Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → BEDROHTE VÖLKER

EUROPA/488: Karadzic-Prozeß - Überlebende des Völkermords in Bosnien demonstrieren vor UN-Tribunal


Presseerklärung vom 26. Oktober 2009

Karadzic-Prozess: Überlebende des Völkermords in Bosnien demonstrieren vor UN-Tribunal in Den Haag

GfbV fordert: Teilung Bosniens rückgängig machen!


Gemeinsam mit überlebenden Opfern des Völkermordes in Bosnien demonstriert die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) zu Beginn des Prozesses gegen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher und ehemaligen Präsidenten der Republika Srpska, Radovan Karadzic, am Montag vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Die etwa 150 Srebrenica-Mütter und Delegierte von Opferverbänden, die direkt aus Bosnien-Herzegowina angereist sind, erwarten von dem Prozess, dass der Gerechtigkeit endlich Genüge getan wird. Die GfbV hofft, dass dadurch die Wiedervereinigung des geteilten Bosniens einen Schritt vorankommt.

"Der Westen muss die in Dayton festgeschriebene und von Karadzic herbeigeführte unmenschliche Teilung Bosnien-Herzegowinas als Folge des Genozids rückgängig machen", fordert Tilman Zülch, Präsident der GfbV International. Nachdem sowohl der "Internationale Strafgerichtshof" (IStGH) als auch das "Internationale Strafgericht für das ehemalige Jugoslawien" (ICTY) (beide in Den Haag) Armee und Polizei der Republika Srpska für den Völkermord in Bosnien-Herzegowina verantwortlich gemacht haben, steht mit Radovan Karadzic nun einer der drei Hauptkriegsverbrecher wegen des gleichen Verbrechens vor Gericht.

Die GfbV bedauert, dass die Vereinigten Staaten und die europäische Staatengemeinschaft, insbesondere Deutschland, Frankreich und Großbritannien, mit dem Dayton-Abkommen (1995) die von Karadzic, Milosevic und Mladic eroberte und von Nichtserben ethnisch gesäuberte sog. Republika Srpska anerkannt und somit die Rückkehr von 60 % ihrer Bevölkerung und die Wiedervereinigung des im Krieg verwüsteten und zerstörten Bosniens unmöglich gemacht haben. Unter schwierigsten Bedingungen haben nur 6 % der Vertriebenen die Rückkehr gewagt.

Statt in Dayton die Einheit Bosnien-Herzegowinas mit seiner 500-jährigen multireligiösen Tradition wiederherzustellen, wurden die Verantwortlichen für Krieg und Völkermord belohnt. In der quasi unabhängigen bosnischen Teilrepublik Srpska dominieren bis heute in Behörden, Polizei, privatisierten Firmen, Justiz und Regierung hunderte von Personen, die führend an den Kriegsverbrechen beteiligt und für Massenvertreibung und Flucht der nicht-serbischen Bevölkerung, Massenvergewaltigungen, die Errichtung von Konzentrations-, Internierungs- und Vergewaltigungslagern, zahlreiche Massaker - unter vielen anderen auch in Srebrenica - sowie die Aushungerung und Bombardierung von sechs UN-Schutzzonen verantwortlich waren.


Die GfbV fordert:

a) die beiden Teilstaaten, die Republika Srpska und die "Bosnisch-kroatische Föderation", aufzulösen und durch ein rationales System von Regionen nach ökonomischen, historischen und geographischen Prinzipien zu ersetzen.

b) das Wahlgesetz so zu ändern, dass die Bürger Bosnien-Herzegowinas nicht länger gezwungen werden, nur Repräsentanten ihrer eigenen ethnischen Gruppe zu wählen.

c) die Teilung der Stadt Sarajevo aufzuheben.

d) Hunderte von mutmaßlichen Kriegsverbrechern sind noch im Amt. Sie müssen aus dem Justizwesen, der Polizei und Regierungsorganen entfernt und vor Gericht gestellt werden. Außerdem muss die Festnahme von Serbenführer Ratko Mladic und seine Auslieferung an das Tribunal in Den Haag durch Serbien durchgesetzt werden.

e) ein neues Rückkehrprogramm aufzulegen, das allen Flüchtlingen und Vertriebenen ermöglicht, wieder in ihren Heimatorten zu leben.

f) die Aufnahme der Republik Bosnien-Herzegowina in die EU schnell voranzutreiben und ihre Bürger schon jetzt in die geplante Visaliberalisierung einzubeziehen.

g) die Regierung Serbiens endlich zur Auslieferung des dritten mutmaßlichen Hauptkriegsverbrecher Ratko Mladic zu zwingen


*


Anlage zur Pressemitteilung der Gesellschaft für bedrohte Völker International vom 26. Oktober 2009

Die GfbV fordert: Der Westen muss das Versagen von Dayton eingestehen und die 1995 herbeigeführte unmenschliche Teilung Bosnien-Herzegowinas als Folge des Genozids rückgängig machen

Nachstehend einige Fakten zum Genozid in Bosnien-Herzegowina:

1. Errichtung von über hundert Konzentrations-, Internierungs- und Vergewaltigungslagern mit über 200 000 zivilen Häftlingen

2. Ermordung von vielen Tausend Häftlingen in Konzentrationslagern wie Omarska, Manja?a, Keraterm, Trnopolje, Luka Brcko, Susica und Foca

3. Systematische Verhaftung und Ermordung von Angehörigen der akademischen und politischen Eliten.

4. Flucht und Vertreibung von etwa 2,2 Millionen Bosniern und ihre Zerstreuung über vier Erdteile

5. Viele Tausend, von keiner Institution gezählte und nicht in die Statistiken eingegangene Todesopfer unter Kindern, Alten, Kranken und Verwundeten während Flucht und Vertreibung und deren Folgen

6. Einkesselung, Aushungerung, Beschießung und teilweise Liquidierung von 500.000 Bosniern, in so genannten UN-Schutzzonen bis zu vier Jahre (Tuzla, Gorazde, Srebrenica, Zepa, Cerska und Bihac).

7. Fast vierjähriges Bombardement der Stadt Sarajevo mit etwa 11.000 Toten, darunter 1.500 Kinder.

8. Massaker und Massenerschießungen in zahlreichen Gemeinden und Städten Nord-, West- und Ostbosniens (Posavina, Raum Prijedor und Podrinje).

9. Planmäßige Zerstörung Hunderter Dörfer und Stadtteile.

10. Totale Zerstörung der materiellen islamischen und weitgehend auch der katholischen Kultur, darunter 1 189 Moscheen und Medresen und bis zu 500 katholische Kirchen und Gemeindehäuser

11. Suche nach immer noch etwa 15.000 Vermissten und deren notwendige Exhumierung und Identifizierung.

12. Geiselnahme und Missbrauch von 284 UN-Soldaten als menschliche Schutzschilde

13. Vergewaltigung von mehr als 20.000 bosnisch-muslimischen Frauen in und außerhalb der Vergewaltigungslager

14. Ermordung von 8 376 Männern und Knaben der Stadt Srebrenica und deren Verscharrung in Massengräbern


*


Quelle:
Presseerklärung Göttingen, Den Haag/Göttingen, 26. Oktober 2009
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen,
Tel.: 0551/49906-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2009