Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → BEDROHTE VÖLKER

EUROPA/508: Deutsch-Kosovarisches Rückübernahmeabkommen unterzeichnet


Presseerklärung vom 15. April 2010

Deutsch-Kosovarisches Rückübernahmeabkommen unterzeichnet

Geplante Zwangsabschiebungen sind Rückfall in die schlimmste Zeit der "Zigeuner"verfolgung!


Scharfe Kritik hat die Unterzeichnung des deutsch-kosovarischen Rückübernahmeabkommens bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hervorgerufen. Der GfbV-Bundesvorsitzende Tilman Zülch bezeichnete die Entscheidung der Bundesregierung, die in Deutschland lebenden 10.500 Roma-Flüchtlinge aus dem Kosovo abzuschieben, als "gezielten Schlag gegen diese Opfergruppe des Holocaust", der sich an dem "weit verbreiteten Antiziganismus in der Öffentlichkeit orientiert". Zülch dazu wörtlich:

"Mit der geplanten Zwangsabschiebung von 10.500 Roma-Flüchtlingen in den Kosovo, unter ihnen weit über 3000 Kinder, fallen die Innenminister des Bundes und der Länder in die schlimmsten Zeiten der "Zigeuner"verfolgung nach Kriegsende zurück. Diese gnadenlose Politik orientiert sich an dem weit verbreiteten Antiziganismus in der deutschen und europäischen Bevölkerung und ist ein gezielter Schlag gegen diese Opfergruppe des Holocaust. 35 Jahre lang - bis 1979/80 - waren "Zigeuner" in Deutschland immer wieder Freiwild für Behörden und Polizei. Bundesfamilienministerien, sowohl unter Führung der CDU als auch der SPD, ließen sich damals von rassebiologisch orientierten Wissenschaftlern beraten. So nutzten sogar die Behörden sozialdemokratisch bzw. christdemokratisch regierter Millionenstädte wie Hamburg und München weiter die nationalsozialistischen "Zigeuner"akten zu Angelegenheiten dieser NS-verfolgten Minderheit.

Unmittelbar nach der NATO-Intervention 1999 im Kosovo habe ich das Versagen der Soldaten und Sicherheitskräfte aus westlichen Ländern vor Ort erlebt, als 70 von 75 Siedlungen und Stadtteile von albanischen Extremisten zerstört oder niedergebrannt wurden. Dies war das schlimmste Zigeuner-Pogrom seit 1945. Die Angehörigen dieser Minderheit wurden angegriffen, misshandelt, gefoltert, vergewaltigt, entführt oder getötet. Etwa 120.000 der 150.000 Roma flüchteten aus dem Land. Zurückgebliebene wurden vielfach in mit Stacheldraht umgebene Lager gepfercht, die dennoch nachts bedroht oder sogar angegriffen wurden. Die NATO-Truppen haben die bedrohte Roma-Bevölkerung nicht geschützt, obwohl sie kurz zuvor die Rückkehr von einer Million albanischer Flüchtlinge durchsetzen konnten. Für dieses Versagen trägt auch die Regierung Schröder/Fischer Mitverantwortung.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker stellt fest:

Die in Deutschland geborenen oder aufgewachsenen und jetzt von der Zwangsabschiebung bedrohten Flüchtlingskinder sprechen Deutsch als Muttersprache, oft mit regionalem Akzent. Für ihre Integration haben sich Lehrer, Sozialarbeiter, Geistliche, christliche Gemeinden, Flüchtlingsräte, Menschenrechtler sowie viele andere Bürger engagiert und für ihre Eingliederung materiell und ideell unendlich viel geleistet.

Deutsche Gesetze haben den Roma-Flüchtlingen aus dem Kosovo nicht einmal eine mittelfristige Lebensplanung zugestanden. Sie erhielten weder Arbeit noch durften ihre Kinder eine Ausbildung antreten. Geistig oder körperlich benachteiligte Kinder wurden nicht einmal in Behindertenwerkstätten aufgenommen.

Es war diesen Schutzsuchenden untersagt, ihren jeweiligen Landkreis zu verlassen. Die erzwungene Untätigkeit - oft über viele Jahre - trieb viele in Depression und Hoffnungslosigkeit. So ist ein Teufelskreis entstanden. Von den neuen Bleiberechtsregelungen können nur wenige profitieren.

Entgegen den Lageberichten des Auswärtigen Amtes ist die Situation der Roma-Minderheit im Kosovo laut Menschenrechtsorganisationen, aber auch nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, des Europarats und der OSZE erschreckend: Menschenrechtsverletzungen an Roma sind häufig, werden aber nicht angezeigt. Die Arbeitslosigkeit der Roma erreicht fast 100 %. Gesetzlich vorgeschriebene Beschäftigungsquoten für Minderheitenangehörige werden missachtet. Die Ernährung der meisten Roma-Kinder ist völlig unzureichend. Für schulische Bildung wird nicht ausreichend gesorgt. Eine angemessene medizinische Versorgung ist auch für Rückkehrer unerschwinglich. Alte und Schwerkranke befinden sich in einer hoffnungslosen Situation. Die Sterbequote ist außerordentlich hoch.

Angesichts dieser unerträglichen Situation und eingedenk der Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma durch das NS-Regime fordern wir die Bundesregierung und die Bundesländer auf, eine Kontingentlösung für die rund 10.500 Roma-Flüchtlinge aus dem Kosovo durchzusetzen und so ein Zeichen des guten Willens für diese existenziell bedrohte Minderheit zu setzen. In diesem Zusammenhang erinnern wir an vorbildliche Lösungen für andere Gemeinschaften wie die 200.000 Juden und die zwei Millionen Russlanddeutschen aus den GUS-Staaten und in den letzten Monaten an die Aufnahme von 2.500 vornehmlich Religionsflüchtlinge aus dem Irak.

Fast 35 Jahre hat es gedauert, bis die fortdauernde und unbeachtet gebliebene Unterdrückung und Verfolgung der Sinti und Roma in Westdeutschland von der GfbV 1979 bis Mitte der 1980-er Jahre bekannt gemacht, die Wiedereinbürgerung von Tausenden Sinti-Überlebenden aus Ostpreußen und Schlesien durchgesetzt, Bundeskanzler Schmidt und Bundespräsident Carstens zur Anerkennung dieses Teils des Holocaust bewegt und eine erste Rentenwiedergutmachung erwirkt worden war. Diese Initiativen wurden von Persönlichkeiten wie Simon Wiesenthal, Indira Gandhi und Simone Veil unterstützt. In diesem Zusammenhang wurde auch der Zentralrat deutscher Sinti und Roma gegründet."


*


Quelle:
Presseerklärung Göttingen/Berlin, den 15.04.2010
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen,
Tel.: 0551/49906-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2010