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EUROPA/515: Protest vor französischer Botschaft - Stopp Sarkozy! Roma legalisieren - nicht deportieren!


Presseerklärung vom 6. September 2010

Protest vor der französischen Botschaft in Berlin

Stopp Sarkozy! Roma in Frankreich legalisieren - nicht deportieren!


Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) protestiert am Montag in Berlin mit einer Mahnwache vor der französischen Botschaft gegen die skandalöse Abschiebepraxis der Regierung Frankreichs, der Roma aus Rumänien und Bulgarien ausgesetzt sind. "Stopp Sarkozy! Roma in Frankreich legalisieren - nicht deportieren!" heißt es auf dem Transparent der Menschenrechtsorganisation. Anlässlich eines Treffens internationaler Regierungsvertreter, u.a. Deutschlands, Großbritanniens, der USA, Kanadas und der belgischen EU-Ratspräsidentschaft zum Thema Asyl und illegale Einwanderung ebenfalls am Montag in Paris hatten Roma-Verbände aus Rumänen europaweit zu Protesten aufgerufen.

"Mit der planmäßigen Zwangsräumung von Roma-Lagern und der kollektiven Zwangsabschiebung der Minderheitenangehörigen zieht Nicolas Sarkozy die Verdienste seines Amtsvorgängers Jacques Chirac in den Schmutz", kritisiert der Präsident der GfbV International, Tilman Zülch. Chirac hatte 1995 Frankreichs Mitverantwortung für die kollektive Deportation und Vernichtung tausender im Lande lebender Juden 1942 eingestanden und von "gemeinsamer" und "unauslöschlicher Schuld" gesprochen. "Wir erinnern daran, dass auch Sinti und Roma dem Holocaust zum Opfer fielen und fordern Sarkozy dazu auf, staatsmännisch zu handeln und für das Wohlergehen der Angehörigen dieser Volksgruppe in seinem Land und den EU-Ländern zu sorgen", mahnt Zülch. Für die GfbV International übergab er der französischen Botschaft während der Aktion einen Appell an Sarkozy.

Ende Juli 2010 hatte Sarkozy angekündigt, die Hälfte der etwa 600 illegalen Roma-Lager in Frankreich innerhalb von drei Monaten räumen zu lassen. Die Lager wurden dabei als potenzielle Brutstätten von Menschenhandel und Prostitution bezeichnet. "Diese Begründung für das rigorose Vorgehen der Behörden gegen die Roma ist eine pauschale Vorverurteilung einer ganzen Volksgruppe", sagt Zülch. "Es stünde Sarkozy gut zu Gesicht, gerade in Sachen Sinti und Roma die Initiative zu ergreifen für eine verantwortungsvolle gesamteuropäische Menschenrechts- und Minderheitenpolitik." Seit Anfang 2010 sind bereits bis zu 9.000 der rund 15.000 ausländischen Roma aus Frankreich abgeschoben worden oder "freiwillig" in ihre Länder zurückgereist.


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Es folgt der GfbV-Appell an Nicolas Sarkozy im Wortlaut

Appell an den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy gegen die Roma-"Deportationen" in Frankreich

überreicht am 06.09.2010 an die Gesandte Caroline Ferrari in der Botschaft der Französischen Republik Frankreich (Wilhelmstr. 69, Berlin, um 10:30 Uhr) durch den Präsidenten der Gesellschaft für bedrohte Völker International, Tilman Zülch


Göttingen/Berlin, 06.09.2010


Herr Präsident, bitte beenden Sie dieses Unrecht!

Sehr geehrter Herr Präsident,

mit der planmäßigen Zwangsräumung von über 50 Behelfssiedlungen der Roma aus Rumänien und Bulgarien und deren kollektiver "Deportation" in ihre Heimat wenden Sie sich gegen eine extrem unterprivilegierte europäische Volksgruppe.

Große Teile der "farbigen" Minderheit der Roma in Ost- und Südosteuropa werden bis heute stigmatisiert, unterdrückt, verfolgt und ausgebeutet. Einige wenige tausend von ihnen waren nach Frankreich emigriert, wie auch hunderttausende andere Ost- und Südeuropäer. Indem Sie, verehrter Präsident, jetzt diese Aggression ausgerechnet gegen die auch im Dritten Reich schrecklich verfolgte Menschengruppe lenken, appellieren Sie an die niedrigsten Instinkte von Teilen Ihrer Wählerschaft.

Die damalige Präsidentin des europäischen Parlaments, Simone Veil, kam am 27. Oktober 1979 aufgrund der Einladung unserer Menschenrechtsorganisation nach Bergen-Belsen, um anlässlich der Gedenkkundgebung zu Ehren der 500.000 Roma-Opfer des Holocaust in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers zu sprechen. An diesem Ort hatte die europäische jüdische Präsidentin ihre Mutter verloren. "Juden und Roma...", so waren damals die Worte von Simone Veil, "...haben dort getrennt gelitten und sind dort getrennt gestorben". Und sie fügte hinzu: "Wenigstens jetzt sollten wir gemeinsam gegen Diskriminierung und neue Verfolgungen kämpfen".

Ihr Vorgänger im Amt, Präsident Jacque Chirac, hatte 1995 Frankreichs Mitverantwortung für die kollektive Deportation und Vernichtung zehntausender in Frankreich lebender Juden eingestanden und von "gemeinsamer und unauslöschlicher Schuld" gesprochen. "Der kriminelle Wahn der Besatzer wurde von Franzosen unterstützt, vom französischen Staat", so die Worte dieses großen Mannes. Eine Reihe von Journalisten und Autoren Ihres Landes hatten bereits in den 60er und 70er Jahren darauf hingewiesen, dass auch die Zigeuner Opfer des Holocausts waren.

Anlässlich der Konferenz internationaler Regierungsvertreter, unter anderem Deutschlands, Großbritanniens, der USA, Kanadas und der belgischen EU-Ratspräsidentschaft zum Thema Asyl und Immigration, appellieren wir an Sie, nicht länger parteipolitische Interessen auf dem Rücken dieser in vielen Teilen Europas diskriminierten Volksgruppe auszutragen.

Wir bitten Sie darum, verehrter Herr Präsident, alle Chancen zu nutzen, um zukünftig gemeinsam mit den 26 anderen EU-Ländern überzeugende und den Problemen angemessene Programme für diese größte europäische Minderheit durchzusetzen. Es ist ein Armutszeugnis der EU-Menschenrechtspolitik, wenn in den gesellschaftlichen Kernbereichen Bildung, Arbeit, Wohnung und Gesundheit die Ziele der "Decade of Roma Inclusion" kaum konsequent umgesetzt wurden.

Dazu gehören etwa: die Auflösung der "Rassentrennung" in Schulen, die Bekämpfung der Diskriminierung im Arbeitsleben, die Initiierung von Infrastrukturprojekten in Roma-Siedlungen und Angebote menschenwürdiger Unterkünfte und angemessener medizinischer Versorgung.

Es hat uns bewegt, dass Außenminister Bernard Kouchner, einst ein großer Menschenrechtler, überlegt haben soll, ob er nicht angesichts dieser radikalen Ausweisungspolitik seines Präsidenten zurücktreten sollte. Mit großem Interesse und großer Sympathie haben wir die vielen Stellung

nahmen von Gewerkschaften, Oppositionsparteien, zahlreichen Intellektuellen und Verbänden Frankreichs gegen diese Abschiebungen verfolgt. Auch die entschiedene Aussage des Papstes sollte zur Revision dieser "Roma-Politik" führen. Auch Institutionen der EU, der UN und des Europarates haben diese Ihre kollektiven Abschiebungen deutlich kritisiert.

In diesem Sinne bitten wir Sie dringend, dieses Unrecht zu beenden und die "Deportationen" einzustellen. Auch Minderheiten können sich emanzipieren und Stück für Stück mit Unterstützung der Mehrheitsgesellschaften Gleichberechtigung erlangen, wie die farbige Bevölkerung der Vereinigten Staaten, deren Situation vor Martin Luther King durchaus mit der der gegenwärtigen europäischen Roma zu vergleichen ist.

Mit freundlichen Grüßen
gez. Tilman Zülch
Präsident der GfbV-International


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Quelle:
Presseerklärung Göttingen, den 6. September 2010
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen,
Tel.: 0551/49906-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2010