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FRAGEN/008: Protestbewegungen weltweit - Ursachen, Gemeinsamkeiten, Zukunft (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012

Gespräch mit Dieter Rucht "Sie wollen gehört und ernst genommen werden"
Protestbewegungen weltweit - Ursachen, Gemeinsamkeiten, Zukunft

Die Fragen stellte Thomas Meyer


Der Soziologe Dieter Rucht war Ko-Leiter der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und gilt als führender Experte der Bewegungsforschung. 2010 gab er mit Stefaan Walgrave heraus: "The World Says No to War. Demonstrations Against the War on Iraq (Social Movements, Protest and Contention)".


NG/FH: Aktuell erleben wir Protestbewegungen weltweit - in Israel, im Maghreb, in New York, Madrid usw. Gibt es da tiefere Gemeinsamkeiten, so dass man von einem ähnlichen oder sogar demselben Impuls sprechen könnte? Handelt es sich dabei um Aufstände der Zivilgesellschaft gegen die politischen Systeme oder sind solche Ähnlichkeiten eher zu oberflächlich?

DIETER RUCHT: Es gibt sicherlich vordergründige Gemeinsamkeiten, auch eine explizite Bezugnahme aufeinander. So haben sich etwa die Berliner und die Frankfurter Occupy-Aktivisten auf die New Yorker Proteste bezogen, die New Yorker haben sich wiederum auf die spanischen bezogen - auf die in Madrid und Barcelona - und diese wiederum auf Ägypten. Es gibt auch gemeinsame Stich- oder Schlagworte wie Transparenz, Demokratie, neue Formen der Kommunikation.

Gleichwohl würde ich sagen, dass dies zunächst ziemlich oberflächliche Verbindungslinien sind. Wenn man genau hinsieht, dann haben die einzelnen Bewegungen doch zum Teil unterschiedliche Belange mit unterschiedlichem Tiefgang. In Ägypten beispielweise ging es primär um den Sturz eines Regimes. Dort müssen erst einmal demokratische Grundrechte installiert werden.

In New York ist das nicht das Thema. Zwar werden am Rande auch gewisse Rechtsverletzungen durch Polizeiübergriffe beklagt, aber es geht nicht um die Schaffung von demokratischen Strukturen, sondern um die Ausgestaltung derselben. In Spanien wiederum steht das Problem der hohen Jugendarbeitslosigkeit von ca. 45% ganz im Vordergrund.

Wenn man sich nun die Occupy-Leute in Berlin anschaut, dann muss man feststellen, dass sie vor allem mit sich selbst beschäftigt sind. Denen geht es nämlich im ersten Schritt vorrangig darum, das miteinander Kommunizieren zu erlernen. Wenn man dort nach politischen Forderungen fragt, lautet die Antwort: Wir haben noch gar keine, jedenfalls im Moment. Wir müssen uns erst einmal finden, wir müssen lernen, zuzuhören, demokratisch zu kommunizieren, und dann werden wir vielleicht auch zu Forderungen kommen.

NG/FH: Der chinesische Denker Wang Hui, der als Kopf der Neuen Linken in China gilt, vertritt die These, dass es weltweit, unabhängig sogar von den Systemen, einen Bruch des Repräsentativen gibt. Die Menschen, die Gesellschaften fühlen sich nicht mehr in den politischen Systemen repräsentiert. Würden Sie das als eine Diagnose akzeptieren? Läuft es auf eine Ähnlichkeit der gegenwärtigen Protestbewegung in aller Welt mit dieser Stoßrichtung hinaus?

RUCHT: Da ist etwas dran, aber es erscheint mir dennoch überzogen, wenn man es so generell formuliert. Denn aus der Sicht z.B. der oppositionellen Bewegungen oder Parteien, auch Gewerkschaften, in autoritär, gar diktatorisch regierten Ländern, steht die Frage von Defiziten des liberal-repräsentativen Systems gar nicht an, weil viele Gruppen völlig ausgegrenzt sind. Sie wären im Grunde schon froh, wenn sie diese sogenannte formale Demokratie mit ihrem ganzen institutionellen Gefüge hätten.

NG/FH: Aber jetzt wollen die eben repräsentiert werden, oder?

RUCHT: Richtig. Sie kämpfen jetzt z.B. nicht explizit für direkte Demokratie, sondern sie wären dankbar, wenn sie das erreichen würden, was in anderen Ländern bereits verwirklicht ist, aber dort als unzureichend kritisiert wird.

NG/FH: Sie sagen, dass es gewisse Ansteckungs- oder Nachahmungseffekte gab, dass man gesehen hat, was anderswo abläuft, und dann diesen Impuls aufgegriffen hat. Wäre das nicht ein Zusammenhang? Dass es trotz vieler unterschiedlicher Ausformungen, wahrscheinlich auch Ursachen, auch so etwas wie Hauptursachen gibt, die in bestimmten Variationen in all diesen beschriebenen Ländern auftauchen? Besteht die Vorstellung dieser Leute darin, auch wenn es nicht immer artikuliert wird, sich Zugang zu politischen Entscheidungen zu verschaffen?

RUCHT: Ja, das kann man auf diesen Nenner bringen. Das gilt dann gleichermaßen für diejenigen, die als oppositionelle Gruppen ausgegrenzt sind oder mit Repressionen überzogen werden, aber unter dieser Generalüberschrift sicherlich auch für diejenigen in Berlin oder in New York, die das Gefühl haben, im Grunde in der politischen Debatte nicht ernsthaft vorzukommen, oder nur als Statisten. Aber wir alle wollen als konkrete Menschen, mit unseren Forderungen, bezogen auf unsere Lebenslagen, ernst genommen werden. Und das ist z.B. auch ein Thema in Stuttgart. Die Gegner von S21 haben nicht nur beklagt, dass es Probleme mit dem Bahnhof gibt, dass dieser zu teuer wird, dass da Bäume gefällt werden oder dass das Grundwassermanagement problematisch sein mag, sondern sie haben auch - in unserer Befragung kam das sehr deutlich zum Tragen - gesagt: Der Umgang mit uns ist nicht akzeptabel. Wir wollen gehört werden, wir wollen ernst genommen werden. Sie wollen auf gleicher Augenhöhe mit den Politikern kommunizieren. Und das ist nicht der Fall.

NG/FH: Also handelt es sich um eine Art Aufstand der
Zivilgesellschaft?

RUCHT: Durchaus, ja. Auch mit dem Drang, ernst genommen zu werden. Aber es ist nicht nur eine "Haltung", die man jetzt mal einnimmt; das geht weiter und tiefer. Die Kritiker fordern substanzielle Veränderungen des Repräsentativsystems. Es soll offener sein, bestückt mit mehr direkt-demokratischen Elementen. Sie fordern auch eine Umgestaltung der Planfeststellungsverfahren. Anhörungen sind darin zwar verpflichtend vorgeschrieben, oft aber eine Farce. Gegner und Befürworter können ihre Argumente darlegen; am Ende sagt dann aber eine Behörde: In Abwägung aller Einwände und aller Befürwortungen bleiben wir bei dem was wir ohnehin geplant haben. Das ist die Regel bei nahezu allen Großprojekten.

NG/FH: Gunnar Heinsohn vertritt die These vom so genannten "youth bulge". Nach seiner Auffassung sind es v.a. die männlichen Jugendlichen ohne Job in all diesen Gesellschaften, die jetzt ihren Frust artikulieren. Was halten sie von dieser These?

RUCHT: Dem steht zunächst einmal die Diagnose entgegen, die ich in dieser Schärfe allerdings nicht teile, dass wir es zumindest in der Bundesrepublik mit dem sogenannten Wutbürger zu tun haben. Und dieser zeichnet sich angeblich dadurch aus, dass er älteren Semesters ist, dass er saturiert ist und dass er keine Veränderungen will. Ich glaube, dass beide Denkfiguren eigentlich Verzerrungen dessen sind, was da real vorliegt. Denn die Unzufriedenheit, die zwar nicht alle erfasst hat, geht inzwischen quer durch alle Altersgruppen und auch horizontal durch verschiedene Milieus. Da ist auf der einen Seite das politisch linke Milieu, welches ja mehr Demokratie fordert: in der SPD, bei den Linken und den Grünen. Demokratisierung der Demokratie wäre das Stichwort. Aber auch bis weit ins konservative Lager hinein gibt es Unbehagen über die politische Klasse, die gleichsam in sich ruht, um sich kreist, mit ihren parteipolitischen Rankünen und Konkurrenzkämpfen beschäftigt ist und im Grunde nicht so recht weiß, was eigentlich in der Bevölkerung los ist.

NG/FH: Das Argument mit dem Wutbürger ist also sozusagen eher ein Abwehrreflex der politischen Klasse?

RUCHT: Zunächst kam der Begriff ja durch den Spiegel-Journalisten Dirk Kurbjuweit auf. Er hat die Figur des Wutbürgers in einer deutlich negativen Weise skizziert: älter, saturiert, eher wohlhabend, privilegiert, aber völlig abgeneigt gegenüber irgendwelchen Veränderungen des Status Quo. Gerhard Matzig, SZ-Journalist in München, hat mit seinem Buch Einfach nur dagegen. Wie wir unseren Kindern die Zukunft verbauen noch einen groben Klotz draufgesetzt. Er behauptet, dass wir hier in der Bundesrepublik in besonderer Weise eine romantisierende, fortschrittsfeindliche Grundhaltung hätten, was allerdings von den Daten überhaupt nicht gedeckt wird. Das würde dazu führen, dass bei uns Großprojekte überhaupt nicht mehr durchsetzbar wären.

NG/FH: Wie geht die Entwicklung nun weiter? Ist diese Welle von zivilgesellschaftlichem Protest der Beginn einer neuen sozialen Bewegung - vielleicht noch diffus in ihren Ausprägungen und Zielsetzungen, aber doch irgendwie dynamisch -, oder sind das eher Strohfeuer, die jetzt kurz aufflackern, aber auch bald wieder verlöschen?

RUCHT: Ich glaube, es ist weder das eine noch das andere, die wahrscheinliche Entwicklung liegt eher dazwischen. Es gibt eine Grundmelodie des Unbehagens an dieser Form der Demokratie und insbesondere der parteiförmig gestalteten Politik; und diese Melodie wird nicht so schnell verklingen.

Das lässt sich auch nicht durch rhetorische Floskeln oder kleine Korrekturen beheben. Dass man nun beispielsweise in den Parteien sagt, die Mitglieder sollten ihre Parteivorsitzenden wählen, oder dass man auch Nicht-Mitgliedern ein Forum bietet, auf dem sie ein bisschen mitmachen und mitdiskutieren können; das ist alles schön und gut, auch sinnvoll. Nur das substanzielle Unbehagen wird dadurch nicht wirklich beseitigt.

Zugleich erwarte ich aber keine Eskalation in der Form, dass sich Stuttgart gleichsam zum Flächenbrand entwickelt und überall die Bürgerinitiativen und Protestler stehen, die sich dann verbinden und verbrüdern würden. Die Argumente sind schon sehr themen- und projektspezifisch, zum Teil auch lokalspezifisch. Einige sind gegen eine Talsperre, die der Energiegewinnung dienen soll, andere sind für oder gegen Windmühlen, wobei sich oft beide Fraktionen als Umweltschützer verstehen. Wir werden also viele kleine Proteste erleben, auch vor dem Hintergrund der erwähnten Grundmelodie, aber keine allgemeine Verbrüderung und keine gewaltige, übergreifende Protestwelle. Ich kann das zwar nicht ausschließen, erwarte das aber nicht.

NG/FH: Anknüpfend an Colin Crouch würde das bedeuten, dass es sich dabei um eine Begleiterscheinung der "Postdemokratie" handelt, in der mal größere, mal kleinere Aufstände oder Proteste dann aufflackern, wenn die Anlässe gegeben sind. Man muss immer damit rechnen, sozusagen im Schatten der Postdemokratie als allgegenwärtige Reaktionen auf die Defizite.

RUCHT: Ja. Die Postdemokratie schafft die skeptische Grundstimmung, auch wenn die kritische Diagnose vielleicht nur von einer Minderheit geteilt wird. Es bildet sich eine Art Nährboden, der immer nur stückweise, themen- und projektbezogen ausgeschöpft wird. Es ist ja keineswegs so, dass alle mit fliegenden Fahnen jetzt zum Protest übergehen würden. Die Leute sind schon ziemlich rational. Sie sehen sich das Geschehen erst einmal an und kalkulieren: Lohnt es sich da mitzumachen? Ist die Gelegenheit günstig oder ist es vielleicht schon zu spät? Kann ich den Organisationen, die zum Protest aufrufen, überhaupt trauen? Stelle ich mich nicht hinter falsche Parolen und Fahnen, wenn ich da hingehe?

In der Regel findet also ein Abwägungsprozess statt. Es gibt sicherlich Ausnahmen, wenn sich die Wut mal spontan Bahn bricht, zum Beispiel bei dem Polizeieinsatz am 30. September 2010 in Stuttgart. Da haben die Leute vielleicht nur die Bilder gesehen, waren teilweise gar nicht vor Ort, aber waren völlig aufgebracht. Als Beispiel nenne ich die Nachrichtensprecherin Marietta Slomka, die - man merkte das am Bildschirm - innerlich gezittert hat vor Wut, als sie Stefan Mappus, den damaligen Ministerpräsidenten interviewte, der das Ganze herunterspielen wollte. Wer sich empört, hat noch lange nicht den Verstand verloren. Das wird in der abfälligen Rede vom Wutbürger unterschlagen.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012, S. 56-58
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Februar 2012