschied.«

Spenden zu verteilen, ist nur eine der vielen Aufgaben der Freiwilligen. Über Wochen hinweg koordinierten und organisierten Ehrenamtliche alles, was Flüchtlinge hier an Unterstützung bekamen. Mit Spenden und Hilfsbereitschaft arbeiteten sie gegen einen Zustand an, den die Initiative als »unterlassene Hilfeleistung in katastrophalem Ausmaß« bezeichnet. Mitten in Berlin werde fundamental gegen Menschenrechte verstoßen.

»Amtlich scheint alles völlig unorganisiert, die Helfenden hingegen sind erstaunlich organisiert«, sagt Moro in einer kurzen Pause am frühen Nachmittag. Plötzlich schallen Sprechchöre über das Gelände. Gut sechzig Flüchtlinge protestieren dagegen, dass heute keine weiteren Wartenummern ausgegeben werden. Die Anspannung, die aus dem Warten entsteht, entlädt sich. Einer der Männer, der eben noch skandiert hat, wird jetzt von zwei Polizisten verfolgt. »Ich schwör dir, du kriegst Pfeffer«, droht ein Polizist, der mit dem Mann rangelt und ihm Pfefferspray vor das Gesicht hält. Der Mann zieht sich zurück, er wird morgen wiederkommen müssen. Dann werden auch die Helferinnen und Helfer wieder da sein. Ab 8 Uhr, wenn es neue Wartenummern gibt und es an so wenig wie möglich fehlen wird, solange Moabit hilft.


Freital: Was trotz Rassisten vor der Tür noch möglich ist

Auf dem grünen Gartentisch steht eine üppig gefüllte Schale mit Lammfleisch und Couscous. Ali(*) und Ole greifen zu. Sie sitzen hinter der Freitaler Flüchtlingsunterkunft, deren hintere Fassade zum Garten hin der Hausfront gleicht, vor der sich wochenlang rassistischer Protest formierte.

Bäume spenden Schatten. Zehn Leute sitzen im Stuhlkreis mit Ali und Ole, teils sind es Flüchtlinge, teils Unterstützende. Sie plauschen und planen. Heute ist Zeit zum Austausch, morgen folgt eine Aktion: Sie wollen ein bisher ungenutztes Zimmer zum Aufenthaltsraum für Kinder und Familien umgestalten. Auch sonst gibt es Sport, Begleitung zu Behörden oder Sprachkurse. Es ist eine Arbeit, wie sie viele Engagierte auch andernorts leisten, die sich hier in Freital aber in einem besonders menschenfeindlichen Umfeld behaupten muss.

Seit dem Frühjahr häufen sich die Übergriffe auf Flüchtlinge. Ende Juni erschien auch Pegida-Initiator Lutz Bachmann vor dem umfunktionierten Hotel. Immer mehr Rechte und Rassisten waren präsent. Die ersten Leute, denen der hagere Ali in Freital begegnete, gehörten jenem Mob an. Er war schockiert darüber, wie sie ihn den Hass spüren ließen. Zehn Tage lang ging der syrische Anwalt nicht vor die Tür. »Ich bin nach wie vor sehr vorsichtig, mit wem ich hier rede«, sagt Ali, der sich bei seiner Flucht vier Mal ins Schlauchboot gesetzt hatte, bis er es endlich nach Europa schaffte.

Auch die Menschen, die die Flüchtlinge unterstützten, wurden mehr und mehr zur Zielscheibe von Gewalt: Rechte drängten etwa ein Auto der Helfenden von der Straße, um es mit einem Baseballschläger zu demolieren. Auch Ole hat nicht vergessen, wie sie herumpöbelten, als er begann, hier mitzumachen. Es hat den Dresdner aber nicht abgehalten, sich zu engagieren. Er begleitet die Leute ins Krankenhaus, wenn die Sozialarbeiter wie so oft nicht aufzufinden sind, und schickt auch noch das zwanzigste Fax, wenn es Probleme mit offiziellen Dokumenten gibt. »Der Staat muss in diese Aufgaben hineinwachsen, das kann er nicht nur Freiwilligen überlassen«, meint Ole.

Wenn Zeit bleibt, machen er und Ali auch Ausflüge. So waren sie vor der Dresdner Zeltstadt, als der rechte Mob statt in Freital dort tobte, und sprachen mit den Flüchtlingen. Zuletzt fuhren sie zu den Asylsuchenden in Heidenau, als sich bei einem Willkommensfest viele erstmals nach den rassistischen Randalen wieder ins Freie begaben. Angepöbelt wurden Ali und Ole auch dort, aber das kennen die beiden inzwischen.


Nauen: Wie es nach dem Brandschlag auf die geplante Unterkunft weitergehen kann

Es hat gebrannt in Nauen. Um 6 Uhr las Nico die Nachricht auf Facebook. Da war die Turnhalle, in der die Flüchtlinge ab der kommenden Woche provisorisch unterkommen sollten, schon abgebrannt. Jetzt, zwölf Stunden später, steht er in einer Menschentraube von mehr als 400 Leuten, die zu einer spontanen Mahnwache gekommen sind. An diesem Abend erkennt man viele der in der Willkommensinitiative Engagierten an ihren knallorangenen Warnwesten.

Die Kleinstadt ist jetzt Teil einer erschreckenden Chronik: 45 Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte haben Pro Asyl und die Amadeu Antonio Stiftung bis Anfang September gezählt. Im gesamten Vorjahr waren es 36. Die ersten Ermittlungsergebnisse in Nauen deuten auf eine detailliert geplante Tat hin. So manche im Ort erinnert die Tat an eine Serie von Brandanschlägen, die rechte Jugendliche zwischen 2003 und 2004 in Nauen und Umgebung auf türkische und vietnamesische Restaurants verübten.

Schon als die Stadtverordnetenversammlung im Februar zur lokalen Flüchtlingsunterbringung tagte, hatten Rechte die Sitzung mit Parolen unterbrochen. Das Parteibüro der Linken war zuletzt wiederholt attackiert worden und auch Nico wurde jüngst auf rechten Webseiten bedroht. Trotzdem standen die Engagierten in den Startlöchern. Deutschkurse, Patenschaften, Unternehmungen waren angedacht. »Das alles sollte losgehen, sobald die rund 120 Menschen da sind«, sagt Nico. Wann und wo die Asylsuchenden nun in Nauen unterkommen, ist auch zwei Wochen nach dem Brandanschlag noch völlig unklar. Nur dass mehr Menschen sie unterstützen wollen, scheint sicher. Bei einem ersten Treffen der Aktiven wird es eng im Raum.


Eisenhüttenstadt: Wie die eigene Heimerfahrung zum Mittel für Veränderung wird

Schnurstracks schreitet Bethi über das Gelände der Erstaufnahme für Flüchtlinge in Eisenhüttenstadt. Kurz darauf sitzt sie einer Gruppe von Frauen gegenüber und fragt: »Habt ihr Angst vor Übergriffen, wenn ihr nachts auf die Toilette geht?« Ohne Umschweife wirft sie Fragen wie diese in die Runde, was die Frauen zunächst verblüfft. Der Raum füllt sich, inzwischen sitzen elf Bewohnerinnen in dem kleinen Zimmer des Wohncontainers, dicht an dicht auf den sechs Betten, die fast lückenlos aneinandergereiht die eine Hälfte des Zimmers füllen.

Bethi gründete im Jahr 2002 mit anderen Aktivistinnen die Initiative »Women in Exile«, um auf die besonders schutzlose Situation von Frauen in Unterkünften aufmerksam zu machen. Bethi hat ihr großes schwarzes Notizbuch auf dem Schoß liegen und den Stift im Anschlag. Aber auf ihre ersten Fragen bekommt sie keine Antworten. Vom Flur hallt grelles Kindergeschrei herüber. Unbeirrt fragt Bethi weiter: »Könnt ihr nachts gut schlafen?« Es folgt Kopfschütteln und plötzlich ist das Gespräch in vollem Gange. Die Frauen berichten ihr von rassistischen Anwohnerinnen und Anwohnern, von wochenlangen Stromausfällen und fehlenden Rückzugsräumen. Jetzt füllt sie die Seiten in ihrem dicken Notizbuch.

»Wir versuchen diese unwürdigen Bedingungen politisch zu artikulieren«, sagt Bethi. »Women in Exile« agiere auf einer anderen Ebene als die Willkommensinitiativen. »Aber wir ergänzen uns sehr gut: Wir versuchen die Lage grundsätzlich zu verändern «, während die Mehrheit der Initiativen konkrete Abhilfe schaffe und das Allernötigste tue. Bethi hat selbst sieben Jahre mit ihren beiden Kindern in einem Heim in Prenzlau gelebt. An diese Zeit denkt sie nur ungern zurück. Trotzdem verbringt sie in den Unterkünften Berlins und Brandenburgs erneut viel Zeit und vernetzt sich mit geflüchteten Frauen. Jeden Mittwoch besuchte sie in den vergangenen Monaten eine andere Unterkunft.

Dass sich die Situation für Flüchtlinge derzeit wieder verschärft, erfüllt sie mit Sorge. Zwar erhielten die meisten Flüchtlinge statt Gutscheinen und Sachleistungen inzwischen endlich Bargeld, aber kaum sei das umgesetzt, stelle es die Politik schon wieder infrage. Auch die Trennung zwischen schutzbedürftigen und nicht schutzbedürftigen Flüchtlingen führe »nicht nur zu Rassismus vor den Unterkünften, sondern auch in den Unterkünften, wo die hohe Aus- und Überlastung ohnehin Probleme mit sich bringt«.

Gemeinsam mit den Frauen schaut sich Bethi auch in den anderen Gebäuden der weitläufigen Erstaufnahme um. Mit der Kamera in der Hand steht sie auf den glitschig dreckigen Fliesen einer Herrentoilette, die auch Frauen und Mädchen nutzen müssen, seit ihr Sanitärbereich wegen eines Defekts vor drei Wochen geschlossen wurde. Auch zum Duschen müssen sie zu den Männern ausweichen, ohne dass es irgendeinen Sichtschutz oder Türen gibt. Bethis Kamera verschwindet wieder im Rucksack. Die Situation im Bad wird bald wohl nicht mehr nur den Bewohnerinnen Probleme bereiten, sondern auch den Verantwortlichen.



(*) Name von der Redaktion geändert.

Der Autor ist Volontär des Amnesty Journals.

Sie wollen selbst aktiv werden? Hier finden Sie Tipps sowie Kontakte zu Gruppen vor Ort:
www.proasyl.de/mitmachen

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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2015, S. 21-23
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Februar 2016

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