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ASIEN/353: Kirgisistan - Weltsicherheitsrat soll für Schutz von Zivilisten sorgen


Presseerklärung vom 24. Juni 2010

Bündnis von Menschenrechtsorganisationen fordert von Weltsicherheitsrat Schutz der Zivilbevölkerung in Kirgisistan


Vor dem Hintergrund der schrecklichen Pogrome an der usbekischen Bevölkerung im Süden Kirgisistans haben eine Reihe internationaler Menschenrechtsorganisationen den Weltsicherheitsrat in einem offenen Brief dazu aufgefordert, sich seiner Verantwortung für den Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten zu stellen. Die Unterzeichner des Briefes - unter ihnen die International Crisis Group, Human Rights Watch und die Gesellschaft für bedrohte Völker International (Society for threatened Peoples International) - gehen davon aus, dass es sich bei den Verbrechen in der Region Osch und Dschalalabad um "ethnische Säuberungen" handelt. Bisher sollen nach verschiedenen Informationen etwa 2000 Menschen ums Leben gekommen sein. Mindestens 100.000 konnten ins benachbarte Usbekistan fliehen, mindestens 300.000 sind nach Angaben der Hilfsorganisation UNICEF zu internen Flüchtlingen geworden. Andere Berichte schätzen, dass bis zu einer Million Menschen von Zerstörung, Vertreibung oder Flucht betroffen oder bedroht sind.

Auf derartige Verbrechen muss die internationale Gemeinschaft zeitnah und entschieden reagieren. Denn die UN-Mitgliedsstaaten haben in der Resolution 1674 des Weltsicherheitsrates über den Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten und in der Resolution A/RES/63/308 der UN-Generalversammlung nicht nur ihre Verantwortung für den Schutz der eigenen Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberung anerkannt. Sie haben darüber hinaus darin auch die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft unterstrichen, Staaten bei der Einhaltung dieses Versprechens zu unterstützen.

Die Unterzeichner des Briefes appellierten außerdem an den Weltsicherheitsrat, gemäß Artikel VI und VII der UN-Charta in Kooperation mit den relevanten regionalen Organisationen sofort Maßnahmen zu ergreifen, um der Gewalt Einhalt zu gebieten und international Frieden und Sicherheit zu erhalten. Im äußersten Falle sehen diese Artikel auch Maßnahmen vor, die bedrohte Bevölkerung zu retten und den Frieden mit militärischen Mitteln entweder zu Luft, zu Wasser oder zu Land wiederherzustellen.

Ein Mitglied der GfbV übersandte uns folgenden Bericht aus Kirgisistan (er kann auf russisch angefordert werden):

"Wir befinden uns inmitten eines Krieges (Kirgisien, Stadt Osh). Hier passiert gerade etwas Furchtbares, Unvorstellbares!!! Das Erschreckende ist, daß in den Massenmedien nicht einmal ein Zehntel dessen wiedergegeben wird, was hier vor sich geht. Eine "Ethnische Säuberung", wenn man so will. Ganze Stadtteile mit von Usbeken bewohnten Häusern sind bis aufs Letzte abgebrannt, Menschen werden in ganzen Familien inklusive Frauen und Kinder niedergemetzelt. Draußen sind ganze Berge von Leichen und Verletzten, denen niemand Hilfe leistet. Ganze "Armeen" junger Menschen kirgisischer Herkunft wüten in aufgebrachtem und oft nicht nüchternem Zustand bewaffnet durch die Stadt; sie töten und verbrennen alles, was ihnen in den Weg kommt.

Das ganze wird von der Politik unterstützt. Der innenpolitische Konflikt ist lange gereift, sodaß jemand jetzt auf sehr listige Weise davon Gebrauch machen konnte. Es scheint, als ob gerade deswegen die Staatsoberhäupter stillsitzen und darüber schweigen, was hier passiert. Mein Eindruck ist, daß das Weggucken unserer Regierung irgendwie durchdacht, geplant ist.

Sergey (mein Schwiegervater) ging heute morgen auf hohes Risiko und zu unser aller Schrecken aus dem Haus, um Lebensmittel zu holen. Auf der Straße lag ein verletzter, sterbender alter Mann. Sergey wollte ihm helfen und drehte ihn auf den Rücken um. In dem Augenblick kam eine Gruppe von Jugendlichen angerannt und begann, den Alten mit Füßen zu treten. Einer von ihnen schrie: "Das ist doch ein Kirgise!"; ein anderer entgegnete: "Nein, er ist Usbeke! Komm, wir zünden ihn an!" Als Sergey in Hilflosigkeit wegging, lag der Alte bereits tot und in Flammen auf der Straße.

Von offizieller Seite her wurde gesagt, man solle alle Gewalttaten und Chaos verhindern, aber daran hält sich hier niemand. Das Zugucken geht weiter! Helikopter fliegen herum und Autos fahren mit Blaulicht durch die Gegend, aber das alles passiert nur zum Schein - es gibt keinerlei aktive Hilfe von Seiten der Polizei oder offizieller Organisationen.

Letzte Nacht hat eine Kämpfergruppierung ein Militärgelände, nicht weit von unserem Haus, eingenommen. Dort gibt es Waffen, Helikopter und vieles mehr. Sie haben schon davor eine riesige Menge an Waffen gehabt (wir fragen uns woher die ganzen "einfachen Leute", die gegeneinander kämpfen solche Schusswaffen bekommen konnten?), und jetzt werden es immer mehr, und dazu noch schweres Kriegsgerät.

Für uns hier bedeutet das Ganze, daß wir nicht mehr an Lebensmittel kommen, vielen droht schon jetzt reale Hungersnot, denn die Reserven gehen zuende. Es wird uns verkündet, daß es Hilfslieferungen gibt mit Essen, Wasser und Medikamenten, aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Brot ist gerade geliefert worden, aber seltsamerweise bekommen die Russen davon nichts ab. Wir wollen kein Brot! Wir wollen Leben!!! Warum wird in den russischen Nachrichten gesagt, daß sich der Zustand hier stabilisiert hat, obwohl hier alles immer schlimmer wird? Es gibt nur eine Antwort - jemand möchte nicht, daß die Welt davon erfährt. Oder sie tun einfach nur so, als würden sie es nicht bemerken.

Mein Ziel ist es, diese Nachricht so weit wie möglich zu verbreiten - daß so viele wie möglich weltweit von der Situation hier erfahren. Wir fürchten, alleine gelassen zu werden mit unserem Leid!!! Die Tatsache, daß der kleine Anteil an hier lebenden Russen bisher verschont wurde, ist wohl nur eine Frage der Zeit. Die wütende Bevölkerung hat Blut gerochen, den Kampf angesagt und gesehen, daß sie ungestraft davon kommen würden. Wir haben hier Todesangst! Jeden Tag wissen wir nicht, ob wir ihn noch überleben werden. Bitte, gebt diese Nachricht an alle Möglichen Seiten weiter, stellt sie in die Nachrichten und Foren!!! Bitte lasst uns nicht alleine!!! Dies ist ein ernsthafter Hilfeschrei!!!"

Zum Wortlaut des Briefes führt ein Link auf
www.gfbv.de


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Quelle:
Presseerklärung Göttingen/New York, den 24. Juni 2010
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen,
Tel.: 0551/49906-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2010