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INTERNATIONAL/202: Libyen - Abwarten, bis der sich Wind dreht, Freiwillige bergen tote Bootsflüchtlinge (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. November 2015

Libyen: Abwarten, bis der sich Wind dreht - Freiwillige bergen tote Bootsflüchtlinge

von Tom Westcott


TRIPOLIS (IPS/IRIN*) - Seit Beginn dieses Jahres sind vermutlich um die 2.860 Migranten, die in Schleuserbooten von Libyen nach Italien gelangen wollten, im Mittelmeer ertrunken. Einige wenige Freiwillige der Hilfsorganisation Roter Halbmond Libyen (LRCS) kümmern sich unermüdlich um die Bergung verwesender und aufgedunsener Leichen, die an die Strände nahe Tripolis gespült werden.

Die notdürftig ausgerüsteten zehn LRCS-Helfer in der Hauptstadt haben seit Mitte September ohne große Unterstützung fast 100 Tote geborgen. "Leichen werden meist ein bis zwei Tage nach dem Untergang eines Bootes angeschwemmt", erklärt der Sprecher der Organisation, Malek Mohammed Mirsit, dem UN-Informationsdienst IRIN. "Die Küstenwache oder Fischer rufen uns an, wenn sie Trümmerteile oder leblose Körper im Wasser treiben sehen. Da wir kein Boot haben, müssen wir solange warten, bis der Wind sie an Land bringt." Manchmal holen die Freiwilligen die Toten auch selbst aus dem Wasser, wenn sie nicht mehr weit von der Küste entfernt sind.


Schleuseraktivitäten konzentrieren sich auf Küste bei Tripolis

Auch im Herbst wollen noch zahlreiche Menschen Europa erreichen, bevor stürmisches Wetter die Überfahrt im Winter noch gefährlicher machen wird. Die politische Instabilität Libyens und die durchlässigen Grenzen haben dazu geführt, dass seit 2013 immer mehr Migranten das Land als Ausgangspunkt für eine Flucht nach Europa nutzen. Die Zahl der Toten an der Küste habe seit Mitte vergangenen Jahres stark zugenommen, berichtet Mirsit. Seit einer Großrazzia der libyschen Sicherheitskräfte gegen Schleuserbanden in der westlich gelegenen Stadt Zuwara, von wo aus bis dahin die meisten Boote in Richtung Italien gestartet waren, sind die Gangs in den vergangenen zwei Monaten zunehmend auf die Umgebung der Hauptstadt Tripolis ausgewichen.

Der Helfer Houssam Nasser erzählt, dass die Toten oft einen grauenhaften Anblick bieten. "Ist eine Leiche seit mehr als drei Tagen im Wasser, schwillt sie an, weil das Salzwasser den Druck innerhalb des Körpers ansteigen lässt", sagt er. Finger und Handgelenke seien so stark angeschwollen, dass sich Eheringe und Armbanduhren nicht mehr abziehen ließen. Bei manchen Toten seien auch die Mägen aufgeplatzt.

Das Team hat keine Möglichkeit, sich bei der Arbeit durch spezielle Kleidung oder Masken zu schützen. Die sterblichen Überreste der Flüchtlinge werden im einzigen Einsatzfahrzeug mit Kühlung in eines der beiden großen Krankenhäuser in Tripolis gebracht. Gerichtsmediziner versuchen die Todesursache festzustellen und entnehmen DNA-Proben. Denn Ausweisdokumente sind in den meisten Fällen nicht mehr vorhanden, und nach mehreren Tagen im Wasser sind viele Körper so stark entstellt, dass eine Identifizierung nicht mehr ohne Weiteres möglich ist. "Da die Testverfahren in Libyen nicht so gut sind, werden die Proben nach Jordanien geschickt. Von dort bekommen wir dann die Ergebnisse", sagt Mirsit.

Die Testresultate werden in Datenbanken zusammengestellt, um künftige Identifizierungen zu erleichtern. Allerdings haben nur wenige Migranten Verwandte in Libyen, deren DNA-Material zum Abgleich mit den Proben verwendet werden könnte.


Schmuck und Tattoos helfen bei Identifizierung

Manchmal rufen besorgte Angehörige aus dem Ausland an. "Gestern erhielten wir beispielsweise einen Telefonanruf aus dem Sudan. Und heute kam ein Mann zu uns ins Büro, der nach seinem Bruder fragte. Von ihm hat er nichts mehr gehört, seit er ein Boot nach Europa bestiegen hat", berichtet Omar Ali Mohamed, der die Vermisstenabteilung bei LRCS leitet. Familienmitglieder teilen den Helfern mit, anhand welcher Details die Vermissten identifiziert werden könnten. In manchen Fällen ist es eine Tätowierung, in anderen ein auffälliges Schmuckstück.

Da das Hilfsteam chronisch unterbesetzt ist, muss mit Beerdigungen immer so lange gewartet werden, bis mehr als 40 Leichen zusammengekommen sind. Vor der Beisetzung soll nach Möglichkeit auch die jeweilige Religionszugehörigkeit geklärt werden. Bestimmte Schmuckstücke können etwa bei der Identifizierung von Christen hilfreich sein. Eine Genitalbeschneidung ist hingegen ein Indiz dafür, dass es sich um einen Moslem handeln könnte.

In Tripolis werden Christen auf einem Friedhof aus der italienischen Kolonialzeit beigesetzt. Muslime finden ihre letzte Ruhestätte an einem Ort, den die städtischen Behörden für unbekannte Tote aus dem Mittelmeer zur Verfügung gestellt haben. In einem Randbereich dieses Friedhofs werden Tote bestattet, deren Religionszugehörigkeit ungewiss ist.

"Wir behandeln alle Toten mit Respekt und nach der muslimischen Tradition" sagt Mirsit. Jedes Grab wird mit zwei Marmorstücken markiert. Auf beiden ist eine Identifikationsnummer eingraviert, für die es eine Entsprechung in der DNA-Datenbank gibt. Ein Stein kommt in das Grab und der andere wird darauf gelegt.

Nur drei Freiwillige haben eine fachliche Ausbildung bei der libyschen Sektion des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz durchlaufen. Seit Beginn der Kämpfe in Tripolis hat das lokale IKRK seinen Sitz im benachbarten Tunesien. "Viele Freiwillige sind junge Leute, die diesem Land aus humanitären Gründen helfen wollen", sagt Mirsit. Der Forensiker Stephen Fonseca, der dem Rotkreuz-Komitee als Berater zur Seite steht, lobte das Engagement der Helfer als "außergewöhnliche humanitäre Arbeit, die unter schwierigen Bedingungen geleistet wird."


Helfer brauchen dringend mehr internationale Unterstützung

IKRK hatte 2011 damit begonnen, libysche Helfer für die Bergung von Toten in Konfliktgebieten auszubilden. In den vergangenen zwei Jahren habe die Organisation angesichts der sich verschlechternden Sicherheitslage und der zunehmenden Zahl von Leichen an den Küsten Libyens ihre Unterstützung ausgeweitet, sagt IKRK-Sprecher Ammar M. Ammar. Mehr als 80 Freiwillige seien bisher geschult worden.

Abduhamid Swehi, der das Bergungsteam in Tripolis leitet, hält die Unterstützung jedoch für längst nicht ausreichend. "Wir haben keine richtige Schutzausrüstung. Die meisten Freiwilligen bergen die Toten in normaler Straßenkleidung. Wir brauchen außerdem unbedingt ein Boot und ein weiteres Fahrzeug."

Laut Ammar hat das Rote Kreuz seit Anfang des Jahres 1.345 Leichensäcke an die zwölf LRCS-Büros in Libyen geschickt, um die Toten darin zu transportieren. Die sind jedoch nicht ausreichend. Die Helfer können nur mit Hilfe von Spenden lokaler Unternehmer und anderer Leute weiterarbeiten, die häufig über das soziale Netzwerk Facebook auf die verzweifelte Lage des Teams aufmerksam geworden sind. "Von der Regierung bekommen wir gar nichts", sagt Swehi. "Wir versuchen weiterhin, unser Bestes zu geben, können aber jegliche Unterstützung seitens internationaler Organisationen und der Staatengemeinschaft gebrauchen." (Ende/IPS/ck/04.11.2015)

*IRIN ist ein Informationsdienst der Vereinten Nationen.


Link:

http://newirin.irinnews.org/dealing-with-the-migrant-dead

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 4. November 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2015

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