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INTERNATIONAL/255: Weltsozialforum 2018 - Internationaler Treffpunkt mit Daseinsberechtigung (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Brasilien / Weltweit
Das Weltsozialforum 2018: Internationaler Treffpunkt mit Daseinsberechtigung

Von Sergio Ferrari



Foto: Sergio Ferrari

Der Frauenblock auf der Auftaktdemonstration zum Weltsozialforum 2018
Foto: Sergio Ferrari

(Salvador de Bahía, 19. März 2018, alai) - Die riesige Bundesuniversität in Ondina mitten im Zentrum von Salvador de Bahía im Nordosten Brasiliens sowie zehn andere Begegnungsorte in der ganzen Stadt kehren zur Normalität zurück: Nach dem Ansturm von 80.000 Menschen, die vom 13. bis zum 17. März an der letzten Ausgabe des Weltsozialforums (WSF) teilgenommen hatten, ist es jetzt, nach Ende dieses Treffens Zeit, Bilanz zu ziehen.

Kaum ein Jahr zuvor einberufen; von einem entschlossenen Kollektiv aus Salvador de Bahía mit "Überschallgeschwindigkeit" organisiert; von einigen *altgedienten* globalisierungskritischen Akteuren in Frage gestellt; mit einem Programm, das im letzten Moment nur elektronisch verbreitet wurde und dessen 19 Themenschwerpunkte durch die fast 2.000 selbst verwalteten Aktivitäten hunderter Organisationen belebt wurde, hat das 14. Weltsozialforum in Salvador de Bahía den Mut gehabt, stattzufinden.


Großdemonstration zu Beginn

Die Veranstaltung in Salvador begann am Dienstag, den 13. März, nachmittags mit einer Demonstration, die ihren Abschluss in der Altstadt fand und die nach unterschiedlichen Quellen etwa 20.000 Teilnehmer*innen zusammenbrachte.

Diese Demonstration wurde zum Vorzeichen für die restliche Veranstaltung: Es überwog die bunte und engagierte brasilianische und die bahianische Beteiligung; der restliche lateinamerikanische Kontinent - ebenso wie Europa, Afrika und Asien - war nur wenig präsent. Es gab klare Worte gegen den "Temer-Putsch" des aktuellen Präsidenten Michel Temer; auffallend war die zentrale Rolle schwarzer Frauen und Jugendlicher; alles war qualitativ gut organisiert und verlief ohne bedeutende Zwischenfälle.

Am Mittwoch, den 14. März begann die Veranstaltung - ähnlich wie jede Ausgabe des WSF - etwas chaotisch. Grund dafür waren verspätete Akkreditierungen und dass die Aktivitäten in der Stadt verstreut und somit voneinander entfernt lagen. Dann aber nahm die Veranstaltung Fahrt auf und die Inhalte rückten in den Vordergrund. Alles in einem - von den Veranstalter*innen ausdrücklich so gewünschten - Klima der Offenheit, das keinerlei Exklusion erlaubte.

Jede Person, ob akkreditiert oder nicht, ob mit ihrem Besucherausweis oder ohne, hatte das Recht, an allen Aktivitäten teilzunehmen, die sie interessierten. Ohne Polizeiposten oder Sicherheitskontrollen an den Haupt- und Nebeneingängen des Universitätsgeländes. Unter den aufmerksamen und solidarischen Blicken von hunderten von Freiwilligen die bereit waren, die mühsamen langen Wege bei den tropischen Temperaturen des Sommers in Bahía zu erleichtern.


Drei verschiedene Foren in einem

Was den Inhalt betrifft, so vermischten sich in ein und demselben Forum drei Foren miteinander. Das von der Bundesuniversität selbst vorbereitete Forum mit einem speziellen Programm, das auf über 50 Seiten veröffentlicht und in hunderten von Aktivitäten umgesetzt wurde, von denen viele akademisches Niveau aufwiesen. Das Forum, das sich der brasilianischen Realität annahm und dies in vielen Fällen mit klaren politischen Inhalten und mobilisierenden Parolen tat. Und das Forum für "universellere" Themen, an dem auch viele Anwohner*innen teilnahmen, was mit internationaler Unterstützung einen bereichernden und breiten Austausch ermöglichte.

Vom Zelt der "Neuen Paradigmen", das von verschiedenen internationalen NGOs mit lateinamerikanischen Gegenstücken gefördert wurde, bis zu den Workshops, die sich den Problemen internationaler Kooperation widmeten. Vom antiatomaren Widerstand zu den Räumen, die die Freihandelsabkommen hinterfragten oder die bevorzugt den internationalen Initiativen gegen die Multis Raum gaben.

Von der Interkulturalität, die für einen multikulturellen Staat wie Brasilien ein wesentliches Thema ist, zur Migrationsfrage - in einer Region, in der die kolonisierende Sklaverei ihre Spuren hinterlassen hat. Auch der Klimawandel wurde mit einbezogen; die Bildung der Zukunft; die vielschichtige Wirklichkeit der LGBT-Gemeinschaft; die Herausforderungen für die indigene Bevölkerung; die kontinentalen Kampagnen des Kontinents gegen die aggressive Ressourcenausbeutung; lokale Alternativen etc.

Weiterhin gab es die Weltversammlung der Frauen, die im historischen Zentrum von Pelourinho stattfand; die Versammlung zur Verteidigung der Demokratie im Fußballstadion von Pituaçu - sie war schwach, was die Anwesenheit anging, aber stark, was die Inhalte betraf, mit Teilnahme des ehemaligen Präsidenten Lula da Silva; sowie eine Reihe weiterer Zusammenkünfte trugen Inhalte bei, die - wenn es gelingt sie in einer Zukunft vorschriftsgemäß zu synthetisieren - wichtige Referenzen für viele lokale, regionale und sogar internationale soziale Akteure sein könnten.

Die "Agora de Zukunft" am letzten Tag des Weltsozialforums hat eine interessante Methodik auf den neusten Stand gebracht, mithilfe derer jede*r Teilnehmer*in oder jedes Netzwerk seine Überlegungen, Vorschläge oder Ergebnisse auf den breiten Mauern der zentralen Universitätsbibliothek vorstellen konnte. Genau dort, wo vier Tage zuvor die Akkreditierungen der Teilnehmer*innen durchgeführt worden waren.


Eine Veranstaltung weit über Grundsatzdebatten hinaus

Die Hintergrunddiskussionen der letzten Monate und Jahre über Gegenwart und Zukunft des Weltsozialforums scheinen sich nicht direkt auf die Dynamik der Veranstaltung in Salvador ausgewirkt zu haben.

Sicherlich lässt sich feststellen, dass einige soziale Bewegungen, die für das globalisierungskritische Universum von entscheidender Bedeutung sind, bei der Veranstaltung in Salvador abwesend waren - insbesondere die Vía Campesina (eine internationale Bewegung von Kleinbäuer*innen und Landarbeiter*innen) Es muss außerdem anerkannt werden, dass die Bewegung der Landarbeiter*innen ohne Boden MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra), der wichtigste brasilianische Akteur innerhalb von Vía Campesina, das Forum in Bahía nicht boykottierte, sondern mit einer Vertretung dort auftrat, allerdings ohne ihre Basis zu mobilisieren. Die Organisation nutzte zudem die Anwesenheit verbündeter internationaler Organisationen in Salvador, um ein informelles Treffen der Freund*innen der MST abzuhalten.


Ein internationaler Treffpunkt mit Daseinsberechtigung

Salvador brachte keine Lösungen in die Diskussion um die Zukunft des Weltsozialforums. Aber man ließ sich auch nicht lähmen durch die nicht abgeschlossene, offene Reflexion. Dass das Forum erfolgreich stattgefunden hat, trotzt jenen pessimistischen Theorien, die es für im Sterben liegend halten und ihm den Tod verheißen. Die aktuelle weltweite Realität ist genauso komplex wie - oder vielleicht sogar komplexer als - die des Jahres 2001, als das Weltsozialforum in Porto Alegre geboren wurde. Und sie zeigt gegenüber der zuversichtlichen Selbstbestimmtheit der sozialen Akteur*innen keinerlei Erbarmen.

In Lateinamerika leiden die dynamischsten Bewegungen immer öfter unter Kriminalisierung. In Europa nehmen die zivilisatorischen Krisen, die sich zum Beispiel im Labyrinth der Migration zeigen, alternativen Denkweisen den Platz weg. In Nordamerika scheinen die herausfordernden Proteste der "Occupy-Bewegung" Ende des Jahres 2011 der Vergangenheit anzugehören, obwohl sich immer noch gesellschaftlicher Widerstand gegen Donald Trump manifestiert.

Vor diesem Hintergrund hatte das WSF in Salvador - mit seinen Schwachpunkten und seiner Vielschichtigkeit - den Mut, zu existieren, stattzufinden, einzuberufen und dies auf eine würdige Art und Weise. Dabei wurde die vorherige Ausgabe, die 2016 in Montreal stattfand, zumindest quantitativ weit übertroffen. So wurde ermöglicht, dass Inhalte, die für die internationale Zivilgesellschaft von entscheidender Bedeutung sind, in der soeben beendeten Veranstaltung einen Platz und ein Echo fanden.

Und auch wenn die kritische Reflexion über das Weltsozialforum vertieft werden muss, so wie es viele der ursprünglichen Promoter*innen betonen, hat Salvador eines mit Gewissheit gezeigt: das Weltsozialforum ist ein internationaler Treffpunkt mit Daseinsberechtigung.


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. April 2018

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