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INTERNATIONAL/023: Mexiko - Tödliches Feuer in Kindergarten - Bürgergericht "verurteilt" Behörden (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 31. Mai 2011

Mexiko: Tödliches Feuer in Kindergarten ungesühnt - Bürgergericht 'verurteilt' verantwortliche Behörden

Von Daniela Pastrana

Das symbolische Schwurgericht erklärt den Staat Mexiko für schuldig - Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Das symbolische Schwurgericht erklärt den Staat Mexiko für schuldig
Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Mexiko-Stadt, 31. Mai (IPS) - "Wir hätten niemals gedacht, dass uns in Mexiko-Stadt so viele Menschen unterstützen würden", sagte Manuel Rodríguez, Vater eines von 49 Kindern, die am 5. Juni 2009 bei einem Brand in einer Vorschule im nordwestlichen Bundesstaat Sonora ums Leben gekommen waren. "Wir werden solange kämpfen, bis der Gerechtigkeit Genüge getan ist." Ein Bürgergericht hat nun auf dem Zócalo-Platz in der mexikanischen Hauptstadt die für Tragödie verantwortlichen Behörden 'verurteilt'.

Auch wenn dem Tribunal nur symbolische Bedeutung zukam, für die Eltern der Opfer war der Prozess Balsam für ihre Wunden. Ein ehemaliger Ombudsmann von Mexiko-Stadt übernahm die Rolle des Richters. Experten, Menschenrechtler und Vertreter der Zivilgesellschaft traten als 'Geschworene' und 'Ehrenzeugen' auf. Wissenschaftler der Nationalen Universität nahmen als Staatsanwalt und Strafverteidiger an dem alternativen Verfahren teil.

"Die Verbrechen des Staates summieren sich. Das hier ist eine bürgerliche Verhandlung gegen Straflosigkeit, Korruption und einen verrotteten Staat", sagte die Theaterdramaturgin Sabina Berman während der 'Verhandlung' am 29. Mai.


Teilprivatisierung der Kinderbetreuung begünstigt Verstöße gegen Sicherheitsauflagen

Der staatliche Sozialversicherungsdienst IMSS hatte die Betreuung von Vorschulkindern ausgelagert. Die meisten Einrichtungen wurden unter der Regierung von Ex-Präsident Vicente Fox (2000-2006) teilprivatisiert. Eigentümer der Kindertagesstätten waren Angehörige der lokalen Polit- und Wirtschaftselite sowie Familienmitglieder des damaligen Gouverneurs von Sonora, Eduardo Bours (2003-2009), und Margarita Zavala, die Frau des derzeitigen Staatspräsidenten Felipe Calderón.

Die Vorschulkinder wurden in einem alten Warenhaus untergebracht: Die Fenster waren vergittert, die Wände und Decken brandgefährdet und giftig, die Fluchtwege versperrt. Obwohl die Defizite bekannt waren, beauftragte IMSS 2001 die privaten Betreiber der Kindertagesstätten mit der Betreuung der Vorschulkinder. Die Genehmigung wurde 2006 erneuert. Damaliger IMSS-Leiter war Francisco Molinar, der jetzige Transportminister und enge Freund Calderóns.

Bereits 2005 waren die Betreiber der Kindertagesstätte vergeblich dazu aufgefordert worden, die überfälligen Brandschutz- und Sicherheitsmaßnahmen durchzuführen. Als das Feuer ausbrach, waren die Notausgänge versperrt. "Das war eine vermeidbare Tragödie", sagte die Journalistin Katia D'Artigues, die ebenfalls an dem Bürgertribunal teilnahm.

Nachdem rechtliche Schritte in dem Fall ausgeblieben waren, führte das Oberste Gericht auf öffentlichen Druck hin eigene Untersuchungen durch. In einem ersten Bericht vom März 2010 kam der Untersuchungsausschuss des Obersten Gerichts zu dem Schluss, dass die Auslagerung der Kinderbetreuung durch IMSS illegal gewesen sei.

Darüber hinaus fand der Ausschuss heraus, dass nur 14 der 1.480 Verträge, die der IMSS mit den privaten Betreibern der Kindertagesstätten geschlossen hatte, den rechtlichen Erfordernissen entsprachen. Der Report machte zudem 17 Personen einschließlich Molinar und Ex-Gouverneur Bours für die Verletzung von Kinderrechten verantwortlich.

Im November 2010 befand das Gericht, dass die Kindertagesstätten in einem Zustand "allgemeiner Unordnung" seien, der einem eklatanten Verstoß gegen die Rechte der Kinder gleichkomme. Die Namen der verantwortlichen Personen wurden jedoch nicht genannt.


Eltern der Opfer machen Druck

Die Eltern der verbrannten Kinder gründeten die 'Bewegung 5. Juni für Gerechtigkeit'. Sie bewirkten, dass der mexikanische Senat am 2. Mai ein umfassendes Gesetz zur Betreuung von Kindern verabschiedet, das als Gesetz 5. Juni bekannt ist. Es war von führenden Kinderrechtsexperten verfasst worden und muss nun noch den Kongress passieren.

Die Institutionen, gegen die auf dem Zócalo-Platz verhandelt wurde, hatten keinen Vertreter geschickt. 'Richter' Emilio Álvarez Icaza befand die Regierung des Bundesstaates Sonora, der der IMSS untersteht, die Generalstaatsanwaltschaft der Republik, den Obersten Gerichtshof, die Abgeordnetenkammer und die Nationale Menschenrechtskommission für schuldig, einen Anteil an der Katastrophe und der sich anschließenden Straflosigkeit gehabt zu haben. Sie wurden unter anderem aufgefordert, die private Kinderbetreuung rückgängig zu machen und die Voruntersuchungen unverzüglich zum Abschluss zu bringen, die für eine strafrechtliche Verfolgung der verantwortlichen Personen erforderlich sind.

Das symbolische Schwurgericht 'verurteilte' den mexikanischen Staat dazu, für die Entschädigung der Opferfamilien und die gesundheitliche Versorgung der verletzten Kinder aufzukommen, ein Mahnmal zu errichten, den 5. Juni zum nationalen Trauertrag auszurufen und das Gesetz vom 5. Juni endlich in geltendes Recht zu überführen.

Die IMSS-Direktoren Molinar und Daniel Karam wurden dazu 'verurteilt', sich öffentlich zu entschuldigen und für jedes einzelne zu Tode gekommene und jedes verletzte Kind einen Monat Gemeinschaftsarbeit abzuleisten.

Auf dem Zócalo wehten in Erinnerung an die verstorbenen Mädchen und Jungen 25 rosa und 24 blaue Flaggen. Eine weiße Fahne symbolisierte die Kinder, die durch den Brand verletzt wurden. "Zweck der Verhandlung war, dass sich eine solche Tragödie niemals wiederholt", sagte 'Ankläger' González. (Ende/IPS/kb/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2011