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AKTION/211: Offener Brief an Ministerpräsident Erdogan - "Haß und Abneigung" gegen Kurden und Christen?


Presseerklärung vom 29. März 2010

OFFENER BRIEF
an den Ministerpräsidenten der Republik Türkei
Recep Tayyip Erdogan

Erdogan: "Hass und Abneigung" gegen Kurden und Christen?


Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

am Vortag des Besuches von Bundeskanzlerin Merkel in der Türkei, sprachen Sie davon, dass Sie "diesen Hass und diese Abneigung gegen die Türkei nicht verstehen". Wir können Ihnen jedoch versichern, dass eine große Mehrheit in Deutschland eine solche "Abneigung" nicht teilt.

Unsere Menschenrechtsorganisation richtet hingegen heute die Frage an Sie: Wir verstehen Ihren Hass und Ihre Abneigung gegen Ihre 15 Millionen kurdischen Staatsbürger und die nur noch 120.000 christlichen Einwohner Ihres Landes nicht. Wir erinnern daran, dass in der Türkei:

1. kurdische Schulen, Bücher, Vereine und Parteien verboten sind.

2. sich acht gewählte Bürgermeister in Haft befinden, weil sie u.a. ihre Wähler auf Kurdisch angesprochen haben.

3. Kurdinnen und Kurden in Polizeiwachen und Gefängnissen gefoltert werden.

4. noch immer 4.835 kurdische politische Gefangene in Haftanstalten einsitzen.

5. die Suche, Exhumierung und Aufklärung des Schicksals von 17.000 kurdischen Verschwundenen behindert wird. Unter diesen Ermordeten sind auch namhafte Schriftsteller, Politiker und Menschenrechtlern.

6. der Wiederaufbau von 3.876 kurdischen Dörfern während des türkisch-kurdischen Krieges noch immer nicht begonnen wurde

7. und somit den über zwei Millionen aus diesen Dörfern Vertriebenen bis heute keine Chance auf Rückkehr gegeben wurde.

8. die Morde an christlichen Geistlichen (2004, 2006, 2007) nicht gesühnt wurden.

9. die Enteignung christlicher Kirchen nicht rückgängig gemacht wurde.

10. der Bau christlicher Kirchen bis heute behindert wird.

11. geraubte christliche und yezidische Ländereien nicht zurückgegeben wurden.

12. die Einschränkung der Glaubensfreiheit von Christen und Yeziden nicht aufgehoben wurde.

13. den Aleviten bis heute der Bau ihrer Gotteshäuser offiziell verboten wird.

14. Leugnung des Völkermordes an Armeniern und Assyro-Aramäern 1915/16 fortgesetzt wird.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, bitte haben Sie Verständnis, dass nicht nur Ihre kurdischen, christlichen, yezidischen und alevitischen Mitbürger, sondern auch Menschenrechtler innerhalb der Türkei und weltweit diese Politik von Regierung, Justiz und Militär Ihres Landes kritisieren. In diesem Sinne darf ich Ihnen vorschlagen, sich über die Lage der Minderheiten bei dem international renommierten türkischen Soziologen Ismail Besikci zu informieren. Dieser musste 19 Jahre in türkischen Gefängnissen verbringen, nur weil er einige der von uns benannten Menschenrechtsverletzungen immer wieder beim Namen genannt hat. Gern stellen wir für Sie den Kontakt mit ihm her.

Mit freundlichen Grüßen,

Tilman Zülch, Präsident


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Quelle:
Presseerklärung Göttingen, den 29. März 2010
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen,
Tel.: 0551/49906-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. März 2010